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Georg Theunissen: Empowerment

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 11.10.2022

Cover Georg Theunissen: Empowerment ISBN 978-3-7841-3532-8

Georg Theunissen: Empowerment - Wegweiser für Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2022. 4. Auflage. 336 Seiten. ISBN 978-3-7841-3532-8. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.

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Thema

„Empowerment repräsentiert die Stimme der Betroffenen und betrachtet Menschen mit Behinderungen als ‚Expert*innen in eigener Sache“ (Klappentext). Dieses darzustellen führt die zu besprechende Publikation mittlerweile in der 4. Auflage durch.

Autor

Georg Theunissen wurde 1951 geboren, ist Diplompädagoge, wurde zum Dr. päd. promoviert und war von 1994 bis 2019 Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Entstehungshintergrund

Georg Theunissen hat mit dieser vierten die vorhergehende Auflage aktualisiert. Mit dem Aspekt Peer Counseling wird hier eine wichtige Ergänzung vorgenommen.

Aufbau

  1. Empowerment – Ein Wegweiser für die Heilpädagogik und Behindertenhilfe
  2. Wissenschaft und Forschung
  3. Arbeit mit Eltern und Familien
  4. Schule und Unterricht
  5. Teilhabe am Arbeitsleben
  6. Bildung im Erwachsenenalter und Alter
  7. Wohnen und Leben in der Gemeinde

Inhalt

Dass die Zeit für Empowerment für Menschen mit Behinderung gekommen ist, erkannte Theunissen erstmals in den 1980-er Jahren.

Der Terminus technicus Empowerment kann mit Selbstbemächtigung, -ermächtigung oder -befähigung übersetzt werden. Es geht im sozialen Feld darum, „vorhandene Stärken von Menschen in gesellschaftlich marginaler Position […] zu ihrem Ausgangspunkt zu nehmen, zu tragfähigen Formen kollektiver und autonomer Selbsthilfe-Zusammenschlüsse sowie sozialer Netzwerke anzustiften, die (Wieder-)Gewinnung von Selbstbestimmungsfähigkeiten und Kompetenzen (Zuständigkeiten) zur Kontrolle und Verfügung über die eigenen Lebensumstände zum Ziel haben“ (S. 27).

Für das Empowerment hat das Peer Counseling eine wesentliche Bedeutung. Hierauf wird über das Bundesteilhabegesetz in § 32 Absatz 3 SGB IX verwiesen und soll in der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung, einem niedrigschwelligen Beratungsangebot, realisiert werden. Unter Peer Counseling versteht man „eine behinderte Person […] (, die – CR) ihr Wissen über Behinderung und ihre Behinderungserfahrung an andere Menschen weitergeben soll, die ähnlich behindert sind bzw. sich in einer vergleichbaren Situation […] befinden“ (S. 105).

Heilpädagogik ist zugleich eine Profession und eine Disziplin. Um heilpädagogische Forschung zu betreiben, wird Erforschtes aus den Nachbardisziplinen, als da wären Psychologie, Medizin, Soziologie benötigt. In diesem Zusammenhang hat der Rezensent im Wintersemester 1985/86 an der Ruhruniversität Bochum eine Vorlesung von Käte Meyer-Drawe gehört, in welcher sie die Pädagogik als parasitäre Wissenschaft bezeichnet. Diese Abhängigkeit von anderen Wissenschaftsdisziplinen wertet der Autor negativ.

Bei der Elternarbeit sind zwei Modelle maßgeblich:

  1. das Laienmodell, womit die elterliche Unwissenheit und Inkompetenz herausgestellt wird;
  2. das Co-Therapeutenmodell, bei dem die Eltern zu Behandelnde mutieren.

U.a. auf o.G. gründet das Empowered Family Model, bei dem davon ausgegangen wird, „dass Eltern, die sich ihrer Stärken und Kompetenzen bewusst sind und diese zur Verbesserung der Lebensbedingungen nutzen, auch ihrem behinderten Kind bei der Entwicklung und Verwirklichung von Autonomie im Sinne von Empowerment behilflich sein können“ (S. 158). Eltern, deren Kinder mit einer Behinderung leben müssen, sind auf diesem Feld als Experten in eigener Sache zu begreifen.

Für Empowerment im schulischen Kontext ist Theunissen der Blick in die USA wichtig. Dort wurden in den 1970er-Jahren, durch das Engagement von Elterninitiativen, zwei Bundesgesetze eingeführt, die die kostenlose Beschulung behinderter Kinder thematisierten. Der Autor fordert für Deutschland mehr Demokratie im Bildungswesen. Diese Forderung drängt sich auf, weil nicht, wie in den USA, der Elternstimme eine hohe Beachtung zukommt, sondern auf staatliche Institutionen gehört werden muss. Empowerment in der Schule orientiert sich hierzulande nicht an den Maßgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

Für die Teilhabe am Arbeitsleben zieht Theunissen u.a. das Konsultationsprogramm heran, welches das Empowerment bei arbeitssuchenden Behinderten in den USA fördert und als Vocational Rehabilitation Counseling bezeichnet wird.

