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Christian Kroll: Mehr Ethik durch multirationales Management

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 21.09.2022

Cover Christian Kroll: Mehr Ethik durch multirationales Management ISBN 978-3-7841-3324-9

Christian Kroll: Mehr Ethik durch multirationales Management. Sozial- und unternehmensethische Potenziale einer neuen ökonomischen Denkschule. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2022. 140 Seiten. ISBN 978-3-7841-3324-9. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Reihe: Identität und Auftrag - Band 7.

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Entstehungshintergrund und Thema

Die theologische Abschlussarbeit des Autors, eingereicht an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, bildet die Grundlage des Buches, das sich mit der St. Gallener Denkschule des Multirationalen Management (MRM) beschäftigt. Nach einer Weiterentwicklung der Arbeit, erschien es, wie der Autor in seinem Vorwort (S. 12-14) schreibt, als Band 7 der Reihe „Identität und Auftrag“, herausgegeben von Michael Fischer, einem Betreuer der Qualifikationsarbeit und dem Verfasser des Geleitworts (S. 10-11).

Autor

Christian Kroll promoviert im Bereich der Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Mannheim und am Wittenberg Zentrum für Globale Ethik. Er absolvierte den Magister Theologie sowie das Diplom für Christliche Sozialwissenschaften an der WWU Münster, den M.Sc. in Management an der Durham University und einen M.Sc. in Volkswirtschaftslehre. Bereits seit Beginn des Studiums engagiert sich der Autor im student network for ethics in economics and practice (sneep e.V.) und ist aktuell Mitglied des Vorstands.

Aufbau und Inhalt

Der Aufbau des Buches folgt der Logik einer Qualifikationsarbeit und wird – nach der Einführung – zudem dreigeteilt in die Abfolge des sozialethischen Dreischritts: Sehen-Urteilen-Handeln.

Zur Einführung gehören Einleitung und Grundlagen:

  • In der Einleitung wird das Konzept des Multirationalen Managements (MRM) des Autorenduos Kuno Schedler und Johannes Rüegg-Stürm von der Universität St. Gallen kurz skizziert, die mit der Hypothese antreten, dass ein rein auf ökonomische Rationalität fixiertes Management den Ansprüchen einer funktional-differenzierten Gesellschaft nicht mehr genügen kann. Christian Kroll untersucht diesen Ansatz daraufhin, ob das Konzept allein wegen der Öffnung der Perspektive auf andere, ggf. widersprüchliche Rationalitäten innerhalb resp. außerhalb einer Organisation sozialethischen Ansprüchen, wie sie in Einrichtungen von Diakonie und Caritas unterstellt werden, genügen kann. Darüber hinaus erläutert er die Gliederung der Arbeit.
  • Die Grundlagen umfassen im ersten Abschnitt kurze Klärungen der drei am stärksten tangierten Referenzdisziplinen: die christliche Sozial- und Wirtschaftsethik, die Management- und die Rationalitätsforschung. Daneben wird in die induktive methodische Vorgehensweise einer praxis- und literaturbasierten Reflexion des sozialethischen Dreischritts eingeführt und die Sozialprinzipien (Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit) werden als normative Beurteilungskriterien vorgestellt. Schließlich wird ein konfessionelles Krankenhaus als Fallbeispiel skizziert, auf das immer wieder Bezug genommen wird.

Im Analyseschritt Sehen werden die multiplen Rationalitäten als Herausforderung (Problem) und Lösungsansatz abgearbeitet.

