Wolfgang Lamers, Oliver Musenberg et al. (Hrsg.): Qualitätsoffensive
Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 03.08.2023
Wolfgang Lamers, Oliver Musenberg, Teresa Sansour (Hrsg.): Qualitätsoffensive - Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung. Grundlagen für die Arbeit in Praxis, Aus- und Weiterbildung.
Athena-Verlag e.K.
(Oberhausen) 2021.
293 Seiten.
ISBN 978-3-7639-6584-7.
39,90 EUR.
Reihe: Impulse: schwere und mehrfache Behinderung - Band 4.
Thema
Insbesondere Erwachsene mit schwerer Behinderung werden oftmals in der Auseinandersetzung mit zentralen Lebens- und Teilhabebereichen übersehen, wenn Publikationen und Forschungsvorhaben hauptsächlich Kinder und Jugendliche – oftmals im schulischen Kontext – adressieren. Abhilfe möchte damit die vorliegende Publikation schaffen, indem die Beiträge „mit Blick auf die praktische, pädagogische Tätigkeit in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung“ (Klappentext) verfasst wurden und „mit Hilfe von Fallbeispielen grundlegendes Wissen zum Personenkreis [vermitteln] und (..) Orientierung für die Gestaltung von Angeboten unter Berücksichtigung zentraler Themen der Behindertenpädagogik wie Selbstbestimmung, Personenzentrierung, Kommunikation, Inklusion und Sozialraumorientierung“ (ebd.) bieten sollen.
Herausgeber_innen
Prof. Dr. Wolfgang Lamers, ist emeritierter Professor für Pädagogik bei geistiger Behinderung im Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Prof. Dr. Oliver Musenberg, ist Professor für Pädagogik bei geistiger Behinderung im Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Prof. Dr. Teresa Sansour, ist Professorin für Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse im Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Publikation entstand im Forschungsprojekt ‚Qualitätsoffensive Förderbereich (Quo F)‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin und basiert auf den Studien ‚Sinnvolle produktive Tätigkeit für Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung (SITAS)‘ (2007-2010) und ‚Evaluation und Qualitätsentwicklung in Tagesförderstätten (EloQuenT)‘ (2012-2015) an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Publikation beginnt mit einem Vorwort der Herausgeber_innen und einer Einleitung, in der die Eingebundenheit der Publikation in das Forschungsprojekt ‚Qualitätsoffensive Förderbereich (Quo F)‘ der Humboldt-Universität zu Berlin erläutert, Ausgangslage und Aufbau des Buches skizziert und alle am Buch Beteiligten benannt werden.
In Kapitel 1 wird der Personenkreis der Menschen mit schwerer Behinderung erörtert, neben verschiedenen Erklärungsmodellen werden Auswirkungen der Begriffsbestimmung auf die Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung angeführt inklusive Chancen, Herausforderungen und notwendigen Bedingungen zur Teilhabe der Personengruppe.
Kapitel 2 befasst sich mit Menschenbildern im Allgemeinen und anschließend bezogen auf Menschen mit schwerer Behinderung. Danach werden Reflexionsansätze benannt, die zur Veränderung des Verhaltens des Fachpersonals gegenüber der Personengruppe beitragen können.
Anschließend werden in Kapitel 3 ethische Fragen diskutiert, wie z.B. Bioethik, Lebenswert und Spätabtreibungen, und deren Bedeutung für die Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung herausgestellt, da die Standpunkte und Werte der Fachkräfte einen großen Einfluss auf die Lebensbedingungen der Personengruppe haben.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit Teilhabe am Alltag. Bedürfnisse, Abläufe und Tagesstrukturen werden beleuchtet und anhand ihrer Risiken und Herausforderungen ebenso wie ihrer Gelingensbedingungen differenziert.
Die Teilhabe an Arbeit steht im Fokus von Kapitel 5, wenn Arbeit u. a hinsichtlich Leistung und Anerkennung erörtert wird. Zusätzlich ergeben sich daraus Möglichkeiten und Herausforderungen, ebenso werden notwendige Ressourcen aufgezählt, um zu sinnvollen Tätigkeiten und entsprechenden beruflichen Bildungsprozessen beizutragen.
Daran anschließend werden Teilhabemöglichkeiten an Kultur in Kapitel 6 erläutert, indem die Vorteile kultureller Teilhabe und entsprechende Differenzierungen für Menschen mit schwerer Behinderung angegeben sowie auf kulturelle Räume und Kulturschaffende bezogen werden.
Zentrale Bereiche von Begegnung und Teilhabe sind Wahrnehmung und Bewegung, die in Kapitel 7 angeführt werden. Fein- und Grobmotorik, Sensorik sowie Aufnehmen und Verarbeiten von Reizen bilden den Mittelpunkt zur Aneignung von Umwelt, dafür braucht es z.B. Hilfsmittel zur Positionierung und Raumgestaltung.
