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Jürgen Budde, Torsten Eckermann (Hrsg.): Studienbuch pädagogische Praktiken

Rezensiert von Prof. Dr. Ulrich Papenkort, 07.02.2023

Cover Jürgen Budde, Torsten Eckermann (Hrsg.): Studienbuch pädagogische Praktiken ISBN 978-3-8252-5594-7

Jürgen Budde, Torsten Eckermann (Hrsg.): Studienbuch pädagogische Praktiken. UTB (Stuttgart) 2021. 264 Seiten. ISBN 978-3-8252-5594-7. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 29,50 sFr.
Reihe: UTB - Nr. 5594.

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Thema

Das als Sammelband verfasste „Studienbuch“ handelt von basalen Formen pädagogischer Praxis, die in anderen Einführungen z.B. „Grundformen pädagogischen Handelns“ genannt werden. Spätestens mit den praktisch-pädagogischen Büchern von Hermann Giesecke (Pädagogik als Beruf, 1987) und Bernhard Koring (Grundprobleme pädagogische Berufstätigkeit, 1992), theoretisch-pädagogisch ausgearbeitet in der Einführung von Klaus Prange und Gabriele Strobel-Eisele (Die Formen des pädagogischen Handelns, 2006), sind sie zum erziehungswissenschaftlichen Thema geworden. Dieter Nittel und Rudolf Tippelt (Pädagogische Organisationen, 2019) haben sie unter der Bezeichnung „pädagogische Kernaktivitäten“ empirisch-pädagogisch aufgegriffen.

Die Herausgeber des Studienbuchs sprechen wie in einer gleichnamigen Reihe des Kohlhammer-Verlags und einer Einführung von Jochen Kade et al. (Pädagogisches Wissen, 2011), aber im Unterschied zu ihnen vor einem bestimmten theoretischen Hintergrund von „pädagogischen Praktiken“. Der Hintergrund ist die teils soziologische, teils sozialphilosophische Praxistheorie (Andreas Reckwitz, 2003: Theorie sozialer Praktiken; Frank Hillebrandt, 2014: Soziologische Praxistheorien; Hilmer Schäfer, 2016: Praxistheorie). Es geht den Herausgeber*innen und Autor*innen um eine „Verknüpfung zwischen Praxistheorie und zentralen pädagogischen Begriffen wie z.B. Lernen, Vermitteln, Erziehen oder etwa Fürsorgen“ (S. 13).

Herausgeber

Jürgen Budde, Mitherausgeber der „Konturen praxistheoretischer Erziehungswissenschaft“ (2017), ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Theorie der Bildung, des Lehrens und Lernens an der Europa-Universität Flensburg, Torsten Eckermann Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Unterrichtsforschung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Entstehungshintergrund

Das „Studienbuch pädagogische Praktiken“ kann als Versuch verstanden werden, die bisher nur in der Forschung diskutierte soziologische und inzwischen auch erziehungswissenschaftliche Praxistheorie nun auch für die Lehre fruchtbar zu machen.

Aufbau

In einer Einleitung der beiden Herausgeber werden „Grundrisse einer Theorie pädagogischer Praktiken“ skizziert. Darauf folgen insgesamt neun Beiträge, in denen bestimmte pädagogische Praktiken thematisiert werden. Diese werden noch einmal zu drei Feldern gebündelt: I. Pädagogische Praktiken im schulischen Unterricht (Vermitteln, Bewerten, Unterrichten), II. Professionelle pädagogische Praktiken (Erziehen, Beraten, Organisieren, Fürsorgen) und III. Praktiken von Adressat:innen in pädagogischen Kontexten (Lernen, Üben).