  • Mit Bezug auf die Vertreter des Multirationalen Ansatzes zeigt Christian Kroll als Herausforderungen auf, welche Pluralität von Rationalitäten innerhalb von Organisationen infolge der spezifischen Sinngemeinschaften (z.B. von Berufsgruppen) herrscht, die jeweils bei Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Zudem sind die Einrichtungen verschiedenen Umweltsphären (Medizin, Wirtschaft, Recht, Religion) ausgesetzt, mit Stakeholder-Erwartungen konfrontiert und in sich nicht mehr monolithisch, bisweilen eingebettet in hybride Unternehmens-Formen.
  • Der Lösungsvorschlag der Theorie des MRMs beginnt mit der Idee des Buches von Schedler und Rüegg-Stürm, die Strukturbedingungen pluralistischer Organisationen zu erklären, sie lesen und reflektieren zu können und schließlich auch eine multirationale Kompetenz zu erwerben. Diversität im Umgang mit Multirationalität wird als wertneutral grundgelegt. Ein Fokus des MRMs richtet sich auf die Rolle des Managements und Fragen von Macht und Einfluss unter den Gegebenheiten einer VUCA-Welt. Statt monorationaler Entscheidungen dehnen sich die Spielräume aus und beziehen verschiedene Logiken mit in den Prozess ein. Der zweite Fokus gilt der multirationalen Kompetenz, nämlich divergierende Rationalitäten zu erkennen, Konflikte zu benennen und zwischen den Rationalitäten übersetzen zu können. Wirtschaftliches Handeln in multirationalen Organisationen unterscheidet sich dadurch von monorationalen, ob sie unbewusst oder bewusst auf die diversen Rationalitäten eingehen. Toleranz und Akzeptanz multirationaler Muster bedeutet eine intuitive und implizite Vermittlung zwischen Rationalitätskonflikten, wobei die Ursachen nur oberflächlich wahrgenommen und nicht angegangen werden. Nur eine multirationale Kompetenz befähigt auch zum multirationalen Handeln und macht die Multirationalität auch für die Organisation fruchtbar. Instrumente kompetenten Handelns im MRM müssen die Rationalitäten gleichberechtigt behandeln, zwischen ihnen vermitteln, Konventionen oder Verhandlungssysteme schaffen, wie ein interrationaler Diskurs stattfinden und gefördert werden kann, alternative Rationalitäten in die Entscheidungsfindung einbeziehen, für Abhängigkeiten sensibilisieren und sie anerkennen. Alle anderen Handlungsalternativen, wie z.B. Vermeidung und Ignoranz, Isolation und Polarisierung bzw. Toleranz und Akzeptanz entsprechen nicht den erstgenannten Anforderungen.

Im Analyseschritt Urteilen werden die Vor- und Nachteile des MRMs zunächst reflektiert und danach fünf Spannungsfelder diskutiert.

  • Reflektiert werden grundlegende Aspekte, um den Ansatz des MRM überhaupt als für karitative und diakonische Organisationen in Frage kommend einzutaxieren. Die erste Frage besteht darin, ob Multirationalität als Dauer- oder Übergangsphänomen konzipiert ist. Während die Vertreter sich nicht explizit zur Dauerhaftigkeit positionieren, erachtet Kroll diese in einer pluralistischen Organisation wie einem Krankenhaus als gegeben an. Mit der zweiten Frage wird geprüft, ob MRM „blinde Flecken“ vermeidet oder sie eher als „zwecklose Verkomplizierung“ (S. 69) erachtet. Übereinstimmend wird MRM trotz eines erhöhten Ressourceneinsatzes als risikominimierend und adaptions- wie innovationsfördernd eingeschätzt. Die dritte Frage zielt auf Aufwand und Ertrag der Einbeziehung von Stakeholdern: Sie gilt als qualitätsfördernd, kann pauschal aber nur vom jeweiligen Management beantwortet werden. Mit der vierten Frage wird die Bedeutung des MRM für die Managementforschung eruiert, die unzweifelhaft vorhanden ist, aber nach Ansicht der Gründer noch auf den „Nischen-Bereich pluralistischer Organisationen“ (S. 73) beschränkt sei.
  • Mithilfe ausgewählter christlicher Sozialprinzipien werden fünf Spannungsfelder des MRM beurteilt. Hinsichtlich des Spannungsfeldes (1) „Person versus Funktion“ ist festzuhalten, dass das MRM den Menschen stärker fokussiert, aber nicht klärt, welche Stakeholder in welchem Umfang und mit welcher Entscheidungskompetenz zu beteiligen sind. Das breite Spannungsfeld (2) „Komplexität vermeiden oder steuern“ wird nur dann mit dem MRM sozialethisch vertretbar gelöst, wenn die Multirationalität nicht ignoriert, polarisiert, toleriert oder isoliert, sondern explizit mit entsprechender Managementkompetenz praktiziert und gefördert wird. Zum Spannungsfeld (3) „demokratisch-partizipativ versus zentralistisch-exklusiv“ ist zu sagen, dass MRM als Mittelweg für den unternehmerischen Alltag praktikabel erscheint, weil die verschiedenen Rationalitäten gehört und einbezogen werden, damit mehr Partizipation und Demokratisierung ermöglichen. Hinsichtlich des Spannungsfeldes (4) „Pragmatismus versus Idealismus“ ist festzuhalten, dass der MRM-Ansatz Sichtweisen verschiedener Sinngemeinschaften berücksichtigt, jedoch keine festen Kriterien für eine Beurteilung bietet, was aus Sicht der Sozialethik ein Manko darstellt, da keine Wertebasis existiert, wonach das Handeln auszurichten ist. Ganz dezidiert wird dies im Spannungsfeld (5) „ethische Verbindlichkeit versus Relativismus“ deutlich. Das MRM ist werterelativ, verfolgt also keinen Kanon an Ziel- und Idealvorstellungen und würde, um für wertebasierte Organisationen tragfähig zu sein, sozialethische Kriterien wie z.B. Subsidiarität, Personalität, Solidarität und Gerechtigkeit oder andere ethisch-theologische Kriterien benötigen.

