Andreas Heimer: „Euch nervt’s - für mich ist es sinnvoll“
Rezensiert von Ulrike Ziemer, 13.10.2022

Andreas Heimer: „Euch nervt’s - für mich ist es sinnvoll“. Neue Blickwinkel für schwierige Verhaltensweisen von wahrnehmungsbesonderen Kindern - Das Basissinn-Konzept®. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG. (Dortmund) 2022. 352 Seiten. ISBN 978-3-8080-0916-1. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 37,00 sFr.
Autor
Andreas Heimer ist Heilpraktiker der Physiotherapie, Therapeut für Sensorische Integration mit Ausbildung am Institut für Kindesentwicklung von Inge Flehmig und Bobath Therapeut. Er ist seit mehr als 30 Jahren im Kinder- und Jugendbereich tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt mit einem Vorausblick auf das Thema und einem Einblick, der mit Hilfe zweier Thesen aufzeigt „Worum es geht“.
- These 1: „Wahrnehmungsbesonderheiten“ sind häufig der Grund für merkwürdiges Verhalten.
- These 2: Die Besonderheiten lassen sich „gewinnbringend“ nutzen.
Im 3. Kapitel ermöglicht der „Röntgenblick“ die nähere Betrachtung wichtiger Begriffe und Ansichten, die sich alle rund um das „Das Basissinn-Konzept“ bewegen. Die Basissinne werden theoretisch genauso betrachtet wie die Verbindung zwischen Gehirn und Wahrnehmung (sensorische Integration).
Schnittmengen, die es zwischen dem Basissinn – Konzept und anderen pädagogischen Konzepten gibt, werden beispielhaft anhand der Montessori Pädagogik, der Reggio- Pädagogik und dem Situationsansatz aufgezeigt. Das Basissinn – Konzept wurde von zwei pädagogischen Richtungen besonders inspiriert:
- Das Fit- Konzept nach Remo Largo
- Basale Förderung (Basale Stimulation nach Andreas Fröhlich und Basale Kommunikation nach Winfried Mall)
In den Kapiteln 4 bis 10 wird das „Basissinn – Konzept in der Praxis“ vorgestellt. Der von Andreas Heimer entwickelte Beobachtungsbogen legt den Fokus auf:
„Reizsuche und Reizvermeidung im Bezug auf das:
- Propriozeptive System (die Tiefensensibilität)
- das Vesikuläre System (das Gleichgewichtssystem)
- das Taktile System“ (die Oberflächenwahrnehmung“
Somit entstehen sechs verschiedene Gruppen, die jeweils die Suche oder die Vermeidung eines Reizes beschreiben. Handhabung und Auswertung werden erläutert. Der Beobachtungsbogen ist auch mit Hilfe eines Codes als online Material verfügbar und im Buch vollständig abgedruckt. Er enthält 111 Aussagen, die erläutert werden. Jede Aussage wird mit dem gleichen Schema betrachtet. Am Anfang steht eine Aussage.
Beispiel: „Das Kind muss alles anfassen/berühren“.
Es folgt eine Einordnung, in diesem Beispiel „Taktile Reizsuche“.
Unter der Frage „Warum ist das so?“ erhalten die Leserinnen und Leser eine kurze Antwort: „Unterinformiertheit ruft nach Information – und findet sie mit dieser cleveren, sehr naheliegenden Idee auch.“
Der „Einfühlblick“ beschreibt aus der Sicht von Betroffen oder Eltern, wie es sich anfühlt, wenn die Wahrnehmung durch Berühren für Menschen bedeutsam ist, Es folgen Handlungsideen und Umgangsmöglichkeiten.
Beispiele:
- „Akzeptieren Sie diese Vorliebe. Zeigen Sie dem Kind Ihren Respekt für diese nützliche Vorliebe.“
- „Statten Sie seinen Schreibtisch/​Schultisch mit etwas zum Befühlen aus, was es gerne mag, …“ Bei einigen Aussagen gibt es den „Blick über die Schulter“ der kritisch beleuchtet ob die Zuordnung zutrifft oder ob andere Fachleute hinzugezogen werden sollten.
Beispiele für weitere Beobachtungsansätze, die aufzeigen, dass häufig mehrere Sinne beteiligt sind:
- „Das Kind rennt ausgiebig und ohne erkennbares Ziel herum“ (Propriozeptive Reizsuche, Vestibuläre Reizsuche)
- „Das Kind wird durch Veränderung von Plänen, Routinen oder Erwartungen verstört“ (Propriozeptive Reizvermeidung, Taktile Reizvermeidung, Vestibuläre Reizvermeidung)
Alle 111 Äußerungen werden so beleuchtet, erklärt und mit praktischen Hinweisen versehen dargestellt. Das Kapitel 7 „Auswertungsblick“ widmet sich der Erklärung der Auswertungsschablonen. Eine beispielhafte Auswertung wird vorgestellt und ist im online Material zu finden. Es ergibt sich für jeden der sechs Bereiche ein Quotient, der mit Hilfe der Legende auf der Auswertungsschablone eingeordnet werden kann.
