Arbeitskreis HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.): Kriminologie und Soziale Arbeit
Rezensiert von Dr. Karsten Lauber, 10.11.2022
Arbeitskreis HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.): Kriminologie und Soziale Arbeit. Ein Lehrbuch. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 351 Seiten. ISBN 978-3-7799-6612-8. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Das Thema des Lehrbuches (Sammelbandes) wird in der Einführung einprägsam beschrieben. Es geht darum, das Bestandswissen der Kriminologie und das der sozialen Arbeit zusammenzuführen – konkret die soziale Arbeit mit straffällig gewordenen Personen.
Herausgeber
Herausgeber des Sammelbandes ist der im Jahr 2010 gegründete „Arbeitskreis der Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen Kriminologie/​Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit“. Details zur Zusammenstellung der Redaktion, die aus zehn Personen bestand, sind dem Geleitwort (S. 5) zu entnehmen.
Entstehungshintergrund
Ansatz des Sammelbandes ist es, sowohl die Bedürfnisse der Praxis als auch diejenigen der Theorie zu berücksichtigen. Die Herausgeber/​-innen legten bei der Konzeptionierung einen besonderen Fokus auf die Vermeidung eines vorschnellen Aktualitätsverlusts. Es handelt sich um die zweite Auflage, die vollständig überarbeitet und erweitert wurde. Für die Erstauflage liegt bereits eine Rezension auf socialnet.de vor: https://www.socialnet.de/rezensionen/​16264.php.
Aufbau
Der Sammelband gliedert sich in das einführende Geleitwort, ein Abkürzungs- und ein Inhaltsverzeichnis, 21 Aufsätze, ein Glossar sowie ein abschließendes Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. Die Aufsätze sind in die drei Kapitel (1) Grundlagen und Perspektiven (acht Beiträge), (2) Handlungsansätze und Verfahren (fünf Beiträge) und (3) Ausgewählte Akteure und Zielgruppen (acht Beiträge) aufgeteilt. Die Beiträge folgen dabei einem einheitlichen Aufbau, der den Servicecharakter des Buches, aber auch die Akribie der Herausgeber/​-innen verdeutlicht: Die Beiträge eröffnen mit einem eigenen Inhaltsverzeichnis und enden mit einer Zusammenfassung sowie Übungsaufgaben. Des Weiteren ergänzen die Herausgeber/​-innen die autoreneigenen Literaturverzeichnisse um drei bis fünf Titel zur Vertiefung des jeweiligen Themas. Erfreulich ist, dass die Herausgeber/​-innen sich darum kümmerten, alle Beiträge in ihrem Umfang zu vereinheitlichen. Das Glossar am Ende des Sammelbandes bezieht sich auf alle Einzelbeiträge, wobei am Ende jedes Aufsatzes Stichwörter genannt werden, die auch in das Glossar Eingang fanden.
Inhalt
Gegenüber der bereits auf socialnet.de vorliegenden Rezension der zweiten Auflage (https://www.socialnet.de/rezensionen/​29286.php) beinhalten die nachfolgenden Ausführungen einen exemplarischen Streifzug durch den Sammelband, ohne Rekurs auf die Vorauflage zu nehmen. Dies entspricht der Betrachungsweise derjenigen Leser/​-innen, die direkt mit der vorliegenden zweiten Auflage in das Lehrbuch einsteigen.
Die Redaktionsmitglieder Heinz Cornel und Michael Lindenberg informieren in ihrem Geleit über Hintergründe des Sammelbandes. Darauf baut die von beiden Autoren verfasste Einführung auf, die sich mit der Frage „Warum Kriminologie und Soziale Arbeit?“ befasst, wobei die Betonung auf das „und“ zu legen ist. In diesem Aufsatz geht es darum, das „Bestandswissen der Kriminologie und das Bestandswissen der Sozialen Arbeit zusammenzuführen“ (S. 13) – konkret die soziale Arbeit mit straffällig gewordenen Personen. Ansatzpunkt dabei ist, die soziale Arbeit als eigene Wissenschaft zu verstehen. Als Adressaten des Sammelbandes beschreiben die Autoren sowohl Studierende als auch beruflich in der sozialen Arbeit Tätige. Beschrieben wird zudem die Dreiteilung des Sammelbandes. Der erste Teil „Grundlagen und Perspektiven“ gilt der Einführung und dem Überblick über das Gebiet der sozialen Arbeit in der Strafjustiz. Der zweite Teil „Handlungsansätze und Verfahren“ stellt besondere Handlungsansätze, wie z.B. die Desistance-orientierte Straffälligenhilfe, in ihren praktischen Bezügen dar. Der dritte Teil „Ausgewählte Akteure und Zielgruppen“ widmet sich den Machtausübenden und den Machtunterworfenen.
