Kai von Klitzing: Vernachlässigung
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 29.08.2022

Kai von Klitzing: Vernachlässigung. Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten Kindern. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 296 Seiten. ISBN 978-3-608-98089-9. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Thema
Die Vernachlässigung von Kindern ist eines der größten humanitären Probleme der Gegenwart in Deutschland [1]. Kai von Klitzing setzt sich in seinem neuen Buch differenziert damit auseinandersetzt. Ein wichtiger Grund für diese prekäre Lage ist das Scheitern der Kooperation zwischen Jugendhilfesektor und Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie. Von Klitzing bedenkt neue Wege und stellt im zweiten Hälfte des Buches eine innovative psychodynamische Kurztherapie für verwahrloste Kinder und ihre Eltern vor. Die Hauptvoraussetzung für die Wirksamkeit dieser Behandlung, die in Leipzig und München exemplarisch erprobt und implementiert wurde, ist die vom Jugendhilfesektor zu gewährende Sicherheit des Kindes vor weiteren Übergriffen bzw. vor Vernachlässigung. Das wird vor allem durch eine sehr fortgeschrittene Form der Kooperation zwischen den Leistungserbringern erreicht. Ein ausführliches Glossar erklärt die medizinischen und psychoanalytischen Begriffe.
Autor
Kai von Klitzing, geborgen 1954 in Aachen, studierte von 1974 bis 1980 Medizin an der Uni Freiburg, wo er 1981 promoviert wurde. Er arbeitete von 1982 bis 1986 als Assistenzarzt vorwiegend am Landeskrankenhaus Weißenau, in der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. 1987 übernahm er eine Oberarzt- und später die leitende Arztstelle an der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Basel unter Leitung Dieter Bürgins, der zu seinem professionellen Mentor wurde. An der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse absolvierte er seine psychoanalytische Ausbildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und habilitierte 1997 zum Thema „Frühe Kindesentwicklung und Familienbeziehung“ an der Uni Basel. Dort wurde er 2000 zum außerordentlichen Professor berufen. Von 2006 bis 2021 war von Klitzing Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes und Jugendalters an der Universität Leipzig sowie 2016/20 Präsident der World Association for Infant Mental Health. Er ist Mit-Herausgeber des Infant Mental Health Journals und der Zeitschrift Kinderanalyse.
Entstehungshintergrund
Von Klitzing untersucht als eines Hauptprobleme des Dilemmas in diesem Bereich das mehr oder weniger komplette Scheitern der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe (SGB VIII) und Kinder- und Jugendpsychiatrie/​Psychotherapie (vgl. z.B. Kießling und Flor 2019). Er benennt historische Gründe für das sehr weitgehende Elternrecht in Deutschland (zwei Diktaturen, die den Eltern ihre Kinder nach Belieben entzog), und kritisiert die dagegen wenig ausgestaltete Verpflichtung zur elterlichen Sorge. Kinderschutzinterventionen würden meist zu spät und zu wenig konsequent erfolgen, ambulante Hilfen seien oft wirkungslos und zu wenig koordiniert. Die Psychiatrie werde vor allem als Notunterkunft missbraucht, wenn Unterbringungen scheitern, was die Regel sei. Bindungstraumatisierte Kinder würden so – reinszenierend – von einer insuffizienten Unterbringung zur nächsten verschoben ohne dass ihnen Entwicklung in einer sicheren Bindung ermöglicht würde, wodurch das Problem für das einzelne betroffene Kind immer aussichtsloser werde. Es gebe wohl keine andere Gesellschaft als die deutschsprachigen Länder, die mit so großem Mitteleinsatz ein derart insuffizientes Ergebnis produzieren würden. Tsokos und Guddat sprechen aus der Perspektive der sprechen von Zweihundertausend misshandelten Kindern im Jahr in Deutschland.
Inhalt
Exemplarisch werden nachfolgend die Kapitel 1, 2, 6, 9 und 10 vorgestellt:
Kapitel 1: Ein Fall aus der Praxis
Besonders dieser Fall (eine Sandra genannte Fünfjährige, S. 19–22) ist sehr berührend, weil er auf geradezu verstörende Weise das Scheitern der Bemühungen hoch qualifizierter Expert:innen in der angemessenen Platzierung eines verlassenen Kindes verdeutlicht. Der Autor spricht von einem Wiederholungszwang, der unbewusst die Reinszenierung des immer gleichen Beziehungstraumas perpetuiere. Weitere Fallbeschreibungen machen den Text sehr anschaulich:
- Laura (12 Monate alt) S. 46–48 und 63–66,
- Kevin (16 Jahre alt) S. 87–91,
- H. (8 Jahre alt) S. 115–119,
- Jürgen (6 Jahre alt) S. 190–191,
- Monica (5 Jahre alt) S. 202–204,
- Jo (6 Jahre alt) S. 229–231.