Im Kapitel 8 unternimmt der Autor einen „Seitblick“ auf die Sinneswahrnehmungen die Akustik und Optik betreffen. Die beiden Bereiche sind kein direkter Bestandteil des Beobachtungsbogens. Menschen, die vermehrt akustische und/oder optische Reize suchen oder vermeiden benötigen sinnvolle Strategien, um mit ihren besonderen Bedürfnissen im Alltag umzugehen. Bei entsprechender Sensibilität kann es Geräusche oder Lichteinwirkungen geben, die viele Menschen nicht wahrnehmen, die für andere jedoch einen Störfaktor darstellen. Die Basissinne können zur Kompensation genutzt werden.
Der „Praxisblick“ in Kapitel 9 stellt zwei Erfahrungsberichte aus der Praxis des Autors vor:
- Marie, eine Reizsucherin
- Alexander, ein Reizvermeider
Beide Beschreibungen skizzieren einen Therapieverlauf, eingebunden in die Diagnostik mit dem Basissinn – Konzept.
Ideen, die im Verlauf des Buches geäußert wurden, werden im 10. Kapitel „Ideenblick“ aufgegriffen und mit weiteren Anregungen ergänzt. Unter dem Abschnitt „Konkrete Blicke“ werden Ideen und Anschaffungsvorschläge alphabetisch aufgelistet.
Beispiele:
- Aufwecken der Sinne
- Federnde Seile
- Boxsack
- Gewichtsdecke
- Schiefe Ebene
Es folgen „Haltungsblicke“, die förderlich für konkrete Handlungen sind und deren Wirksamkeit verbessern kann. Besonders das Gespräch mit Kindern über ihre Verhaltensweisen kann hilfreich sein.
Beispiele:
- Begrüßung
- Buddy-System
- Dialog über Verhalten
- Ressourcenorientiertheit,
- Warnzeichen.
Der „Ausblick“ möchte eine Ermutigung sein, für alle, die sich durch das Buch hindurchgearbeitet haben. Der Autor blickt mit den Aussagen „Inklusion kann gelingen; Inklusion darf leicht sein; Inklusion darf Spaß machen“ auf eine „Inklusive Zukunft“ in der alle Menschen in ihrer „Einzigartigkeit“ und ihren „Besonderheiten“ wahrgenommen werden.
Diskussion
Andreas Heimer widmet sich in diesem Buch unseren Basissinnen. Kinder deren Verhaltensweisen vom Umfeld als auffällig wahrgenommen werden befinden sich in einer komplizierten Situation, den für sie selbst, sind genau diese als störend empfundenen Verhaltensweisen sinnvoll, um sich in der Umwelt zu orientieren. „Wahrnehmungsbesonderheiten“ erkennen und wertschätzen, das ist eine Herangehensweise die Mut macht und Perspektiven aufzeigt.
Das taktile System, der Gleichgewichtssinn und die Tiefensensibilität eröffnen bei genauer Beobachtung Möglichkeiten, Handlungen und Verhaltensweisen von Menschen zu verstehen. Durch das detaillierte Betrachten möglicher Verhaltensweisen ermöglicht er auch Eltern, sich in die Thematik hineinzudenken. Seine positive Betrachtungsweise überrascht, macht neugierig und gibt Hilfen zu völlig neuen Sichtweisen. Dieser Aspekt ist herausragend. Verhaltensweisen, die als störend empfunden werden bekommen bei bestimmten Gegebenheiten einen Sinn. Die Herangehensweise von Herrn Heimer ist nicht neu und als klassisch heilpädagogische Haltung einzustufen. Neu und hilfreich ist die Art und Weise der Zusammenstellung und die Möglichkeit scheinbar undefinierbare Beobachtungen in ein System zu ordnen das viel Verständnis ermöglicht. Beobachten, Verstehen und Reflektieren sind hoffnungsvolle Punkte im Umgang mit Kindern, die „schwierige Verhaltensweisen“ zeigen. Die Strategien und Ideen sind kreativ, hilfreich und lebensnah. Ein sehr empfehlenswertes Buch für Fachleute und Eltern. Das Basissinn-Konzept hat das Potenzial entlastend und ermutigend zu wirken. Zugleich werden Ideen und Handlungsmöglichkeiten vorgestellt die Hoffnung auf gelingende Inklusion machen. Der Titel „Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll“ ist sehr aussagekräftig und bringt den Inhalt des Buches auf den Punkt.
Fazit
Das Fachbuch „Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll“ stellt das Basissinn-Konzept® von Andreas Heimer praxisnah vor. 111 Alltagsbeobachtungen werden in die drei Basissinne: Tiefensensibilität, Gleichgewichtssinn, Oberflächenwahrnehmung, eingeordnet. Hierbei wird bei jedem Sinn zwischen Reizsuche und Reizvermeidung unterschieden. Positive Aspekte der Eigenarten werden mit Handlungsstrategien verknüpft. Andreas Heimer hat seine Erfahrungen im Basissinn-Konzept® gebündelt und ein Konzept entwickelt, dass eine gezielte Beobachtung und wertschätzende Haltung ermöglicht.
Rezension von
Ulrike Ziemer
Dipl. Heilpädagogin (FH)
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Es gibt 29 Rezensionen von Ulrike Ziemer.
Zitiervorschlag
Ulrike Ziemer. Rezension vom 13.10.2022 zu:
Andreas Heimer: „Euch nervt’s - für mich ist es sinnvoll“. Neue Blickwinkel für schwierige Verhaltensweisen von wahrnehmungsbesonderen Kindern - Das Basissinn-Konzept®. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG.
(Dortmund) 2022.
ISBN 978-3-8080-0916-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29615.php, Datum des Zugriffs 30.11.2023.
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