Im darauffolgenden Beitrag mit dem Titel „Verstehen und Gestalten“ gibt Michael Lindenberg eine Einführung zum Verhältnis von Kriminologie und sozialer Arbeit, in dem die zwei Puzzlestücke plausibel zusammengesetzt werden. Der Aufsatz setzt damit die Ausführungen aus der Einleitung anschaulich fort. Dies lässt sich auch für „Kriminalitätstheorien und Soziale Arbeit“ von Theresia Höynck behaupten. Höynck bietet eine eingängige Einführung in die Kriminalitätstheorien an und stellt heraus, dass die jeweiligen Theorien im Kontext ihrer Zeit bzw. ihres sozialen und politischen Umfelds zu bewerten sind.
Christine Graebsch setzt sich unter dem bekannten Titel „What works“ mit den Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlich fundierter Kriminalprävention auseinander. Dabei stellt sie Methoden zur Erforschung der Wirksamkeit von strafrechtlichen Sanktionen vor sowie ausgewählte Forschungsergebnisse und diskutiert methodische und ethische Probleme. Bei der Evaluationsforschung stehen – vor dem Hintergrund des Kausalitätsproblems – die Bildung von Kontrollgruppen in experimentellen, quasi- und nicht-experimentellen Designs im Fokus der Autorin. Der Stellenwert experimenteller kriminologischer Forschung wird – nicht nur in Deutschland – als gering bezeichnet. Darauf aufbauend weist Graebsch auf ausgewählte Beispiele für experimentelle Studien hin, die für die soziale Arbeit von Interesse sein könnten. Der durchlaufende rote Faden dieses Aufsatzes bezieht sich auf eine Kritik am Umsetzungsstand der populären Idee der evidenzbasierten Kriminalprävention. Der zweite Strang bezieht sich auf die Kritik an der fehlenden Anschlussfähigkeit vorliegender Studienergebnisse in Bezug auf ambulante und freiheitsentziehende Sanktionen an die Kriminalpolitik
Geschlechtertheoretische Perspektiven in der Kriminologie beleuchtet Anke Neuber in dem Aufsatz zum „Zusammenhang von Devianz und Geschlecht – eindeutig mehrdeutig“. Einleitend beschreibt die Autorin die Kriminalität von Frauen (im Vergleich zu derjenigen der Männer) auf der Basis der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), dem sog. Strafverfolgungstrichter sowie der Dunkelfeldforschung. Neuber problematisiert geschlechtsspezifisch unterschiedliche Formen der sozialen Kontrolle sowie eine fehlende Analytik bei den Täter-Opfer-Beziehungen bei Delikten, die von Männern bzw. von Frauen begangen werden. Im Kapitel über doing gender wird die Kriminalität über den Ansatz des Geschlechts als soziale Konstruktion als Konstruktions- und Zuschreibungsprozess herausgearbeitet – analytisch, ohne ideologisch zu übersteuern. Daran schließt mit dem Kriminalitätsdiskurs ein weiterer Erklärungsansatz an, der sich auf die Sprechakte bezieht; also wie wird über Kriminalität gesprochen (oder nicht gesprochen).
Brigitta Goldberg und Thomas Trenczek analysieren im letzten Drittel des Sammelbandes „Jugend und Delinquenz“. So schlicht der Titel formuliert ist, so umfassend ist der Beitrag gestaltet. Im Wesentlichen enthält der Aufsatz alles, was die Zielgruppe dieses Sammelbands über das Thema wissen sollte: Aspekte der Sozialisation, Definitionen, Devianz, Delinquenz, PKS, Intensivtäter und Reaktionen auf Jugendkriminalität.
Ebenso einprägsam sind die Ausführungen von Thomas Kunz zu dem Kriminalitätsphänomen betitelt, das in der PKS im Wesentlichen als „Ausländerkriminalität“ bezeichnet wird: „Kriminalität und Migration“. Allerdings geht Kunz über diese polizeiliche Betrachtung deutlich hinaus, indem sowohl den Diskurs um Deutschland als Einwanderungsland einbezieht als auch um den Begriff des „Migrationshintergrunds“. Die einschlägige Kritik an der PKS ist dann ebenso beinhaltet wie die Beschreibung „Vom Zuwanderungsdiskurs zum Sicherheitsdiskurs“.
Mit der „Kriminalität der Mächtigen: (K)ein Thema für die Soziale Arbeit?“ rückt Michael Jasch eine Zielgruppe in den Vordergrund, die in der Kriminologie seltener Berücksichtigung findet. Die Idee des Aufsatzes liegt in dem Ansatz begründet, wonach sich die soziale Arbeit vornehmlich den benachteiligten Bevölkerungsgruppen zuwendet.