Inhalt

Grundrisse einer Theorie pädagogischer Praktiken (Jürgen Budde, Torsten Eckermann)

2001 wurde in der Soziologie ein „practice turn“ (Theodore Schatzki et al.) ausgerufen, der als mesosoziologische Kompensation sowohl mikro- als auch makrosoziologischer Perspektiven verstanden werden kann. Grundbegriff der damit neu eingeleiteten Theoriekonzepte ist Praxis, nicht mehr, wie bisher (soziales) Handeln, Interaktion oder Kommunikation auf der einen oder Struktur auf der anderen Seite. Die beiden Autoren, zugleich Herausgeber des Studienbuches, sehen die Gemeinsamkeit der ansonsten durchaus unterschiedlichen Konzepte darin, dass sie neben ihrer Position des Sozialen zwischen (individuellem) Handeln und (kollektiver) Struktur mental das nicht nur (explizit) Intentionale, sondern mehr noch das (implizit) Funktionale der Praxis betonen und nicht nur das (mental) Geistige überhaupt, sondern mehr noch das (physisch) Körperliche, sowohl der betroffenen Menschen als auch der beteiligten natürlichen und künstlichen Dinge. Mit dem US-amerikanischen Soziologen Theodore Schatzki differenzieren sie Praxis insgesamt und im Einzelnen auf einer unteren Ebene in beobachtbare „Aktivitäten“ (und körperliche „Entitäten“), die sich auf einer mittleren Ebene zu verstehbaren „Praktiken“ (und körperlichen „Arrangements“) verbinden und auf einer höheren Ebene zu „Konstellationen“ aus „Praktiken-Arrangements-Bündeln“ erweitern. Zentrum der Praxis sind die Praktiken.

„Unter einer erziehungswissenschaftlichen Perspektivierung“, so die Autoren, „wären die einheimischen Grundbegriffe wie Erziehung … und Bildung … noch stärker praxistheoretisch zu fundieren… “ (S. 13). Dazu müssten sie jeweils als Praxis im eingeführten Sinne verstanden werden. Praxis ist dabei sehr viel weniger ein „soziologischer Theorieimport“ (S. 7) als (soziales) Handeln, Interaktion oder Kommunikation. Denn sowohl in der traditionellen Pädagogik als auch in der modernen Erziehungswissenschaft war und ist der Terminus „Praxis“ durchaus geläufig. Innerhalb der Praxis wäre pädagogisch auf der Ebene der Praktiken zusammen mit Entitäten, nicht der Aktivitäten ohne körperliche Arrangements (Interaktionen und/oder Kommunikationen) anzusetzen. Folgerichtig setzen die Autoren, auch als Herausgeber, bei den Grundformen pädagogischen Handelns an, die Praktiken entsprechen, nicht bei den pädagogischen Grundbegriffen, die sich eher auf Konstellationen beziehen. Und sie ziehen die sprachliche Konsequenz, die Praktiken als Verbalsubstantiva im Infinitiv zu formulieren (z.B. Unterrichten, Erziehen), nicht wie die Grundbegriffe bzw. Konstellationen im Stamm (z.B. Unterricht) oder mit angehängter Silbe (z.B. Erziehung).

Pädagogische Praktiken können in privaten und beruflichen Kontexten stattfinden. In beruflichen Kontexten sind pädagogische Praktiken und Kontexte nur lose aneinander gekoppelt. Es gibt pädagogische Praktiken auch in nichtpädagogischen und nichtpädagogische Praktiken in pädagogischen Kontexten.

Das Pädagogische der Praxis und ihrer Praktiken ist aber nicht soziologisch, sondern nur erziehungswissenschaftlich zu bestimmen. Die Autoren sehen es im Anschluss an Klaus Prange, aber in der Terminologie von Wolfgang Sünkel, in der „Relation von Vermittlung und Aneignung“ (S. 19).

Die folgenden Beiträge zu den verschiedenen Praktiken werden nur begrifflich aufgegriffen, auch wenn sie, was immer der Fall ist, auch thematische, empirische und methodologische Passagen enthalten.

