PPSB-Hamburg: Navigation in rauen Gewässern
Rezensiert von Alexandra Großer, 18.07.2023

PPSB-Hamburg: Navigation in rauen Gewässern. Ein systemisches Kinderschutzprogramm. verlag das netz GmbH (Kiliansroda) 2021. 263 Seiten. ISBN 978-3-86892-175-5. D: 32,90 EUR, A: 33,90 EUR.
Thema
Die Autor*innen stellen in diesem Buch ein von ihnen entwickeltes Kinderschutzprogramm vor. Das Werkstattbuch dient Organisationen ihr eigenes individuelles Schutzprogramm mit allen Beteiligten zu entwickeln.
AutorInnen
Autor*innen des Buchs sind Lehrtherapeut*innen und lehrende Supervisior*innen des PPSB Hamburg. Das 1989 gegründete PPSB-Hamburg mit Sitz in Hamburg-Altona ist ein Institut für berufsbegleitende Fortbildungen im systemischen Bereich.
Aufbau
Das vorliegende Buch untergliedert sich mit den einleitenden Worten der Autor*innen in sieben Kapitel mit Unterkapiteln. Jedes Kapitel wird mit einer kurzen Einführung in das jeweilige Kapitel begonnen. In jedem Kapitel finden sich Methoden, Impulse und Anregungen zur Selbstreflexion.
Inhalt
„Haltung und Grundgedanken“
In diesem Kapitel diskutieren die Autor*innen verschiedene Aspekte die im Zusammenhang mit dem Kindeswohl stehen. Rechtliche Grundlagen werden ebenso beleuchtet, wie kulturelle Aspekte sowie gesellschaftliche Tabuthemen, wie zum Beispiel Frauen als Kindeswohlgefährderinnen.
„Systemisches Organisationskonzept zur Erstellung eines Schutzprogramms“
Die Autor*innen sind davon überzeugt, „dass jede Organisation, die mit Menschen arbeitet, ein Schutzprogramm haben muss“ (S. 45). Modellhaft beschreiben sie in diesem Kapitel den Prozess zur „Entwicklung und Einführung eines Schutzprogramms“ (S. 46). Bei ihren Ausführungen gehen sie von drei Aspekten aus. Berücksichtigt werden interne und externe Aspekte sowie die Zielgruppe. Diese Aspekte führen sie in den nächsten Kapiteln weiter aus. Der interne Aspekt nimmt die Mitarbeiter*innen, die Strukturen und Gremien der Organisation in den Fokus. Der externe Aspekt bezieht sich auf die Vernetzungs- und Kooperationspartner, wie zum Beispiel „Behörden, Gerichte, Bildungseinrichtungen“ (S. 47) mit denen die Organisation zusammenarbeitet. „Der dritte Aspekt fokussiert die Zielgruppe und den Umgang mit ihr“ (ebd.). Im weiteren Verlauf definieren die Autor*innen Ziele und Aufgaben, die ein Schutzprogramm zur Sicherung des Kindeswohls beinhaltet. Im Zentrum des Schutzprogramms steht die Einrichtung einer Lotsenstelle innerhalb der Organisation und diese auf Führungsebene zu etablieren. Das Autorenteam gesteht der Lotsenstelle umfangreiche Aufgaben zu. Dazu gehören die „Leitung und Beratung der Prozesse“ (S. 55), Fortbildungsangebote, Beratung und Supervision, die Fachaufsicht, die Personalführung und Personalverantwortung. Damit einhergeht, „dass die Lotsenstelle bei grober Vernachlässigung oder Verstößen gegen das Schutzprogramm die Möglichkeit zur Abmahnung, Suspendierung und Entlassung haben muss“ (S. 54). Im Folgenden werden weitere Aufgaben der Lotsenstelle beschrieben sowie Methoden zur Erarbeitung eines Arbeitsschutzkonzepts vorgestellt. Darunter findet sich auch „Das-Drei-Kategorien-Modell“ (S. 55). Angelegt als Ampelsystem (grün, orange, rot) teilt es die Kinderschutzfälle in drei Kategorien ein. Bei Grün ist das Kindeswohl nur geringfügig gestört, bei Orange ist es gefährdet und bei Rot besteht eine akute Gefährdung, die zur Inobhutnahme eines Kindes bzw. Jugendlichen führt.