Im Abschnitt Handeln werden sozial- und unternehmensethische Potenziale des MRM dargelegt, aufgeteilt in Implikationen für Wissenschaft und Bildung und Implikationen für die Praxis.

  • Aus der Beurteilung des MRMs werden vier Handlungsimplikationen für Wissenschaft und Bildung abgeleitet: (1) vor dem Einsatz des MRM in karitativ-diakonischen Einrichtungen müsste eine sozialethische Fundierung der Denkschule (wie sie z.B. mit der Publikation befördert wird,) erfolgen. Die Verknüpfung des MRM mit wirtschaftsethischen Ansätzen (z.B. der Prozess- oder Governance-Ethik, Sozialpartnerschaft) ist eine weitere Implikation (2). MRM beinhaltet das Potenzial, monorationale Sichtweisen (z.B. rein ökonomischer Fokus) zu transformieren und kann eine neue Art von Management und Managementforschung anstoßen (3). Sodann schlummert im MRM ein Potenzial, multirationale Kompetenz über Aus- und Fortbildung von Führungskräften und Mitarbeitenden zu fördern (4).
  • Als Implikationen für die Praxis (abgestimmt auf das eingangs genannte Fallbeispiel) identifiziert der Autor (1) geeignete und legitime Managementstile, die interne wie externe Stakeholder und Sinngemeinschaften demokratisch und partizipativ einbeziehen. Als zentrale Elemente multirational kompetenter Umgangsformen (2) sind u.a. eine offene Gesprächskultur, Irritationstoleranz, eine Übersetzungskompetenz zwischen den Sinngemeinschaften und die Fähigkeit zur Vermittlung zwischen den Rationalitäten zu nennen. Um den Anforderungen eines MRMs gerecht zu werden, sind eine entsprechende Kontextsteuerung und Kommunikationsplattformen (Management-Architektur) erforderlich (3). Schließlich benötigt die Prozesssteuerung über das MRM ethische Ziele in Form von Leitbildern als inhaltliche Anker, woran sich auch das Qualitätsmanagement ausrichten kann (4).

Im Fazit und Ausblick des Buches rekapituliert Christian Kroll die Antworten auf seine Frage „Mehr Ethik durch Multirationales Management?“, die er in seiner Abhandlung gefunden hat. Das MRM ist eine neue Denktradition, die sich für plurale Organisationen eignet, der Komplexität von Sinngemeinschaften weit angemessener ist als klassische Allein-Entscheidungen, jedoch auf konfessionelle Einrichtungen nur insofern übertragbar ist, als eine sozialethische Verankerung addiert wird. MRM allein garantiert nicht mehr Ethik!