Vermitteln (Till-Sebastian Idel)

Der Autor versteht das Vermitteln als die „Einheit der Differenz“ der Praktiken von Pädagog*innen markierende zentrale pädagogische Praxis, genauer als „Vermittlung zweiter Ordnung“ (S. 48), die Gegenstände nicht an, sondern mit Adressat*innen vermittelt. Er begreift das Vermitteln als „Geflecht von Praktiken des Erklärens und Bedeutens, des Demonstrierens und Vormachens, des Präsentierens und Darstellens, die … unter dem Oberbegriff des Zeigens versammelt werden“ können. Damit „werden Praktiken des Vermittelns als pädagogische Zeigepraktiken“ gefasst. Die übrigen Praktiken des Studienbuchs gelten ihm „als mit dem Zeigen in spezifischer Beziehung stehende Praktiken“ (S. 49). Für die Theorie des Zeigens rekurriert der Autor auf die operative Pädagogik Klaus Pranges (Die Zeigestruktur der Pädagogik, 2005; Die Formen pädagogischen Handelns, 2006, zusammen mit Gabriele Strobel-Eisele) und ihre konstruktive Kritik durch Norbert Ricken, für die Empirie des Zeigens, die er an drei Fällen exemplifiziert, auf den Ansatz der Lernkulturen (Sabine Reh et al., darunter er selbst, 2015).

Bewerten (Kerstin Rabenstein)

Das (Be-)Werten als „Grundoperation des Interessennehmens an der Welt“ (Roswitha Lehmann-Rommel, S. 77) – andere Einführungen sprechen vom „Beurteilen“ – ist einerseits „Bestandteil von Praktiken jeglicher Art“ in dem Sinne, dass sie und ihre Voraussetzungen und Ergebnisse laufend gewichtet werden (können). Andererseits ist sie eine eigenständige, wenn auch mit anderen Praktiken verknüpfte Praktik. Der Beitrag von Rabenstein ist der Praktik des (Be-)Wertens gewidmet, beschränkt sich aber auf den Kontext der Schule. Gemäß seinem Titel Leistung (Be-)Werten und dem schulischen Zusammenhang liegt der Fokus auf der Bewertung von Schüler- und da Prüfungsleistungen, die direkt mit den Praktiken des Lernens und Übens (s.u.) seitens der Schüler und indirekt der Praktik des Lehrens, also Unterrichtens (s.u.) seitens der Lehrer korrespondiert

Die Autorin spricht vom „Prüfen als 'Scharnier' zwischen Lehren und Lernen“ (S. 85) und widmet sich nach ihren „theoretischen Weichenstellungen“ (S. 77) der „Entstehung schulischer Bewertungspraktiken, ihren Verkettungen und ihrem Wandel“ (S. 84).

Unterrichten (Hedda Bennewitz)

Beim Unterrichten ist wie beim Erziehen eine Abgrenzung dieser zentralen Praktiken von den entsprechenden Grundbegriffen erforderlich. So schreibt die Autorin: „Unterricht ist der soziale Ort, an dem Schüler:innen von Lehrpersonen unterrichtet werden. Wenn Lehrerinnen und Lehrer dort handeln, dann wird alltagssprachlich davon gesprochen, dass sie unterrichten“ (S. 99). „Unterrichten“ wäre so synonym mit „Lehren“. Die Besonderheit sowohl des Unterrichts und damit auch des Unterrichtens sei, dass es stärker als andere pädagogische Praktiken „an die Vermittlung eines Inhalts gebunden ist“ (S. 102). Alles in allem versteht Bennewitz Unterrichten als „pädagogische Tätigkeit zur Gestaltung von Lehr-Lernprozessen“, die „in unterschiedliche Einzeltätigkeiten (wie planen, gestalten, usw.) untergliedert und zugleich von anderen pägagogischen Praktiken (wie Erziehen, Beraten, usw.) unterschieden werden kann“ (S. 102). Und wie bei den anderen Praktiken zeigt sich, „dass mit dem Begriff Unterrichten gar nicht genau erklärt werden kann was getan wird“ (S. 111). Das wäre nur auf der Ebene der korrespondierenden Aktivitäten möglich, denen auch Beobachtungsbegriffe und nicht nur theoretische Konstrukte entsprechen.