„Schutzprogramm für die Mitarbeiter*innen“
Die Autor*innen gehen davon aus, das Mitarbeiter*innen in hilfesuchenden Systemen besondere Herausforderungen erleben, besonders wenn es sich darum handelt eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Zunächst beleuchten die Autor*innen die Kommunikation der Helfer*innen „in und mit den Gefährdungssystemen“ (S. 87) aus systemischer Sicht und zeigen die Gefahren auf, die damit verbunden sind. So kann zum Beispiel die professionelle Distanz verloren gehen, wenn „Rechtfertigungsmuster oder Werte“ (ebd.) aber auch Kommunikationsmuster des hilfesuchenden Systems von den Helfer*innen übernommen werden und damit „die eigentliche Aufgabe – die Überwindung der Gefährdung – blockieren“ (ebd.). Reflexionsimpulse helfen die eigene Kommunikation sowie die des Klientensystems zu hinterfragen. Ein weiterer wichtiger Punkt im Schutzprogramm von Mitarbeiter*innen ist der Umgang mit persönlichen Grenzen sowie Grenzverletzungen „durch Erziehungsverantwortliche“ (S. 95). Leitungskräfte nehmen „beim Schutz von Mitarbeiter*innen“ (S. 101) „im Kontext Kinderschutz“ (ebd.) eine zentrale Rolle ein. Das Autorenteam führt an verschiedenen Aspekten aus, dass Leitungen sich insbesondere beim Kinderschutz und Kindeswohl klar positionieren müssen, um ihre Führungs- und Leitungsaufgaben sowie ihre Fürsorgepflichten gegenüber ihren Mitarbeiter*innen und ihrem Team auszufüllen. Zudem sind Führungskräfte dazu aufgefordert „im Rahmen eines qualitativ nachhaltigen Schutzprogramms ein Klima zu schaffen, in dem Mitarbeiter*innen Bedenken, Kritik, aber auch die eigene Überforderung oder Fehler äußern können“ (106). Ein weiterer Fokus liegt auf „nicht (mehr) hilfreiche Konstruktionen“ (S. 108) und ungünstigen Handlungsstrategien, wie zum Beispiel Bagatellisieren, Vermeiden und Aufmerksamkeitsverlust für die Hilfesuchenden, die sich negativ auf den Kinderschutz auswirken. Um sich solcher ungünstigen Handlungsstrategien bewusst zu werden, haben die Autor*innen Reflexionsfragen formuliert. Am Ende des Kapitels stellen die Autor*innen zur Entwicklung hilfreicher Handlungsstrategien verschiedene Methoden für den Einsatz in Teams vor.
„Umsetzung des Schutzprogramms innerhalb einer Organisation“
Die Autor*innen erklären zunächst wie neue Sichtweisen und Veränderungen durch Selbstreflexion und kooperative Konstruktionsprozesse entstehen. Im Anschluss finden sich zum Thema Gefährdungen Reflexionsmethoden zur Selbst- und Teamreflexion. Ein weiteres Anliegen der Autor*innen ist es Fachkräften Aspekte zur Vorbereitung und Durchführung von Kinderschutzgesprächen mit Erziehungsverantwortlichen sowie Kindern an die Hand zu geben. An deren Ende ein Schutzvertrag abgeschlossen wird, in dem die verhandelnden Verabredungen mit den Erziehungsverantwortlichen festgelegt sind.
Nachdem zunächst die Kindeswohlgefährdung in Familiensystemen in den Blick genommen wurde, richtet sich im weiteren Verlauf der Ausführungen der Fokus auf Kindeswohlgefährdungen innerhalb von Organisationen. Die Autor*innen merken hierzu an, dass dies „für die betroffenen Organisationen zumeist ein >Super-GAU<“ (S. 144) ist und eine „große Herausforderung“ (ebd.) darstellt. Zum Umgang mit Kindeswohlgefährdungsfällen innerhalb der Organisation und zur Entwicklung eines Fahrplans stellen die Autor*innen verschiedene Methoden und Reflexionsimpulse zur Verfügung sowie Vorgehensweisen, was wann zu tun ist und welche Stellen wann hinzugezogen werden sollten. Die Autor*innen zeigen zudem Handlungsmöglichkeiten auf, wenn sich Vorwürfe als „unbegründet erweisen“ (S. 149). Mit der Methode des Erwartungskarussells lassen sich Netzwerke, in denen die Organisation eingebunden ist sowie deren Erwartungen an die Organisation bzw. einzelne Mitarbeiter*innen der Organisation darstellen. Ebenso werden die Erwartungen der Mitarbeiter*innen an die Beteiligten Personen des Netzwerks darin festgehalten. Damit kann eine „Klärung der Erwartungen“ (S. 158) sowie „Klarheit in Bezug auf Grenzen und Aufgaben in der Hilfe“ (ebd.) stattfinden. Gleichzeitig kann das Erwartungskarussell auch helfen diese Erwartungen mit den einzelnen Beteiligten innerhalb des Netzwerkes zu kommunizieren und abzuklären, wer welche Aufgaben hat. In diesem Zusammenhang gehen die Autor*innen auch der Frage nach, wie Netzwerke als Sicherungssystem zusammenarbeiten können. Am Ende des Kapitels benennen die Autor*innen weitere Aspekte im Zusammenhang mit dem Thema Kinderschutz.