Es werden verschiedene Instrumente der beruflichen Eingliederung vorgestellt, als da wären:

  • Supported Employment
  • Unterstützte Beschäftigung
  • Integrationsfachdienste
  • spezielle Sondereinrichtungen

Für das Erwachsenenalter und das Alter hat die Bildung eine nicht unwesentliche Bedeutung, weil sich u.a. gezeigt hat, dass an der „Lern- und Entwicklungsfähigkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Erwachsenenalter und Alter“ festzuhalten ist (S. 263). Menschen mit Lernschwierigkeiten haben ein Anrecht auf lebenslange Bildung.

Didaktisch ist den Zielen Klafkis zu folgen, wonach die wichtigste Aufgabe der Didaktik „Aufklärung über und Hilfen zur Entwicklung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit zu leisten“ (S. 269) ist.

Am Ende seiner Ausführungen befasst sich Georg Theunissen mit der Frage, wo Behinderte wohnen und leben sollen. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert, in dem viele Heime und Anstalten gegründet wurden. Verantwortlich hierfür ist auch die Psychiatrisierung der Heilpädagogik. Behinderte lebten vorwiegend in Institutionen.

Mittlerweile, im 21. Jahrhundert, wird das Leben der Behinderten in Institutionen immer mehr durch die Deinstitutionalisierung abgelöst, z.B. durch das Supported Living, die „bereits in den 1980er-Jahren in den USA als Angebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten und aus dem Autismus-Spektrum entwickelt“ (S. 303) wurden.

Diskussion

Zur Referenzgruppe führt Theunissen, zwar mit Bezug auf den angloamerikanischen Sprachraum an, dass bei einer geistigen Behinderung „diese Beeinträchtigungen […] vor dem 18. Lebensjahr aufgetreten sein“ (S. 10) mussten. Hierfür werden multifaktorielle Ursachen verantwortlich gemacht. Beim Rezensenten ist 1982 im Alter von 12 Jahren ein schweres hirntraumatisches Ereignis eingetreten. Eine Amtsärztin des Gesundheitsamtes Schwelm hat ihn 1983 aus diesem Grund als geistig behindert diagnostizier, der lediglich zum Fernsehen und Radio hören in der Lage ist.

Theunissen führt weiter an, dass der Begriff intellektuelle Behinderung „eher aus fachwissenschaftlichen Diskursen (v.a. im Lager der klinischen Psychologie) hervorgegangen ist und nicht die Stimme der Betroffenen repräsentiert“ (S. 11). Ist diese Vorgehensweise, wie weiter unten noch zu klären sein wird, typisch, denn „ein Begriffsaustausch allein (ist – CR) noch kein Garant für eine Nicht-Aussonderung“ (S. 11). Aussonderung findet auf einer ganz perfiden Art und Weise statt, die sich spätestens in der Berufsausbildung zeigt, die selbstredend unter Bedingungen der Inklusion ablaufen soll. Kritisch führt Bonfranchi an: „Die heutige Integrations-, zugespitzt Inklusions’bewegung‘ trivialisiert und bagatellisiert die jeweilige Behinderung des Idividuums. Sie muss als eine Form der Würdeverletzung dieser Personen angesehen werden. Deshalb kann man sagen, dass die sogenannte Integrationsbewegung die Würde dieser Kinder und Jugendlichen verletzt“ (ders./Perret 2021, 166). Eliane Perret macht hierfür einen Übersetzungsfehler, der in der UN-Behindertenrechtskonvention vorliegt, verantwortlich: „In der deutschen Übersetzung der UN-BRK wurde der Begriff‘‘general education system‘ zwar richtigerweise als ‚allgemeines Bildungssystem‘ übersetzt; diese Formulierung wurde jedoch mit Regelschulsystem gleichgesetzt und damit werden die Sonderschulen ausgeschlossen“ (Bonfranchi/dies. 2021, 167). Und Norbert Störmer führt aus, dass „die Bezeichnung ‚inclusion‘ im englischsprachigen Raum […] nicht eine Weiterentwicklung von Integration (bezeichnet – CR), sondern dort bezeichnet ‚inclusion‘ die Nicht-Aussonderung aus bzw. die Aufnahme von Menschen mit Beeinträchtigungen in umfassendere soziale Räume“ (ders. 2021, 25).