Das elfseitige Glossar am Ende des Sammelbandes bietet zwischen A wie Abolitionsmus bis W wie Wissenschaftliche Erkenntnis kurze, jedoch solide Beschreibungen. Im daran anschließenden Verzeichnis der Autorinnen und Autoren informieren die Herausgeber/​-innen über die Herkunft, Teile der Vita und Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte der für die Aufsätze verantwortlichen Personen.
Diskussion
Der mit 21 Aufsätzen gut bestückte Sammelband überzeugt. Es ist eine Wohltat, durch die unterschiedlichen Aufsätze von durchwegs renommierten Autorinnen und Autoren zu blättern. Die Kritik an dem Lehrbuch bewegt sich im Einzelfall auf Fußnoten-Niveau, wenn z.B. Kunz konstruktivistisch überanstrengt von der „sog. Kölner Silvesternacht“ (S. 283; Hervorhebung d. Verf.) schreibt oder die Verfolgung von Sinti und Roma scheinbar auf das nationalsozialistische Deutschland beschränkt (S. 285). Ebenso wäre die Einbeziehung der sog. (sic!) Clankriminalität plausibel gewesen – in Ergänzung zu der bereits von dem Autor genannten Organisierten Kriminalität und dem islamistischen Terrorismus (S. 287 f.). Bei den Kriminalitätstheorien von Höynck hätte die Bezugnahme auf die Chicagoer Schule ein klein wenig umfangreicher ausfallen können. Die stark verkürzte Beschreibung der broken windows folgt dem üblichen Manko, dass der Ansatz von Wilson & Kelling bei genauer Betrachtung zwei Hypothesen beinhaltet, die es auseinanderzuhalten gilt: die erste bezüglich des Einflusses von Incivilities auf die Kriminalitätsfurcht und die zweite, der zufolge aus den Incivilities eine Kriminalitätsspirale entsteht. Dennoch: Die stark verdichtete Beschreibung der Kriminalitätstheorien ist lesenswert und die darin formulierte Kritik fundiert vorgetragen – leider in dieser Form nur selten anzutreffen.
Im Kern ist im Lehrbuch eine soziologisch geprägte Kriminologie anzutreffen; gleichwohl bleibt die deutsche Kriminologie in der Lehre vornehmlich an den rechtswissenschaftlichen Instituten angebunden.
Das Layout des Sammelbandes ist typisch Beltz Juventa (und damit mit hohem Wiedererkennungswert) ebenso wie die gewohnt gute Druck-, Lektorats- und Papierqualität.
Fazit
Mit der zweiten Auflage des Lehrbuches „Kriminologie und Soziale Arbeit“ legt der Arbeitskreis HochschullehrerInnen, Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit einen empfehlenswerten Sammelband vor, dem eine große Leser/​-innenschaft zu wünschen ist. Trotz der Schwerpunktsetzung auf die soziale Arbeit bzw. die Pönologie gibt der Sammelband auch eine gute Figur als grundlegendes kriminologisches Lehrbuch ab. Angesichts der Qualität des Lehrbuchs fällt die avisierte Zielgruppe jedoch zu klein aus. Nicht nur Studierenden und beruflich in der sozialen Arbeit Tätigen sei das Werk ans Herz gelegt; konkret auch Studierenden an den Polizeifachhochschulen, Polizeiakademien und Polizeischulen oder den in der (kommunalen) Kriminalprävention aktiven Personen. Ebenso einzubeziehen sind Studierende der Rechtswissenschaften bzw. sogar all jene, die an der Kriminologie interessiert sind. Sicherlich hat das Lehrbuch auch in Akademikerkreisen seinen Platz, sowohl in der Wissenschaft als auch der Lehre, um dort als schnelles Nachschlagewerk gute Dienste zu leisten. Aus der inhaltlichen Ausgestaltung ist davon auszugehen, dass – ganz im Sinne der Herausgeber/​-innen – ein vorschneller Aktualitätsverlust vermieden wird. Mit dem Preis von 29,95 EUR ist „Kriminologie und Soziale Arbeit“ damit ein günstiges Lehrbuch mit langer Laufzeit. Dennoch, so bleibt zu hoffen, findet dieser empfehlenswerte Sammelband beizeiten eine Fortsetzung.
Rezension von
Dr. Karsten Lauber
M.A. (Kriminologie, Kriminalistik, Polizeiwissenschaft), M.A. (Public Administration)
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Zitiervorschlag
Karsten Lauber. Rezension vom 10.11.2022 zu:
Arbeitskreis HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.): Kriminologie und Soziale Arbeit. Ein Lehrbuch. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-7799-6612-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29609.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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