Kapitel 2: Die vernachlässigte Epidemie: Definitionen, Formen, Prävalenz
Von Klitzing zeigt auf, dass selbst in den wohlhabenden Staaten des globalen „Nordens“ mehr als 10 % aller Kinder unter einer oder mehren Formen der Verwahrlosung der Misshandlung oder der sexualisierten Gewalt leiden, obwohl in diesen Gesellschaften häufig beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt werden um genau das zu verhindern.
Kapitel 6 Vernachlässigte Kinder in der Jugendhilfesektor
Keineswegs banal ist die Situation der Jugendämter: Sie sind in einem janusköpfigen Mehrfachmandat eingesperrt, innerhalb dessen sie einerseits die Erziehungsaufsicht gewährleisten sollen und andererseits den Prozess der Hilfen zur Erziehung organisieren (wozu sie ein Vertrauen der Sorgeberechtigten benötigen). Sie unterliegen zum anderen einer Aufsicht durch die Justiz, die dazu tendiert die Elternrechte überzubetonen (z.B. in der Durchsetzung des Wechselmodells). Gleichzeitig soll das Jugendamt als Fachdienst z.B. mit der Psychiatrie kooperieren, die wieder anderen Zwängen unterliegt.
Kapitel 9: Kinderschutz, Betreuung und Hilfen zur Erziehung
In diesem Kapitel sieht der Autor über Grenzen hinaus und beschreibt, wie Kinder unter sehr viel prekäreren Bedingungen wirksam geschützt werden können. Ausführlicher wird das St. Petersburg Projekt vorgestellt (S. 133), bei dem es gelang, nicht nur die Betreuung für viele Kinder zu verbessern, sondern auch noch eine Untersuchung über die Wirksamkeit zwischen drei Formen der Betreuung von Kindern die nicht in ihren Familien leben können auf die Beine zu stellen.
Kapitel 10: Individualisierte Kind- und Elternorientierte Therapie (iKET)
Hier beschreibt von Klitzing bis in den Ablauf der einzelnen Therapiestunden hinein das Vorgehen der Therapeut:innen in den Eltern- und Kinderstunden, aber auch das Thema intersektoraler Besprechungen mit dem zuständigen Fachdienst im Jugendamt, Familien- und Schulhelfern, Lehrern usw. Der eigentlich therapeutische Teil lehnt sich sehr am (PaKT- Manual) von Göttgen und Klitzing von 2015 an, wo mehr Raum zur Verfügung steht. Das iKET-Kapitel ist so verdichtet, dass zuweilen der Eindruck entsteht, es handele sich um einen Prüfungstext für das höchste Sprachverständnis. Eine separate Veröffentlichung auf größeren Raum würde Sinn machen.
Diskussion
Seit dem Film „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt aus dem Jahr 2019 hat auch die breite Öffentlichkeit das Problem des Scheiterns der Jugendhilfe in Deutschland zur Kenntnis genommen. Der Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Kai von Klitzing hat diesem Thema ein eindringliches Buch gewidmet.
Von Klitzing ist vor allem stationär tätig, obwohl er seine eigene, von Dieter Bürgin supervidierte analytische Ausbildungsbehandlung mit einen emotional verwahrlosten Jungen an der Uniklinik in Basel ausführlich beschreibt (eine Behandlung mit vier Wochenstunden über 3 Jahre, also ca. 500 Stunden – zum Vergleich: In Deutschland ist die Höchstgrenze für analytische Kindertherapie nach Psychotherapierichtlinie 150 Stunden (H.,zu Beginn 8 Jahre alt), stationärer Aufenthalt mehr als ein Jahr, danach Unterbringung in einer kompetenten Jugendhilfeeinrichtung, die den Kontakt zum Behandler durch 14-tägige Sitzungen gewährleistet. Diese Bedingungen können aus deutscher Perspektive nur als idyllisch beschrieben werden, eine Darstellung avancierter Praxis in Deutschland findet sich bei Kreft/Köpp und Kernberg 2014).
Man kann von Klitzing keineswegs vorwerfen, er würde sich im akademischen Elfenbeinturm verstecken. In Leipzig realisiert er sowohl die Kooperation mit einer eigens dafür weiterentwickelten Jugendhilfeeinrichtung [2] und entwickelt auch Standards für die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie. Die „Individualisierte Kind- und Elternorientierte Therapie (iKET)“ stellt das Manual einer Fokaltherapie dar, das außerordentlich hohe Standards für die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Kinderpsychotherapie beschreibt. Ein Nachteil dieser Vorschläge ist, dass die Gebührenordnung für Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen eine derartige Kooperation nicht vorsieht; zumindest die Akteur:innen im SGB V Sektor müssen im klinischen Alltag diese Kooperation ehrenamtlich leisten.