Terminologisch weist Theunissen darauf hin, dass „es im deutschsprachigen Raum bis heute nicht gelungen ist, sich selbstbewusst mit einer Fachbezeichnung auszuweisen“ (S. 12). So existieren neben dem Terminus Heilpädagogik zahlreiche Parallelbegriffe. Es stellt sich nun, v.a. nachdem man sich nun über eine Publikation mehrere Stunden mit dem Empowerment befasst hat, die Frage, wer diese eine Fachbezeichnung kreieren soll. Eine pädagogische Disziplin mit Heilpädagogik zu bezeichnen, erscheint auch nicht das Gelbe vom Ei zu sein, da jahrelange heilpädagogische Erfahrungen des Rezensenten nicht zu der gewünschten Heilung geführt haben. Diese hat er sich nach dem Schädel-Hirntrauma herbeigesehnt. In der Verpackung steckt also nicht das, was versprochen wird. Vielleicht hätten die Experten in eigener Sache, die mit einer erlebten Kompetenz leben, dem Fach einen anderen – v.a. lebensrealitätsnahen – Namen gegeben, der nicht auf Lügen aufbaut. Über die heilpädagogische Inklusion kommen diese wahren Experten aber nicht zu Worte. Dazu passt die Kritik aus den Selbsthilfe-Organisationen (die aber, so die Äußerung einer Hausärztin, als Selbsthilfescheiß abgewertet wird): „Im Kreuzfeuer der Kritik steht die ‚Pädagogisierung‘ eines Lebens im Erwachsenenalter und Alter“ (S. 14).

Zum Empowerment durch Peer Counseling ist der Verweis auf § 32 SGB IX zwar korrekt, jedoch liegt hier ein Fehler vor, den der Gesetzgeber zu verantworten hat. Wenn es sich beim Bundesteilhabegesetz, das schrittweise zu Änderungen im SGB IX führt, um eine Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention handelt, dann muss hier von Peer Support, gemäß Artikel 26 Absatz 1 UN-Behindertenrechtskonvention, gesprochen werden. In Bundestagsdrucksache 18/9522 (BT-Drs. 2016) führt der Gesetzgeber aus, dass im Rahmen der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung i.S. § 32 Absatz 3 SGB IX die Beratung von Betroffenen durch Betroffene besonders zu berücksichtigen ist. Wird hingegen „von Peer Support […] gesprochen, so werden darunter in aller Regel breit angelegte, allgemeine, auch praktische Unterstützungsangebote gefasst, unter denen das Peer Counseling als spezielle Beratungsform subsumiert wird“ (S. 107).

Die schulische Förderung hat, i.S. des Empowerments, durch ressourcenorientierte Unterrichtsarrangements zu erfolgen. In diesem Kontext ist Riccardo Bonfranchis Anmerkung zur Ressourcenorientierung, die er nie verstanden hat, erwähnens- und nachdenkenswert: „Wir diagnostizieren ‚unsere‘ Kinder teilweise sinnvoll, sehr oft unsinnig und sollen dann von dem ausgehen, was sie eh schon können? Man getraut sich kaum noch zu sagen, dass das Kind in dem und jenem Bereich, sei es nun in Mathe oder der Fähigkeit, selbstständig zu essen oder fünf Meter zu gehen, ohne hinzufallen usw., Defizite hat“ (ders./Perret 2021, 68 f.).

Es stellt sich bei alledem sie Frage, ob bei dem Goodwill Empowerment überhaupt gewollt ist, denn das Engagement der Ausgeschlossenen wird durch die Inklusion – und dadurch oft durch verhinderte Schulkarrieren, die ein Hochschul- bzw. Universitätsstudium und dann darauffolgend eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Problemfeldern ausschließt – verhindert. Dem Rezensenten hat die Sonderbeschulung, in einer Förderschule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, bis zum Abitur zur Studier- und Kritikfähigkeit verholfen, die ohne derselben nicht erfolgt worden wäre.V.a. die erlangte Kritikfähigkeit ist für die scientific community schwer bis gar nicht auszuhalten, was sich in Missachtung niederschlägt.

Fazit

Mit dem Empowerment ist für die behinderten Menschen – und bewusst wird hier, auch weil der Rezensent selbst behindert ist, auf die wohlklingende Umschreibung Menschen mit Behinderung verzichtet – ein weiterer Schritt in Richtung Expertentum in eigener Sache beschritten. Dieser Schritt ist wichtig, weil nur durch Empowerment – und wenn dies auch wissenschaftlich auf den höchsten Ebenen so akzeptiert und eingehalten wird – die erlebte Kompetenz der Behinderten zum Tragen kommt. Nur die erlebte Kompetenz gestattet es aus diesem Grund die verwendete Begrifflichkeit zu monieren und hierbei den Pfad der sozialen Erwünschtheit zu verlassen.

Literatur

Bonfranchi, Riccardo/​Perret, Eliane: Heilpädagogik im Dialog. Praktische Erfahrungen, theoretische Grundlagen und aktuelle Diskurse. Bielefeld 2021.

BT-Drs. 18/9522: Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). Berlin, den 05.09.23016.

Störmer, Norbert: Inklusion zwischen Utopie und Realität. Berlin 2021.

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 185 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.

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ISSN 2190-9245