Der Zusammenhang von Kognition und Handlungskompetenz, Gedächtnisformen und Entwicklungsprozesse wird in Kapitel 8 geschildert. Hinweise zur erfolgreichen Wissensvermittlung und Unterstützungsmöglichkeiten für die Zielgruppe sind von besonderem Interesse in diesem Abschnitt.
In Kapitel 9 findet sich das Thema Kommunikation wieder, das elementar für Beziehungsbildung und -gestaltung ist und einen wesentlichen Beitrag zur Teilhabe leistet. Technische Kommunikationshilfen werden vorgestellt.
Verhalten und Verhaltensauffälligkeiten finden in Kapitel 10 Beachtung, die wiederum soziale Auswirkungen auf Teilhabe und Beziehungen haben können. Insbesondere die Deutung von auffälligem Verhalten oder persönlicher Verhaltensbesonderheiten stellt eine herausfordernde Aufgabe für Fachkräfte dar.
Die Erhebung von Kompetenzen und deren Förderung werden in Kapitel 11 behandelt, indem Förderdiagnostik, Beobachtungen und das Erkennen von Entwicklungspotenzialen benannt und anhand exemplarischer Diagnostikinstrumente illustriert werden.
In Kapitel 12 wird die Planung und Gestaltung von Bildungsangeboten beschrieben, Funktionen von Bildung und die Bildsamkeit von Menschen mit schwerer Behinderung bilden den Schwerpunkt, anhand derer die Herausforderungen und Möglichkeiten herausgestellt werden.
Insbesondere Pflege spielt für Menschen mit schwerer Behinderung eine große Rolle und wird dementsprechend in Kapitel 13 angeführt. Körperliches Wohlbefinden, Respekt, Formen der Pflege, Grenzen und Gefahren werden ausgeführt.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie bietet die Möglichkeit zur Verarbeitung von Vergangenheit, aber auch zur Zukunftsplanung. Die Bedeutung der Biografiearbeit für Menschen mit schwerer Behinderung steht im Mittelpunkt von Kapitel 14.
Begleitung und Assistenz gehören zum Alltag von Menschen mit schwerer Behinderung und werden in Kapitel 15 anhand der historischen Entwicklung, den Aufgaben und der Abhängigkeitsverhältnisse dargestellt.
Die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams erfordert Kooperation untereinander und wird deshalb in Kapitel 16 thematisiert. Über die wertschätzende und anerkennende Arbeit der Fachkräfte untereinander hinaus wird auch der Einbezug von Menschen mit schwerer Behinderung als Expert_innen gefordert.
Aus den bisherigen Kapiteln wird deutlich, dass es Reflexion benötigt, um die persönliche Haltung und die professionellen Handlungen zu reflektieren, wie in Kapitel 17 skizziert wird. Die Verbesserung von Angeboten und die eigene Weiterentwicklung sind die Ziele der Ausführungen.
In Kapitel 18 erfolgt die Vorstellung des Konzepts Lebensqualität, das zur Stärkung des Wohlbefindens wie auch zum Ausbau sozialer Netzwerke beiträgt. Dazu gilt es auf die Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen und ausreichend Zeit für Entscheidungen und Kommunikation über Bedürfnisse zu lassen.
Das Normalisierungsprinzip als Leitprinzip der Behindertenpädagogik findet Betonung in Kapitel 19. Die Konkretisierung auf Menschen mit schwerer Behinderung wird vorgenommen und die Beschäftigung mit individuellen Normalitätsvorstellungen hinterfragt.
Kapitel 20 fasst Selbstbestimmung und Personenzentrierung ins Auge, wenn Selbstbestimmung und Selbstständigkeit einander gegenübergestellt und die Machtgefälle im professionellen Verhältnis benannt werden.
Das Leitprinzip der Inklusion findet Raum in Kapitel 21 und als Gestaltungsprinzip persönlicher und gesellschaftlicher Beziehungen zur Teilhabe ausgeführt.
Das abschließende Kapitel 22 befasst sich mit der Sozialraumorientierung, die zu sozialen Netzwerken, Netzwerkkarten und Unterstützer_innenkreisen beitragen können.
Diskussion
Die vorliegende Publikation enthält eine Fülle an Themenbereichen, die eine wesentliche Rolle in der Gestaltung von (gesellschaftlicher) Teilhabe für Menschen mit schwerer Behinderung spielen. Die Vielfalt der Beiträge stellt wichtige Ansatzpunkte zur weiteren Beschäftigung mit der Eröffnung oder Gewährleistung von Teilhabemöglichkeiten dar, gleichzeitig können die einzelnen Bereiche nur in kompakter Form angeboten werden. Dementsprechend fehlen ggf. vertiefende Informationen, die jedoch durch die Beschreibung der entsprechenden Grundlagen wie auch Literaturverweise in Eigenregie bei weiterführendem Interesse erweitert werden können.
