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Margret Dörr, Gunzelin Schmid Noerr u.a. (Hrsg.): Zwang und Utopie - das Potenzial des Unbewussten

Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 02.12.2022

Cover Margret Dörr, Gunzelin Schmid Noerr u.a. (Hrsg.): Zwang und Utopie - das Potenzial des Unbewussten ISBN 978-3-7799-6526-8

Margret Dörr, Gunzelin Schmid Noerr, Achim Würker (Hrsg.): Zwang und Utopie - das Potenzial des Unbewussten. Zum 100. Geburtstag von Alfred Lorenzer. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 288 Seiten. ISBN 978-3-7799-6526-8. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.

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Herausgeberin und Herausgeber

Margret Dörr war Professorin für Theorien Sozialer Arbeit an der Katholischen Fachhochschule Mainz.

Gunzelin Schmid Noerr war Professor für Sozialphilosophie, Sozialethik und Anthropologie an der Hochschule Niederrhein Mönchengladbach.

Achim Würker war Studiendirektor für Deutsch und Politik in Darmstadt und arbeitet zum Szenischen Verstehen, zur Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und zur Psychoanalytischen Pädagogik.

Aufbau und Inhalt

Einleitung

„Zwang und Utopie markieren grundlegende Potenziale des Unbewussten: einerseits die fatale Wiederkehr des Verdrängten, andererseits die Impulse zur Realisierung noch nicht bewusster emanzipatorischer Möglichkeiten.

Alfred Lorenzer hat dieses Spannungsverhältnis in seinen Schriften zur Metatheorie der Psychoanalyse und zur Sozialisationstheorie innovativ ausgelotet und damit die interdisziplinäre Entfaltung psychoanalytischen Denkens und Forschens wesentlich angeregt. Die in diesem Buch versammelten Aufsätze entwickeln diese Perspektiven weiter, indem sie sie auf klinischen, psychosozialen und kulturellen Feldern erproben“ (Klappentext).

Was der Klappentext andeutet, führen Margret Dörr, Gunzelin Schmid Noerr und Achim Würker in ihrer Einleitung aus. Sie charakterisieren Alfred Lorenzer „als einen Wissenschaftler […], der im Sinne einer ‚kritischen Theorie des Subjekts’ die Mechanismen der Verinnerlichung von gesellschaftlicher Herrschaft durchsichtig macht. Sein andauerndes Interesse galt dem Abbau von innerem Zwang und der Freiheit des utopischen Unbewussten“ (9).

Ihre Sicht stützt sich auf drei Schwerpunkte in Lorenzers Werk:

