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André Schindler: Bildung von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung gestalten

Rezensiert von Ortrud Aden, 20.01.2023

Cover André Schindler: Bildung von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung gestalten ISBN 978-3-7639-6699-8

André Schindler: Bildung von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung gestalten. Studie zum Bildungsverständnis des heilpädagogischen Fachpersonals. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2021. 480 Seiten. ISBN 978-3-7639-6699-8. 69,90 EUR.
Reihe: Lehren und Lernen mit behinderten Menschen - Band 41.

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Autor

Dr. André Schindler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an der Universität Freiburg (Schweiz). Er arbeitet dort am Departement für Sonderpädagogik im Studienprogramm Klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik. Außerdem ist er als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern im Studienprogramm Schulische Heilpädagogik tätig.

Aufbau und Inhalt

Im nachfolgenden werden die Inhalte der einzelnen Kapitel kurz dargestellt, auf ausgewählte Kapitel wird ausführlicher eingegangen.

In der Einleitung beschreibt der Autor die Intention seiner Arbeit. Er setzt sich zunächst mit dem allgemeinen Bildungsbegriff im deutschsprachigen Raum auseinander. Bildung sei nicht eindeutig definiert, habe aber in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Der Autor führt grundlegende Gesichtspunkte dazu auf, die bei unterschiedlicher Gewichtung dennoch prinzipieller Konsens in unserer Gesellschaft sind.

Bei Kindern mit schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen, für deren Beschulung es erst seit den Siebziger-Jahren Einrichtungen existieren, gebe es verschiedene praxisnahe Konzepte und Methoden, mit unterschiedlichen theoretischen Hintergründen, die sich teilweise widersprechen. Es gebe daher kaum allgemeine anerkannte didaktische Konzepte für diese Schülergruppe, deren Anspruch auf Bildung zwar durch die UN-Behindertenrechtskommission verankert ist, der aber dennoch immer wieder aus ökonomischer Sicht infrage gestellt wird.

Die Fachpersonen in sonderpädagogischen Einrichtungen erstellen individuelle Förderpläne für diese Kinder. Der Autor vermutet, dass dafür ihr jeweils individuelles Bildungsverständnis vorherrschend ist, worüber aber wenig bekannt sei. Bekannt sei lediglich, dass formale Bildungsinhalte (Handlungsformen und Wahrnehmung) im Vordergrund stehen, materiale Bildungsinhalte (kulturelle Inhalte) stehen dagegen an zweiter Stelle.

Der Autor stellt daher die Frage nach dem Bildungsverständnis der Fachpersonen, die mit dieser Schülergruppe arbeiten. Um dafür eine Grundlage zu schaffen, stellt er zunächst den allgemeinen Bildungsbegriff dar und wie sich dieser verstehen und beschreiben lässt. Daraufhin untersucht er, wie sich das Bildungsverständnis von Fachpersonen sonderpädagogischer Einrichtungen erheben und darstellen lässt, um schließlich in einer qualitativen Studie die Merkmale dieses Bildungsverständnisses der Fachpersonen in Bezug auf die genannte Schülerschaft zu untersuchen.

Im Kapitel 2 beschreibt der Autor die gegenwärtige Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung.

In den Kapiteln 3, 4 und 5 setzt er sich mit dem „Bildungsverständnis als Forschungsgegenstand I“ auseinander und geht in Kapitel 4 zunächst auf Johann Amos Comeinius, Wilhelm von Humboldt und Wolfgang Klafki ein, bevor er die Strukturmomente der verschiedenen Autoren zusammenführt. In Kapitel 5 will der Autor die Bildungsidee vor ihrem sozialhistorischen Hintergrund erfassen.

Im Kapitel 6 setzt der Autor sich mit der Bildungsidee im sonderpädagogisch-historischen Kontext auseinander. Nach und nach wurde auch die Bildungsfähigkeit der Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung anerkannt, der Schwerpunkt wurde allerdings zunächst auf gesellschaftliche Nützlichkeit gelegt. Damit wurden Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung allerdings nicht einbezogen.

Mit der Idee der „praktische(n) Bildung“, also der Einbeziehung „lebenspraktische(r) Fähigkeiten, Alltagstätigkeiten und soziale(r) Umgangsformen“ wurde die Bildungsidee erweitert. Aber auch mit dieser Bildungsidee sind Kinder mit schwerer oder mehrfacher Behinderung nicht einbezogen.

Der Bildungsbegriff erweiterte sich in der Folge um weitere Aspekte:

Einbezogen wurden „Reflexive Aspekte des handlungsbezogenen Lernens“ (Motive, Ziele, Planen, bewerten) und „Kulturtechniken in erweitertem Verständnis“. Grundsätzlich habe eine Erweiterung des Bildungsbegriffs das Potenzial, schwer mehrfach behinderte Kinder einzubeziehen, es bestehe aber die Gefahr der „Entleerung der Bildungsidee durch Erweiterung“.