„Arbeiten mit Familien und ihrem sozialen Umfeld im Kontext von Kindeswohlgefährdung“
In diesem Kapitel zeigen die Autor*innen exemplarisch und an verschiedenen Methoden auf, wie Fachkräfte mit Familien und Kindern zum Wohl der Kinder arbeiten können, um eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Hier wird noch einmal konkreter auf die Erarbeitung eines Schutzvertrags eingegangen. Damit alle Beteiligten gut miteinander arbeiten können steht zu Beginn die Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten im Fokus. Die Autor*innen gehen hier explizit darauf ein, wie diese bei Kund*innen und geschickten Klient*innen anhand von Reflexionsimpulsen und verschiedenen Methoden hergestellt werden kann. Die Selbstreflexion der Fachkräfte steht in diesem Kapitel immer wieder im Fokus. Im weiteren Verlauf des Kapitels erläutern die Autor*innen, was zu tun ist, wenn trotz Hilfen und Schutzvertrag keine Veränderungen stattfinden und die Kindeswohlgefährdung bestehen bleibt. In diesem Zusammenhang steht auch das Thema Loyalität. Behandelt werden die „Loyalität der Kinder und Jugendlichen zu ihrem primären Bezugssystem“ (S. 201) sowie die Loyalität der Fachkräfte zu den verschiedenen Beteiligten im Kontext der Kindeswohlgefährdung. Ein weiterer Aspekt ist die Kooperation der Fachkräfte mit den Kindern und Jugendlichen sowie der Umgang mit Geheimnissen. Es gilt dabei das Prinzip Klarheit. Fachkräfte sind dazu aufgefordert von Beginn an transparent und klar die Grenzen zu kommunizieren, „die zu sofortigem Handeln führen“ (S. 211). In der Arbeit mit den Familien betonen die Autor*innen den „Weg der kleinen Schritte“ (S. 215) um Erfolge erreichbar zu machen und damit die Motivation und Zufriedenheit der Beteiligten zu fördern und zu erhalten. Neben diesen Gedanken sprechen die Autor*innen weitere Strukturen die für das Setting in der Arbeit mit Familien wichtig sind an. Ein weiteres Augenmerk liegt auf „der Betroffenheit aller Kinder im Gefährdungssystem“ (S. 221). Es ist wichtig sich bewusst zu machen, was es für Kinder bedeutet, wenn ihr Geschwister oder ein Erziehungsverantwortlicher Gewalt erfährt. Damit haben Fachkräfte die Aufgabe „mit allen im System lebenden Kindern und Jugendlichen“ (S. 222) zu arbeiten. In der systemischen Arbeit mit einem Gefährdungssystem geht es immer auch darum die Autonomie der Kinder und Jugendlichen sowie ihre Selbsthilfekräfte zu stärken (vgl. S. 225) und damit ihre Handlungsfähigkeiten und Lösungsmöglichkeiten in schwierigen Situationen zu vergrößern. Mit Hilfe von Netzwerkarten werden die sozialen Netzwerke und damit verbundenen Ressourcen im sozialen Umfeld der Familie betrachtet und Methoden vorgestellt, die das Erziehungssystem bei Veränderungen hin zum Kindeswohl unterstützen. Den Schluss des Kapitels widmen die Autor*innen dem Thema „Controlling“ (S. 243). Anhand eines Fragekatalogs und dem erstellen einer Netzwerkkarte können Erfolge und Veränderungen sichtbar gemacht werden und gegebenenfalls neue Vereinbarungen getroffen werden. In diesem Zusammenhang betrachten die Autor*innen ebenfalls die Möglichkeit des Scheiterns und welche sicheren Anker, wie Vertrauenspersonen oder Orte dem Kind beziehungsweise Jugendlichen zur Verfügung stehen, falls es sich, weil ihm Gefahr durch Erziehungsverantwortliche droht, in Sicherheit bringen muss.
„Wie kann es gelingen?“
Im letzten Kapitel beantworten die Autor*innen diese Frage damit, dass der Kinderschutz mehr ins öffentliche Bewusstsein rücken muss.