Erziehen (Jürgen Budde)

„Dass Praktiken des Erziehens einen zentralen Kern der Erziehungswissenschaft bilden, lässt sich bereits an ihrem Namen ablesen. Dennoch erscheint der Begriff innerhalb der Erziehungswissenschaft erstaunlich wenig gefüllt“ (S. 119). Mit diesen Sätzen eröffnet Budde seinen Beitrag zur Praktik des Erziehens. Er erinnert daran, dass Erziehung sowohl weit als „Oberbegriff für jedwede pädagogische Prozesse“ verstanden als auch enger auf die „Herstellung eines kollektiven Normhorizontes, wie immer dieser auch inhaltlich gefasst sein mag“ (S. 121) bezogen werden kann. Beim Erziehen als Praktik steht die zweite Bedeutung des Erziehungsbegriffs im Vordergrund. Und: „Im Unterschied zu einigen anderen Praktiken (beispielsweise des Unterrichtens) können Erziehungspraktiken weniger eindeutig auf einen institutionellen Kontext festgelegt werden“ (S. 121), auch wenn es am ehesten die Familie wäre. „Das Besondere familärer Erziehungspraktiken ist ihre Organisation als private Praxis, die von impliziten Erziehungsvorstellungen geleitet wird und mit Praktiken der Alltagsbewältigung sowie der Fürsorge verwoben sind“ (S. 122).

Nach einer weiteren thematischen Strukturierung nimmt der Autor eine „Relationierung zu anderen pädagogischen Praktiken“, genauer Grundbegiffen vor. Als pädagogischer Grundbegriff sei „Erziehung gleichsam eingespannt zwischen Sozialisation und Bildung“. Anders als Sozialisation seien für Erziehung „neben dem Verweis auf Intentionalität auch eine pädagogische Rahmung“ wesentlich. Zur Bildung markiert er den Unterschied wie folgt: „… dass Bildung eher auf Wissen bezogen ist und Erziehung eher auf Verhaltensregulation“. Dann „bilden bei Erziehung Normen und Werten den Gegenstand, der vermittelt wird, während Bildung an der Vermittlung von Sachverhalten orientiert ist“ (S. 130).

Beraten (Karin Bräu)

Beraten, ob im Alltag oder im Beruf, dort als Neben- oder als Kerngeschäft, definiert Bräu nach einem Vorschlag von Volker Kraft „als eine Situation, in der mindestens zwei Personen, die komplementäre Rollen einnehmen (Ratsuchender/​Klient – Ratgeber/​Berater) [interagieren; K.B.], und ein Problem, für dessen Lösung der Ratsuchende derzeit keine Handlungsalternative zur Verfügung hat, bearbeiten“ (S. 147). Das Pädagogische einer Beratung könne in zweierlei Hinsicht markiert werden: institutionell als Beratung durch Pädagog*innen und/oder in pädagogischen Einrichtungen, praktisch als pädagogisches Handeln in der Art und Weise einer Beratung, also als pädagogische, in diesem Falle individuelle und partizipative Praktik. Aus einer dritten Perspektive sei jede Beratung per se pädagogisch, weil Beratungssituationen Lernsituationen (S. 149) darstellen, wobei ein im Sinne von Carl Rogers signifikantes Lernen gemeint ist. „Bei all diesen Charakterisierungen wird deutlich, dass sich das Pädagogische von Beratung letztlich v.a. darin bestimmen lässt, es auf andere pädagogische Begriffe wie Bildung, Lernen, Selbsterziehung oder Mündigkeit zu beziehen…“ (S. 152).

Für die pädagogische Praktik der Beratung greift die Autorin auf ein empirisch sprachwissenschaftliches gewonnenes Handlungsschema zurück, das einen Ablauf von der Situationseröffung mit Instanzeinsetzung über die Problempräsentation, das Entwickeln einer Problemsicht, die Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung bis zur Situationsauflösung (S. 156) reicht.

Organisieren (Nicolas Engel)

Organisieren ist zunächst eine bei allen bewussten Praktiken und in allen Organisationen vorfindliche und erforderliche betriebliche Praktik des Planens von Abläufen und des Aufbaus von Organisationen. Insofern ist Organisieren eine inhaltlich unspezifische Praktik bzw. eine auf andere Praktiken gerichtete Metapraktik. Pädagogisch in einem weiten Sinne ist sie erst, wenn die zu organisierende Praktik als pädagogisch gilt (z.B. Unterrichten, Erziehen), wenigstens das Personal und/oder die Organisation. In einem engen Sinne kann erst dann von einer pädagogischen Praktik gesprochen werden, wenn die Art und Weise des Organisierens, worauf sich die Organisationspädagogik bezieht, pädagogisch verstehbar ist. „So geht es nicht nur um ein Lernen in Organisationen, dass durch Praktiken des Organisierens instituiert und unterstützt wird, sondern immer auch um ein Lernen der Organisation als Sozialgebilde, dem eine Veränderung der Praktiken des Organisierens zugrundeliegt“ (S. 173). Engel unterscheidet dazu empirisch gewonnen vier Varianten (S. 183) des Organisierens: reorganisieren, deorganisieren, umorganisieren und anders organisieren.