Am Ende des Buches sind die Literatur und Angaben zum Autor zu finden.

Diskussion

Der Ansatz des MRMs wird, neben anderen aktuellen Managementansätzen, in Handbüchern und Readern vermehrt erwähnt. Es braucht spezifischer Vorkenntnisse, um seine Ursprünge in der St. Gallener ökonomischen Denkschule zu finden. Dem MRM-Ansatz wird deshalb Bedeutung attestiert, weil er eine nur auf die ökonomische Rationalität fokussierte und managerentscheidungszentrierte Unternehmungsleitung revolutionierte. Dass diese orchestrierte Einbeziehung anderer (als ökonomischer) Sinngemeinschaften zu mehr Ausgewogenheit und Angemessenheit binnenorganisatorischer Entscheidungen führt und ebenso eine Reaktion auf die nicht immer zielkongruenten, sondern unterschiedlichen Erwartungen von außen darstellen, die Flexibilität, angemessene und „kundenkompatible“, z.T. nicht komplett normierte Reaktionen verlangen, hat sich als profilbildendes und auch wettbewerbsvorteilhaftes wirtschaftliches Handeln erwiesen. So gesehen verdiente sich der Ansatz in wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen Aufmerksamkeit und schwappte auch auf die Sozialwirtschaft über. Das Gewand der Multirationalität, welches der Denkschule Anerkennung bescherte, gefällt auf den ersten Blick. Dass damit keineswegs gesichert ist, eine andere als eine monorationale Entscheidung zu treffen oder im Zweifelsfall andere Stimmen zu überhören oder zu unterdrücken, entpuppt sich erst auf den zweiten Blick. Eine dritte Ebene mahnt der Autor mit seinem Buch an: Entscheidungsoptionen ohne Kompass, ohne ethische Legitimation oder ohne Verbindlichkeit für die Sinngemeinschaften, können beliebig ausgehen und richtungslos sein. Deshalb sind die vorliegende Analyse und die Bewertung des MRM so wichtig, sie offenbaren, was nötig ist, um MRM zielbezogen zu implementieren und zu praktizieren. Welcher Wertekanon letztlich zugrunde gelegt wird, entscheiden wertebezogene Unternehmen in der Sozialbranche (und nicht nur in dieser) für sich. Die Werte sind aber das, womit MRM gesteuert werden kann, womit Ausgleich und Verständigung mittels Übersetzungsarbeit angestoßen werden. Es ist zu bedauern, dass in der Sozialwirtschaft nach wie vor die ökonomischen Ansätze aufgesogen werden, um sie nachzujustieren. Es bleibt zu wünschen, dass die Organisationen der Sozialbranche angesichts der Besonderheiten der Dienstleistungserstellung selbstbestimmt Management-Ansätze formulieren, die per se sozialethische Prinzipien wie z.B. Personenbezug, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit u.a.m. implizieren. Der vorliegende Band von Christian Kroll macht insofern Mut nach mehr, weil die Qualität der Weiterentwicklung des MRM, wie in diesem Buch vorgeführt, branchenspezifisch interessante Resultate zeitigen kann.

Dieses Buch öffnet die Augen, relativiert die Reichweite des MRM, zeigt Wege auf, es auf konfessionelle Organisationen zu übertragen, liefert dank des durchgängigen Praxisbeispiels viele Ideen für eine Implementierung, ohne dabei in Details zu gehen, die sowieso institutionenspezifisch ausgestaltet werden müssen.

Der Absicht des Autors, Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen der konfessionellen Praxis zu adressieren, ist zuzustimmen. Aufgrund der sehr differenzierten Analyse des Ansatzes des MRMs sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse noch gravierender als die Hinweise für die Praxis.

Irritierend ist, dass der Text im Blocksatz gehalten ist und offensichtlich ohne Silbentrennung auskommen wollte.

Fazit

Der Band ist vor allem management-verantwortlichen Personen in den o.g. Einrichtungen sehr zu empfehlen – gerade weil Ansprüche „entzaubert“ werden.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 84 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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ISSN 2190-9245