Im Kapitel 7 möchte der Autor sonderpädagogische Konzepte im Hinblick auf eine weitere Ausdifferenzierung des Bildungsbegriffs hinterfragen.

Dazu stellt der Autor zahlreiche Konzepte für diese Schülerschaft vor und untersucht sie im Hinblick sowohl auf ihren Beitrag für die schulische Bildung der betroffenen Kinder als auch darauf, wie sie Bildung interpretieren und wo sie demzufolge unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten Begrenzungen für die Bildung dieser Kinder aufweisen können. Kritisch wird auch hinterfragt, wo es möglicherweise zu einer Entleerung der Bildungsidee durch unspezifische Erweiterung des Begriffs kommt, was wiederum zu einem begrenzten Bildungsbegriff für die Betroffenen führen würde.

Im Kapitel 8 geht es um das „Bildungsverständnis als Forschungsgegenstand II“. Der Autor beschreibt die „Interpretationsoffenheit der Bildungsidee“, die „Bildungsidee als Deutungsgegenstand“, das „Bildungsverständnis als Deutungsmuster“ und geht schließlich auf „Aspekte der Deutungsmusteranalyse“ ein.

Im Kapitel 9 stellt der Autor seine Untersuchungsmethode vor und begründet diese. Er hat ein leitfadengestütztes Experteninterview gewählt. Befragt wurden acht Personen aus verschiedenen heilpädagogischen Einrichtungen in der Schweiz mit verschiedenem Berufshintergrund.

Im Kapitel 10 wertet der Autor die Ergebnisse seiner Untersuchung aus.

Es zeigte sich, dass die Fachpersonen „Bildung als Auftrag“ auffassen und auf verschiedene Art und Weise Bildung „auf einem anderen Niveau anzusiedeln und zu verstehen versuchen“.

Dabei zeigen sich verschiedene Spannungsfelder, die aus Sicht des Autors notwendig und nicht aufzulösen sind. Bei einer zu starken Fokussierung auf einen Einzelaspekt bestehe jedoch die Gefahr einer Reduzierung und Begrenzung der Bildung für die betroffenen Kinder.

In der Realität zeigte sich unter anderem, dass häufig über fehlende Ressourcen berichtet wurde. Außerdem gebe es zu wenig Zeit für interdisziplinären Austausch. Verschiedene berufsspezifische Ansichten und Priorisierungen werden teilweise als schwierig erlebt.

Anschließend stellt der Autor methodenkritische Überlegungen an.

In Kapitel 11 stellt der Autor „zusammenfassende Überlegungen“ an.

Obwohl seine Untersuchung aufgrund der niedrigen Anzahl der befragten Personen nicht generalisierbar sei, könne er dennoch valide und intersubjektiv nachvollziehbare Aussagen treffen. Hinsichtlich der Repräsentativität und Verallgemeinerbarkeit könne er seinen Ergebnissen eine „geringe bis mittlere“ Aussagekraft beimessen.

Für künftige Forschungsarbeiten schlägt er vor, auf der Grundlage seines Werkes aufbauend vertiefte Erkenntnisse in Bezug auf das Bildungsverständnis von Fachpersonen in diesem Kontext zu generieren. Außerdem sei eine Untersuchung über die tatsächliche Umsetzung dieses Bildungsverständnisses im professionellen Arbeitsalltag interessant, beispielsweise in Bezug auf Ressourcen, Arbeitsklima, individuelle Motivation und andere.

Diskussion

Ich fand die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff im genannten Zusammenhang interessant und bereichernd. Leitende Fachkräfte in sonderpädagogischen Einrichtungen, Lehrende für sonder- und heilpädagogische Berufe oder Menschen, die Supervisionen in diesen Institutionen durchführen, können durch dieses Buch wertvolle Anregungen bekommen. Auch für Lehrende für die in sonderpädagogischen Einrichtungen tätigen Physio-, Ergo- und Logotherapeutinnen und Therapeuten oder Personen, die für diese Berufsgruppe spezielle Fortbildungen für die Arbeit in sonderpädagogischen Einrichtungen durchführen, kann dieses Buch eine Bereicherung darstellen, ebenso für alle professionell in sonderpädagogischen Einrichtungen Tätigen.

Fazit

Interessante, vertiefte Auseinandersetzung zunächst mit dem allgemeinen, dann mit dem sonderpädagogischen Bildungsbegriff und schließlich mit dem Bildungsverständnis der Fachkräfte in sonderpädagogischen Einrichtungen, die mit schwer und mehrfach eingeschränkten Kindern arbeiten. Verschiedene Konzepte mit ihren Potenzialen und Begrenzungen werden unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten hinterfragt. Nicht auflösbare Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Schwerpunkten des Bildungsverständnisses werden aufgezeigt.

Rezension von
Ortrud Aden
M. A. Sonderpädagogik und Rehabilitationswissenschaften, zur Zeit tätig in einer Autismusambulanz
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Es gibt 20 Rezensionen von Ortrud Aden.

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ISSN 2190-9245