Fürsorgen (Birgit Althaus)

Der vollständige Titel des Beitrags lautet „Fürsorgen – eine pädagogische Praktik?“. Damit stellt die Autorin schon die Frage der pädagogischen Eigenart, die auch für die Beiträge zum Beraten und Organisieren relevant ist. Dabei verwendet sie den Ausdruck Fürsorge explizit synonym zum englischen, wissenschaftlich eingeführten Wort care, implizit zur deutschen, politisch und rechtlich üblichen Bezeichnung Betreuung. Gemeint ist die Praktik des Fürsorgens unabhängig davon, ob sie privat, ehrenamtlich oder beruflich erbracht wird, in allen Fällen mehrheitlich von Frauen und beruflich gering entlohnt. Die Frage, ob und in welcher Weise Fürsorgen auch unabhängig von ihrer Verwobenheit mit dem Erziehen und der gemeinsamen Zielgruppe der Kinder als pädagogisch gelten kann, beantwortet Althaus nicht explizit.

Lernen (Larissa Schindler)

Mit dem Begriff des Lernens, auch mit dem des Übens, wechselt die Blickrichtung in der pädagogischen Interaktion. „Anders als viele andere Grundbegriffe wie Erziehen, Unterrichten oder Vermitteln bezeichnet er nicht das Weitergeben von Wissen oder Kenntnis an Andere, sondern das eigene Erarbeiten… Der Begriff setzt also gewissermaßen an der anderen Seite pädagogischer Prozesse an, indem er Lernende, nicht Lehrende oder Erziehende in den Fokus … setzt“ (S. 224). Lernen im Sinne einer Praktik unterscheidet sich von einem üblichen Verständnis, indem der Vorgang und nicht das Ergebnis im Fokus steht und dieser Vorgang nicht nur individuell, sondern auch sozial, nicht nur psychisch, sondern auch physisch und nicht nur kognitiv, sondern auch emotional aufgefasst wird. Unterschieden werden zwei (idealtypische) Fälle des Lernens, das „Lernen in expliziten, eigens dafür geschaffenen Lernräumen und jenes im Rahmen alltäglichen Tuns. Explizite Lernräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Aktivität des Lernens von der zu erlernenden Praktik trennen“ (S. 227).

Üben (Kristina Brümmer und Thomas Alkemeyer)

Der vollständige Titel des Beitrags lautet Üben und Trainieren. Beiden Praktiken ist gemeinsam, dass sie sich „erstens immer in der wiederholenden Ausführung bestimmter Aktivitäten realisieren und zweitens auf den Erwerb sowie den Erhalt eines spezifischen Könnens zielen“ (S. 240). Üben und Trainieren verstehen die Autoren nicht als körperliches Pendant zu einem geistigen Lernen, sondern als besonderen Teil eines weit gefassten Lernens, der sich auf ein Können, nicht auf ein Wissen bezieht. „Praxistheoretisch ließe sich das Üben als eigener Typ von Praktiken untersuchen, der auf spezifische Weise auf andere Praktiken (Zielpraktiken) hin ausgerichtet ist“ (S. 243).

„Training … bezeichnet im üblichen Sprachgebrauch Prozesse einer außengesteuert zielgerichteten Schulung, die mit Disziplinierungen und Normierungen einhergehen. 'Üben' steht hingegen eher für Praktiken, in denen Menschen sich selber schulen, um sich eine bestimmte Form zu geben, sich umzuformen oder in vielerlei Hinsicht zu verbessern“ (S. 258). Man kann jemanden trainieren, aber nur sich oder etwas üben. Während das Üben wie das Lernen auch „beiläufig und implizit“ erfolgen kann, indem das „Ausüben einer Praktik auch ein Einüben eben dieser Praktik“ ist, geschieht das Trainieren immer explizit.