Die Wahrnehmung des Jugendhilfesektors als Problemträger bereitet mir Bauchschmerzen. Zwar ist dem Urteil von Klitzings in allen Punkten zuzustimmen, allerdings gibt es im sozialpädagogischen Feld seit Jahrzehnten Aktivitäten, diesen Missstand zu verändern, angefangen mit den Aktivitäten August Aichhorns, Siegfried Bernfelds und Fritz Redls über Bruno Bettelheims (in den 50er bis 70er Jahren) bis zum Verein für psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen und Rottenburg (in den 80er und 90er Jahren). Einer der Akteure, die die psychotherapeutische Weiterbildung für Pädagog:innen zu verhindern sucht, ist der Autor des vorliegenden Buchs. Nur Sozialpädagog:innen, die die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung verstanden haben, die um die Reinszenierung des frühen Traumas in der Beziehung wissen, können Pflegefamilien begleiten und selbst Bezugsperson dieser Kinder im Alltag sein. Ich weiß nicht, wie das ohne analytische Selbsterfahrung zumindest in der Gruppe erworben werden könnte.
Yessi Cohens (2004) Ansatz, kein Kind das wir aufgenommen haben, wird verlegt weil wir mit ihm nicht zurechtkommen, lässt sich nur in einer sozialpädagogischen Einrichtung verwirklichen. Eine Klinik taugt nicht zum Lebensort.
Fazit
Kai von Klitzing hat ein überaus lesenswertes Buch geschrieben. Mit seinem Blick über den Tellerrand des Systems deutscher Wohlstandverwahrlosung nach St. Petersburg und Rumänien weist er auf Defizite hin, die in unserer systemischen Selbstverengung liegen. Er empfiehlt ein Vorgehen, dessen Stärke in der Kooperation über die Systemgrenzen (SGB V und VIII) hinaus liegt. Auch wenn sozialpädagogische Kinderschutzstrategien keinen Raum finden, ist das Buch eine gelungene Einführung für Expert:innen aus diesem Feld um besser verstehen zu können an welche Voraussetzungen es gebunden ist, psychiatrische Kliniken sinnvoll in den Kinderschutz einzubinden.
Literatur
Aichhorn, August (1925): Verwahrloste Jugend Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung, Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Baumann, Menno (2012/2019): Kinder die Systeme sprengen. Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern Bd. 1, Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule, Bd 2, Baltmannsweiler: Schneider
Cohen, Yecheskiel (2004): Das mißhandelte Kind. Ein psychoanalytisches Konzept zur integrierten Behandlung von Kindern und Jugendlichen, Frankfurt: Brandes & Apsel
Göttgen, Tanja/Kai von Klitzing (2015): Psychoanalytische Kurzzeittherapie mit Kindern (PaKT). Ein Behandlungsmanual, Stuttgart: Klett-Cotta
Hurry, Anne (Hrsgn., 2003): Psychoanalyse und Entwicklungsförderung von Kindern, Frankfurt: Brandes & Apsel
Kießling, U. (2004): Vorarbeiten zu einer Handlungstheorie beziehungsananlytischer Sozialarbeit und Sozialpädagogik. In: Psychoanalytische Familientherapie, 5. Jahrgang, Heft 1, Gießen: Psychosozial-Verlag
Kießling. U. und S. Flor (2019): Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe – eine unendliche Geschichte von Missverständnissen, fehlendem Vertrauen und Kompetenzstreit. Ideen zur Befriedung in Form einiger Fallstudien, in: Sozialpsychiatrische Informationen, 49. Jg., Heft 3, Köln: Psychiatrie Verlag
Kreft, Irmgard. Werner Köpp und Otto F. Kernberg (2014): „Der Schwache bis du“-Spiele von Borderline-Kindern als Umgang mit dem Unerträglichen, in Kinderanalyse 22. Jg., Heft 1, Stuttgart: Klett-Cotta
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung vom 11.08. 2022; Kinderschutz: Kindeswohlgefährdungen bleiben auch 2021 auf hohem Niveau
Tsokos, Michael/​Saskia Guddat (2014): Deutschland misshandelt seine Kinder, München: Droemer
[1] Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen ist – nach ihrem Höchststand im ersten Corona-Jahr 2020 - im zweiten Jahr der Pandemie leicht gesunken: 2021 haben die Jugendämter in Deutschland bei über 59 900 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt festgestellt. Das waren rund 600 Fälle oder 1 % weniger als im Vorjahr. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, sind die Fälle, bei denen die Behörden nach Prüfung des Verdachts zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber einen Hilfebedarf festgestellt haben, gleichzeitig um knapp 2 % gestiegen (+ 1 100 Fälle): 2021 meldeten die Jugendämter fast 67 700 Fälle von Hilfebedarf.
[2] ww.volkssolidaritaet-nordsachsen.de/kinder-undjugend/​intensivpaedagogisch-therapeutische-wohngruppe/
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 32 Rezensionen von Ulrich Kießling.
Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 29.08.2022 zu:
Kai von Klitzing: Vernachlässigung. Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten Kindern. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-608-98089-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29629.php, Datum des Zugriffs 30.11.2023.
Urheberrecht
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