Diskussion
Das Werkstattbuch bietet mit seinen vielen Methoden, Impulsen und Anregungen zur Selbstreflexion eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderschutz. Die Autor*innen nehmen dabei alle Ebenen einer Organisation in den Blick. Die Führungsebene, die Mitarbeiterebene, die Erziehungsverantwortlichen, die Kinder und Jugendlichen sowie die verschiedenen Netzwerke und Kooperationspartner. Ein Hauptaugenmerk des Autorenteams liegt auf den Kindern und Jugendlichen, die aktiv in die Gespräche, Veränderungsprozesse und Arbeit in der Familie einbezogen werden.
Kritisch anzumerken ist, dass die Autor*innen in ihren Ausführungen „die Familie als gefährlichsten Ort für Kinder und Jugendliche“ (S. 32) bezeichnen. Familien wird damit per se unterstellt, dass sie Gefährdungssysteme sind. Erst im Kapitel „Arbeiten mit Familien und ihrem sozialen Kontext von Kindeswohlgefährdung“ wird dies ein wenig abgemildert mit Verweis auf die Talkshow von Markus Lanz am 18.06.2020 in der die damalige Bundesjustizministerin Christine Lamprecht zu Gast war. Sie spricht davon „dass die Familie in Fällen von Kindeswohlgefährdung der gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche sein kann“ (S. 200). Auch wenn im Kapitel „Haltungen und Grundgedanken“ über Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung diskutiert und der Versuch einer Begriffsverortung unternommen wird, wird an keiner Stelle definiert, was unter Kindeswohlgefährdung zu verstehen ist. Das Ampelsystem, welches Kinderschutzfälle in drei Kategorien (grün, rot, orange) einteilt ist dafür wenig hilfreich. Denn die Autor*innen machen die Einteilung in die Kategorien von der Zusammenarbeit der Familie sowie deren Kooperations- und Reflexionsbereitschaft als auch von der Veränderungswilligkeit der Erziehungsverantwortlichen abhängig. Dies wird auch im exemplarischen Schutzvertrag deutlich, der bei Vertragsbruch eine Meldung an das Jugendamt vorsieht, „mit der Empfehlung eine Herausnahme des Kindes einzuleiten, um die Familie vor strafbaren Handlungen zu schützen“ (S. 195). Es bleibt jedoch offen, welche Vertragsbrüche eine Meldung an das Jugendamt nach sich ziehen und welche vertraglich geregelten Hilfemaßnahmen verhandelbar sind bzw. ob noch nachjustiert werden kann, wenn zum Beispiel die Qualitätszeit von einer halben Stunde zwischen Erziehungsverantwortlichem/r und Kind nicht zustande kommt. Zwischen den Zeilen klingt zwar an, dass es auch um die Beziehungen und Interaktionen innerhalb des Familiensystems geht, jedoch wird nicht explizit auf die Dynamiken, die innerhalb von Familien herrschen eingegangen. Diese systemische Sichtweise fehlt hier leider. Die Annahme, das Eltern das Beste für ihre Kinder wollen und damit verbunden die Frage, was Eltern bzw. Erziehungsverantwortliche an einer gelungen Elternschaft hindert, bleibt Außen vor. Anzumerken ist, dass die Autor*innen in der Arbeit mit Familien sehr Ressourcenorientiert vorgehen. Abgefragt werden die Ressourcen innerhalb und außerhalb der Familie, die den einzelnen Familienmitgliedern zur Verfügung stehen.
Insgesamt liegt das Hauptaugenmerk der Autor*innen auf der Etablierung eines umfassenden Kinderschutz auf allen Ebenen einer Organisation. Die Methoden, Anregungen und Impulse, mit denen sie dies erreichen möchten, finden sich alle in der systemischen Arbeit. Mit den vorgestellten Methoden ist es auf allen Organisationsebenen möglich sich intensiv mit dem Thema Kinderschutz auseinanderzusetzen und ein umfassende Kinderschutzprogramm zu installieren. Die Lotsenstelle, die das Kernstück, des hier vorgestellten Kinderschutzprogramms ausmacht, dürfte für kleinere Träger bzw. Organisationen kaum umsetzbar sein. Es bleibt ebenso fraglich, ob eine Geschäftsführung eine Lotsenstelle mit so viel Personalverantwortung ausstattet, wie es in diesem Konzept vorgesehen ist. Für die praktische Arbeit mit Familien finden Fachkräfte zahlreiche Anregungen und Impulse um Gespräche mit Erziehungsverantwortlichen, Kindern und Jugendlichen zu führen und mit ihnen an Veränderungen zu arbeiten.
Fazit
Wer sich auf den Weg macht ein Kinderschutzkonzept in seiner Organisation zu installieren oder das vorhandene Kinderschutzkonzept überarbeiten möchte hat mit diesem Werkstattbuch eine Vielfalt an Methoden zur Umsetzung und intensiven Auseinandersetzung an der Hand.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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