Die reflektierte und damit ein Stück weit selbstkritische Herangehensweise der Verfasser_innen trägt zu vielen positiven und stärkenden Erkenntnissen bei, gleichzeitig werden den Lesenden eigene Versäumnisse und zu verändernde persönliche wie auch professionelle Haltungen verdeutlicht, was beim ersten Lesen unangenehm sein kann. Aber ebenjenes Erkennen der eigenen Umgangsweisen mit Menschen mit schwerer Behinderung ist essentiell für ein teilhabeorientiertes Miteinander.
Auch wenn sich die vorliegende Publikation explizit und aus nachvollziehbaren Gründen an Erwachsene mit schwerer Behinderung richtet, lassen sich viele Ausführungen und Teilhabebereiche auf die gesamte Lebensspanne übertragen. Als Beispiel lässt sich Kapitel 2 ‚Menschenbilder‘ heranziehen, das darauf abzielt, Gleichwertigkeit, altersangemessene Ansprache, Gleichberechtigung und Wertschätzung für Menschen mit schwerer Behinderung zu erzielen. Davon können Menschen mit schwerer Behinderung von Geburt an profitieren und erhalten damit viel selbstverständlicher Zugänge und altersgemäße Erfahrungsräume.
Insbesondere zur weiteren Forschung und dem Aufbau entsprechender Unterstützungsangebote kann das Buch beitragen, wenn weitere Barrieren in der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe abgebaut werden. Wesentlich ist hier der direkte Einbezug der Zielgruppe und ihrer Bedarfe, um passgenaue Angebote zu schaffen. Über die schwere Behinderung hinaus kann es weitere, intersektionelle Verstrebungen geben, die durch eine Ermöglichung grundlegender Teilhabe ebenso Berücksichtigung finden können.
Nicht zu vergessen ist allerdings die strukturelle Ausgestaltung von Praxisangeboten, denn „Die Sicht auf Menschen mit schwerer Behinderung spiegelt sich in den Konzeptionen des Trägers, den Räumlichkeiten, aber auch in der Wertschätzung des Personals durch die Einrichtungsleitung wider. Dazu gehört ebenso, dass die Mitarbeiter:innen auch Gelegenheiten haben müssen, sich mit ihrem persönlichen Bild von Behinderung auseinanderzusetzen“ (S. 35). Dementsprechend sollte die vorliegende Publikation auch Einrichtungsleitungen zugänglich gemacht werden, um Ressourcen für diese Prozesse bei den Beschäftigten einzuräumen.
Die Autor_innen formulieren mit der Publikation ein Plädoyer für eine stärkere Anerkennung der Bedürfnisse von Erwachsenen mit schwerer Behinderung und damit auch der entsprechenden Professionalisierung von Fachkräften. Insbesondere im Sinne inklusiver (Bildungs-)Bemühungen ist es unumgänglich, Menschen mit schwerer Behinderung einzubeziehen, zu adressieren und zu stärken, um ihnen den gleichberechtigten Zugang zu Gesellschaft zu gewähren. Ebenfalls elementar ist der explizite Fokus auf Erwachsene, die in dieser Thematik oftmals weniger Aufmerksamkeit als Kinder und Jugendliche im (förder-)schulischen Rahmen erhalten.
Die Publikation kann allen Fachkräften in der Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung wie auch in der Ausbildung befindlichen Fachkräften sowie Forschenden aus den beteiligten Fachdisziplinen sowie weiteren interessierten Leser_innen uneingeschränkt empfohlen werden.
Fazit
Es ist den Verfasser_innen gelungen, einen notwendigen und innovativen Blick auf die Gestaltung von Teilhabe für erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung zu werfen. Durch die fachliche Expertise und die umfassende Darlegung der verschiedenen Teilhabebereiche bieten sich vielfältige Möglichkeiten, insbesondere für Erwachsene mit schwerer Behinderung, die oftmals in ihren Bedarfen übersehen werden, teilzuhaben. Darüber hinaus bieten sich umfangreiche Anschlussmöglichkeiten für weitere Handlungsempfehlungen zur Umsetzung von Teilhabe.
Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
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Zitiervorschlag
Karoline Klamp-Gretschel. Rezension vom 03.08.2023 zu:
Wolfgang Lamers, Oliver Musenberg, Teresa Sansour (Hrsg.): Qualitätsoffensive - Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung. Grundlagen für die Arbeit in Praxis, Aus- und Weiterbildung. Athena-Verlag e.K.
(Oberhausen) 2021.
ISBN 978-3-7639-6584-7.
Reihe: Impulse: schwere und mehrfache Behinderung - Band 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29597.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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