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Anne Zimmermann: Straßenfunde

Rezensiert von Maria Wolf, 30.11.2022

Cover Anne Zimmermann: Straßenfunde ISBN 978-3-949452-62-8

Anne Zimmermann: Straßenfunde. Hirnkost Verlag (Berlin) 2022. 264 Seiten. ISBN 978-3-949452-62-8. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thema

Will man sich eine Vorstellung von Streetwork oder Straßensozialarbeit machen, dann kommen häufig ganz unterschiedliche Szenen in den Sinn, die, werden sie einer Fachkraft des Handlungsfelds präsentiert, ganz schnell als Klischee entlarvt werden, das der heterogenen Wirklichkeit kaum nahekommt. „Straßenfunde“ rekonstruiert als Graphic Novel Arbeitsweisen und Anekdoten und nimmt die Leserinnen und Leser mit in den Arbeitsalltag der Berliner Straßensozialarbeit.

Autorin

Anne Zimmermann ist Comiczeichnerin und Illustratorin. Von Streetwork hatte auch sie nur ihre eigenen Alltagsideen. Bei der Entstehung des Buches begleitete sie ganz verschiedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Gangway e.V., einem der großen Träger für Straßensozialarbeit in Berlin.

Entstehungshintergrund

2020 sollte das 30-jährige Jubiläum von Gangway e.V. stattfinden. Aufgrund der Pandemie fiel die Feier aus und der Verein nutzte den Anlass zur Reflektion über die eigene Arbeit. Dabei kam die Frage auf, wie das im Bereich Straßensozialarbeit entstandene Wissen erhalten und weitergegeben werden kann. Die Antwort: In Form eines Comics!

Aufbau und Inhalt

Die Graphic Novel verbindet Querschnittsthemen Sozialer Arbeit mit anekdotischen Szenen aus der Straßensozialarbeit und macht so erlebbar, was die Praxis der Straßensozialarbeit in Berlin bewegt. Dabei werden in der Regel für die Fachkräfte relevante Alltagsdefinitionen vorangestellt und mit Kurzgeschichten aus dem Arbeitsalltag illustriert. Es einsteht ein subjektives Bild von Straßensozialarbeit in Berlin zu den folgenden, miteinander verschränkten Themen:

  1. Was motiviert, im Streetwork tätig zu sein?
  2. Niedrigschwelligkeit.
  3. Nähe-Distanz als Element von Professionalität.
  4. Die Notwendigkeit von Kontinuität.
  5. Woran erkennen Fachkräfte den Erfolg ihrer Arbeit?
  6. Gentrifizierung und die sozialräumliche Wirkung auf junge Menschen und Obdachlose.
  7. Klischees im Handlungsfeld.
  8. Gemeinwesenarbeit.
  9. Die Persönlichkeit der Fachkräfte in der Anwendung der Methode.
  10. Selbstwirksamkeit und Eigenständigkeit.
  11. Die Notwendigkeit des Teams.
  12. Fazit: Warum Streetwork? Aus Sicht der Autorin.

Diskussion

Das Buch spricht subjektiv an und kann daher – will man ihm gerecht werden – nur auf subjektiver Ebene diskutiert werden. So frage ich mich: Was erwarte ich von einem Comic? Gute Unterhaltung, ironischen Witz, visuelle Impulse. Und was erwarte ich von einem Fachbuch? Tieferes Verständnis, weiterführende Erkenntnis, die Anregung zur kritischen Auseinandersetzung. Aus meiner Sicht lässt sich das gut vereinen. Die Autorin (eher wohl Gangway e.V. als Auftraggeberin) lässt das offen und verspricht „einen ehrlichen Einblick in die Straßensozialarbeit“ (S. 253).

Übersetzt in die Sprache sozialwissenschaftlicher Forschung, liegen hier die Ergebnisse einer qualitativen Studie auf Basis von Interviews und teilnehmender Beobachtung vor. Der Untersuchungsgegenstand ist dabei das Bild der Fachkräfte von ihrem Handlungsfeld. Sozialräumliche Entwicklungen wie Gentrifizierung und Marginalisierung von Randgruppen werden aufgegriffen und problematisiert, auch Selbstkritik erfolgt durch das Überzeichnen von Widersprüchen. Diese jedoch nur entlang der klassischen Reflexionsprozesse der Fachkräfte. Hier könnte das Genre noch mehr Erkenntnisgewinn leisten, doch ist das im Selbstverständnis der Publikation nicht angelegt: Die Jubiläumsschrift soll gefällig sein und werben. Und das ist in Zeiten des Fachkräftemangels gerade für ein Handlungsfeld wichtig, dass zum einen hohe Anforderungen an ihre Fachkräfte stellt, zum anderen aber ein Schattendasein in der (fach-)öffentlichen Aufmerksamkeit fristet. Das induktive und voraussetzungsfreie Vorgehen macht es denjenigen leicht einen Eindruck von Streetwork zu bekommen, die bis dato kaum belastbare Vorstellungen von Straßensozialarbeit hatten.

