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Omri Boehm: Radikaler Universalismus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.09.2022

Cover Omri Boehm: Radikaler Universalismus ISBN 978-3-549-10041-7

Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität | Universalismus als rettende Alternative. Propyläen Verlag (Berlin) 2022. 176 Seiten. ISBN 978-3-549-10041-7. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 24,90 sFr.

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Konkretisierung versus Nihilismus

Die universalistische, aufgeklärte Idee, wie sie in der von den Vereinten Nationen 1948 proklamierten Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommt – „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – ist gültig; obwohl vorher und nachher, bis heute, die Menschen sich ego-, ethnozentristisch, faschistisch, rassistisch und populistisch verhalten: „Das Problem mit dem universalistischen Projekt der Aufklärung besteht nicht darin, dass es gescheitert ist, sondern dass man es überhaupt versucht hat“. Es sind Fragen, Querverweise und Ideologien, die ein ernsthaftes Nachdenken und Realisieren eines „universellen Humanismus“ be- und verhindern. Es sind die Ungewissheiten und Ignoranzen, die ein erdbewusstes, rechtliches Denken, Handeln und Identitätsbilden gefährden. Konstrukte und Halteseile für ein radikales, universales Bewusstsein liegen vor; etwa die Kantische Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (vgl. z.B. dazu auch: Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bd. 2: Philosophie und Gesellschaft. Immanuel Kant, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27114.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Das Menschenrecht als das höchste, globale Gut, kann nur wirksam werden, wenn die Aktions- und Reaktionsweisen der Menschen – Anpassung und Widerstand – funktionieren. Wir bewegen uns in dem Dilemma, das der US-amerikanische Essayist Jim Holt mit der philosophischen Detektivgeschichte: „Gibt es alles oder nichts?“ anreißt (2014). Weil der Mensch (nämlich) ein unvollständiges, verletzliches Lebewesen ist (Angela Janssen, 2018), ist es wichtig zu erkennen, dass sich (nach Spinoza) „alles in der Natur mit blinder, logischer Notwendigkeit abspielt“. Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm von der New School for Social Research in New York plädiert (trotzdem) für einen „radikalen Universalismus“.

Aufbau und Inhalt

Angesichts der gesellschaftlichen Zerrissenheit, wie sie sich z.B. in den USA in den politischen Auseinandersetzungen um Konservativismus und Modernität, um Geschichtsbewusstsein und -deutung vollzieht, wie sie sich durch die Aufkündigung von demokratischen, freiheitlichen Strukturen durch Putins Krieg in der Ukraine und Infragestellungen von Menschenrechten, durch rassistische und populistische Tendenzen überall in der Welt ereignet, bedarf es eines intellektuellen Hau-Rucks, um eine wahrhaftige Identitätsbildung der Menschen zu erreichen. Wie kann dies gelingen? Omri Boehm versucht dies mit einem philosophischen, historischen, anthropologischen Dreischritt: Den ersten bezeichnet er als „Kainsmal“, mit dem verbrecherischen, in der Zeit jedoch „selbstverständlichem“ Denken und Handeln des Sklavenhandels, der Macht, die Macht macht, und der Suche nach Alternativen, wie sie von Denkern und Philosophen der Vergangenheit gedacht wurden: Nietzsche, Kant, Thoreau, Lincoln, Martin Luther King… Im zweiten Schritt geht es um „Wahrheit als Volksfeind Oder der Vorrang der Philosophie vor der Demokratie“. Weil nämlich Wahrheit sowohl die Erfindung eines Lügners sein kann (Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, 2011), als sich auch als Fakt oder Fake News darstellt. Hier kommen wir wieder zu Kant und zu den Apologeten kantischen Denkens: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“. Es sind die Auseinandersetzungen zwischen dem Absolutismus und dem Liberalismus (John Dewey), die sich im „Ich“ und „Wir“ manifestieren: „Für wahre Universalisten ( ) sollte das ‚Wir‘ nie der Beginn von Politik sein; es kann lediglich ihr niemals endgültiges Resultat sein“. Mit dem dritten Schritt setzt sich Boehm mit der eigentlichen Herausforderung auseinander: „Die Abrahamitische Unterscheidung Oder Was Aufklärung ist“. Die erste philosophische, kantische Antwort: Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Es ist also nicht Schicksal oder genetische Anlage, sondern Selbstdenken. Es wird gefordert und gefördert durch Denker, wie z.B. Mose ben Maimon, des Gesetzeslehrers und Philosophen Maimonides, der vor mehr als 1000 Jahren das griechische mit dem jüdisch-christlichen Denken zusammenbrachte: „Nichts kann Autorität über die Gerechtigkeit beanspruchen. Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz“. Es ist die Adornosche Diktion, dass es kein richtiges Leben im falschen geben könne.

Diskussion

Boehms philosophische Reflexionen und Analysen darüber, wie ein radikaler Universalismus humane, lebbare Identitäten hervorbringen kann, gründen auf seinen US-amerikanischen, gesellschaftlichen Erfahrungen, seinen Auseinandersetzungen mit den historischen und ideologischen Entwicklungen, und auf den jüdisch-christlichen Fundamenten in den USA und Europa. Ob es an den Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche liegt, oder ob Umri Boehms Diktion und Begriffsbildungen an manchen Stellen beim Leser Irritationen und Missverständnisse erzeugen, ist eine Frage. Sie schmälert nicht das Verdienst des Autors, mit seiner Analyse über radikalen Universalismus fragend und argumentierend auf die lokale und globale, kontroverse wie vereinfachende Identitätsdebatte einzuwirken.

Wenn der Autor von der „Ideologie der Identität“ spricht, will er darauf verweisen, dass es notwendig und für ein freiheitlich-demokratisches Leben unverzichtbar ist, politische Meinungen, Programme und Strukturen kritisch zu hinterfragen: „Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie … zu stärken und den Aufstieg rechtsextremer Politik und eines ethnischen Nationalismus zu bekämpfen haben, zugleich mit globalen Katastrophen und Migrationswellen konfrontiert sind, macht es einen Unterschied, ob wir an der Idee des universellen Humanismus als einen Kompass, sogar als einer Waffe festhalten, oder ob wir eine Gesellschaft hervorbringen, in der diese Idee verspottet oder verachtet wird“.

Fazit

Die verschwommenen lokalen und globalen Relativierungen und Rechtfertigungsversuche über die Einschätzungen, Wirkungen und Bewertungen der menschengemachten bipolaren, scheinbar „logischen“ und „konsequenten“ (kapitalistischen) Weltordnung, haben sich in der globalisierten Welt ad absurdum geführt. Ein radikaler Universalismus kann aus dem Dilemma herausführen: „Nur ein Gesetz oder eine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Konventionen (und Egoismen, JS), ist universell“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1631 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.09.2022 zu: Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität | Universalismus als rettende Alternative. Propyläen Verlag (Berlin) 2022. ISBN 978-3-549-10041-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29631.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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