Diskussion

Da eine kritische Würdigung der Einzelbeiträge den gegebenen Rahmen sprengen würde, beschränke ich mich auf die Ebene des Sammelbandes.

Die Herausgeber erklären nicht, ob sie die Liste der neun Praktiken für vollständig erachten und warum sie gerade diese aufgegriffen haben. In der schon erwähnten Reihe des Kohlhammer-Verlags und einer anderen Einführung (Jochen Kade et al.; Pädagogische Wissen, 2011) werden teilweise gleiche oder wenigstens vergleichbare Praktiken genannt, wobei in der Buchreihe dem Vermitteln allgemein das Zeigen, didaktisch eingegrenzt Lehren und Unterrichten entsprechen (noch unveröffentlicht: Beurteilen, Erziehen, Fördern, Helfen, Strafen), in der Einführung dem Unterrichten das Lehren, dem Bewerten das Evaluieren, dem Erziehen das Disziplinieren und dem Fürsorgen das Helfen. Die Begriffe aus der Einführung sind vom Evaluieren abgesehen insofern vielleicht geeigneter, als es nicht zu Verwechslungen mit den Grundbegriffen Unterricht, Erziehung und Fürsorge kommen kann. Im Studienbuch fehlt das Arrangieren aus der Reihe, während die Praktiken aus dem Studienbuch so oder ähnlich in Reihe und Einführung zusammen vollständig aufgegriffen werden.

Die der Konstellation der Bildung korrespondierende Praktik des (Sich-)Bildens wird weder im Studienbuch noch in der Reihe oder Einführung thematisiert, könnte aber als Unterrichten bzw. Lehren (Bilden) und als Lernen (Sich-Bilden) mitgemeint sein. Ebenfalls für alle drei Bücher gilt, dass nicht klar genug zwischen genuin pädagogischen und nur unter bestimmten Perspektiven pädagogischen Praktiken (Beraten, Fürsorgen, Organisieren) unterschieden wird. Beim Organisieren wird die Möglichkeit übersehen, indirekte pädagogische Praktiken wie das Arrangieren (s.o.) im Zusammenhang dieser Praktik zu thematisieren.

Die ersten beiden strukturierenden Überschriften für die verschiedenen Praktiken (I. Pädagogische Praktiken um schulischen Unterricht, II. Professionelle pädagogische Praktiken), die korrespondierend zu III (Praktiken von Adressat:innen) zusammen auch Praktiken von Pädagog:innen hätten heißen können, sind nicht trennscharf formuliert. Unterrichtspraktiken sind auch professionell. Die Zuordnung von Praktiken zu den ersten beiden Überschriften überzeugt insofern nicht, als das Vermitteln auch zu II. und das Beraten und Organisieren auch zu III. passt.

Das Vermitteln wäre praxistheoretisch nach Schatzki wohl besser als Konstellation denn als Praktik zu verstehen. Dazu, aber auch sonst, müsste es aber mit dem korrespondierenden Aneignen der Adressat*innen verbunden werden, da erst beide Praktiken zusammen, mit den Worten Wolfgang Sünkels das Vermitteln und Aneignen und mit denen Klaus Pranges das Zeigen und Lernen, das Pädagogische entstehen lassen.

Fazit

Das „Studienbuch pädagogische Praktiken“ bietet einen sehr guten Einblick in die Vielfalt pädagogischen Handeln. Es bleibt aber dem Leser überlassen, diese Vielfalt angemessen zu strukturieren.

Rezension von
Prof. Dr. Ulrich Papenkort
Professur für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Mainz
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Zitiervorschlag
Ulrich Papenkort. Rezension vom 07.02.2023 zu: Jürgen Budde, Torsten Eckermann (Hrsg.): Studienbuch pädagogische Praktiken. UTB (Stuttgart) 2021. ISBN 978-3-8252-5594-7. Reihe: UTB - Nr. 5594. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29621.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.


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