Diejenigen, denen das Handlungsfeld vertraut ist, finden sich wieder. Auf manche Fragen hat man vielleicht eine andere Antwort, man assoziiert andere Szenen und beginnt ein wenig zu reflektieren: Wo habe ich selbst einmal den Boden der Professionalität verlassen (S. 46 f.)? Wo finde ich andere Antworten? Welche Themen stehen aktuell in meinem sozialräumlichen Kontext im Vordergrund? So geht es mir zumindest: Ein tolles Geschenk an die Fachkräfte des Handlungsfelds.

Das Genre könnte aber noch viel mehr. Und an dieser Stelle oute ich mich als dem einen Prozent der Menschheit zugehörig, das gerne ein klassisches Fachbuch liest (S. 253) und kritisiere zugleich, dass dieser Aussage der empirische Beleg fehlt. Bleiben wir in der induktiven Forschungslogik, dann ist eine alleinige Veröffentlichungsgenehmigung seitens der Leitungsebene natürlich nicht ausreichend, um Validität herzustellen. Ein Gegenlesen der qualitativen Antworten zu den aufgeworfenen Fragen mit bereits vorhandenen Antworten aus der Fachliteratur hätten Hinweise zur Suche nach den kritischen Szenen fachlichen Handelns gebracht. Spielen wir das an der Frage des Erfolgs durch: Hier werden, entsprechend der Anlage des Buches, subjektive Antworten gegeben. Beispielsweise dann, wenn ein Adressat Vertrauen zu den Fachkräften entwickelt oder eine Adressatin selbstständig den Kontakt aufrechterhält: „Teilweise sind wir die einzige Konstante im Leben“ (S. 79) heißt es in einer Szene. Das ist eine Aussage, wie auch ich sie immer wieder von Fachkräften gehört habe und die hier, nicht ohne Grund, als Höhe- und Schlusspunkt platziert wird. Würde man nun den aktuellen Stand der Fachdiskussion gegenlesen, könnte man an diesem Beispiel „Empowerment“ diskutieren: Wieviel Macht und wieviel Abhängigkeit wird als Nebenfolge produziert? Auf diese nun sicherlich irritierenden Szenen wäre ich gespannt.

Meine Lieblingsszene ist die der „Wir schaffen das Bros.“ (S. 215 ff.): Streetwork als 2-Player-Game… das trotzdem mit „game over“ endet. Das kann so natürlich nicht stehen gelassen werden. Der Misserfolg wird allein auf der Mikroebene verhandelt. Kontinuierliches Scheitern wird als individueller Kompetenzerwerb umgedeutet „und mit der Zeit kennen sie sich immer besser aus und wissen, wie sie da durchkommen“ (S. 219). Dass diese singuläre Fokussierung auf Verhaltensanpassung der Adressatinnen und Adressaten, bei aller Systemkritik, zur Übernahme einer aktivierungspädagogischen Haltung der Fachkräfte führt, die das so „absurd“ (ebd.) erscheinende System noch stützt (Kessl 2006, S. 225 f.), wird nicht klar.

Was deutlich geworden sein dürfte ist, dass das Genre der Graphic Novel mehr kann als nur eine präsentierte Geschichte nachzuerzählen. Gerade in der Verbindung mit gesichertem Fachwissen dürften sich wirklich erkenntnisgenerierende Impulse setzen lassen. Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann einen Comic-Workshop als sozialräumliche Supervisions- und Organisationsentwicklungsform, die die Ebene der Zielgruppen, der Fachkräfte, der Bewohnerinnen und Bewohner sowie der gesellschaftlichen und politischen Akteure einbezieht.

Fazit

Für jeden, für den Streetwork nur ein vager Begriff ist, ist die vorliegende Graphic Novel zu empfehlen. Straßenfunde bieten einen lebendigen Einblick in das Handlungsfeld der Straßensozialarbeit und stellt das in den Mittelpunkt, was Praktikerinnen und Praktiker in ihrer täglichen Arbeit bewegt. Es ist gut möglich, dass dieses Buch Streetwork stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit innerhalb der Sozialen Arbeit rückt. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall.

Literatur

Kessl, Fabian, 2006. Aktivierungspolitik statt wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistung? Das aktivierungspolitische Re-Arrangement der Bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe. In: Zeitschrift für Sozialreform. 2006(2), S. 217–232. ISSN 0514-2776

Rezension von
Maria Wolf
MA Soziale Arbeit
Lehrkraft für besondere Aufgaben, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Es gibt 18 Rezensionen von Maria Wolf.

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Zitiervorschlag
Maria Wolf. Rezension vom 30.11.2022 zu: Anne Zimmermann: Straßenfunde. Hirnkost Verlag (Berlin) 2022. ISBN 978-3-949452-62-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29619.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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