  1. In seinen Arbeiten zur „metatheoretischen Begründung der Psychoanalyse“ (S. 13) bietet ihm die Verknüpfung von Hermeneutik, Gesellschaftstheorie und Biologie die Basis für eine „materialistische Sozialisationstheorie“ (14). Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die bis ins Präverbale hineinreichenden „intrapsychischen Niederschläge durchlebter Interaktionsbeziehungen“ (ebd.). Ihre Besonderheit: Sie finden nur zum Teil eine angemessene Symbolisierung (z.B. durch Sprache) und können damit kommuniziert werden, ein anderer Teil entzieht sich der symbolischen Repräsentation und äußert sich allenfalls in verzerrter oder verfälschter Weise, etwa in Form von „Klischees“, als Ritualisierungen, erstarrten Handlungsentwürfen oder als „emotionsarme(r) Zeichengebrauch“ (ebd.). Lorenzer entwickelt seine „materialistische Sozialisationstheorie“ zunächst mit Blick auf die primäre (familiale) Sozialisation, versteht sie aber zunehmend auch als ein Konzept zur Analyse der Sozialisationswirkungen außerfamilialer Institutionen.
  2. In Abgrenzung zur geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, die sich, so Lorenzer, darauf konzentriert, die den kulturellen Objektivationen zugrunde liegenden historischen und soziokulturellen Zusammenhänge zu verstehen, „bezieht sich eine psychoanalytische Hermeneutik auf ein dynamisches Unbewusstes, das das bewusste Sinnverstehen teilweise durchkreuzt. Dementsprechend ist das psychoanalytische Verstehen, das auf den lebensgeschichtlich entstellten, vom Bewusstsein abgewandten Sinn von Äußerungen abzielt, eine ‚Tiefenhermeneutik’“ (15). Ihr zentrales Interesse besteht darin, „im Zuge einer ‚Resymbolisierung’ die partielle Entsubjektivierung des Subjekts aufzuheben“ (ebd.). Weil die „grundlegenden Bedeutungskomplexe des Subjekts […] als Niederschlag von Interaktionsfiguren szenisch aufgebaut“ sind, lässt sich das tiefenhermeneutische Erkennen als „szenisches Verstehen“ begreifen (15 f.). Das gilt zunächst für den therapeutischen Prozess. Damit er gelingt, muss die analysierende Person in der Artikulation ihrer Gegenübertragung in der Lage sein, die in Erzählungen und in der körperlichen Selbstpräsentation dargebotenen Szenen innerlich mitzuspielen, ihre Wirkung auf das eigene Erleben zu registrieren und zu verarbeiten und auf diesem Wege zu schlüssigen Deutungen zu kommen (vgl. 16).
  3. Lorenzers tiefenhermeneutische Kulturanalyse geht einen von der Kulturdeutung Sigmund Freuds abweichenden Weg. Übereinstimmung besteht zwar darin, dass sich in der Kultur die Wirkung unbewusster Dynamiken zeigt. Aber die Tiefenhermeneutik „exemplifiziert […] nicht die psychoanalytische Neurosen- oder Persönlichkeitstheorie an den Werken und führt diese auch nicht auf biographische Ereignisse und Verarbeitungsweisen ihrer Produzenten zurück“ (19). Vielmehr sieht sie vor, dass der Rezipient sich auf eine analytisch-technische Weise und in einer analytischen Haltung, also frei assoziierend und in „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ (19), den Objekten seines analytischen Interesses zuwendet, „wohl wissend, dass dies nur mit gewissen Modifikationen möglich ist“ (ebd.), weil der Kunstgegenstand unverändert bleibt und die Interpretation daher ohne seine Antwort auskommen muss. Beim analytischen Umgang mit literarischen Texten zum Beispiel wäre demnach „eine Art Pendelbewegung zwischen subjektivem Erleben, das als Resonanz auf die szenischen Angebote zu verstehen ist (Gegenübertragung), und einer vergewissernden Überprüfung am Text erforderlich“ (ebd.).

Diese drei Formen der Weiterführung Freudscher Positionen bilden die Basis für die Diskussion von Erfahrungen und Reflexionen von Autorinnen und Autoren, die entweder früher bei Lorenzer studiert und mit ihm zusammengearbeitet haben oder die seine Konzepte in unterschiedlichen therapeutischen und wissenschaftlichen Richtungen erproben. Ihre Beiträge, mit denen sie die Fruchtbarkeit seines Denkens für sich und ihre Disziplinen belegen wollen, sind in vier Themenkomplexe geordnet:

  1. „Psychoanalyse – Klinik und Metatheorie“ (21–92)
  2. „Sozialisations- und Traumatheorie, Sozialforschung“ (93–170)
  3. „Pädagogik und Soziale Arbeit“ (171–225)
  4. „Kulturanalyse“ (227–285)

1. Psychoanalyse – Klinik und Metatheorie

Den ersten Themenkreis leitet Siegfried Zepf (22–32) mit einer Kritik an seiner Zunft ein: Alfred Lorenzer habe in der gegenwärtigen Psychoanalyse immer noch nicht den ihm gebührenden Platz gefunden, ja es fehle überhaupt an einer innerfachlichen Diskussion. Dabei habe er „Wesentliches zum Verständnis des Triebes, des Symbolbegriffs, des sprachgebundenen, wiewohl tiefenhermeneutisch operierenden Vorgehens und der Wahrheitsprüfung in der Psychoanalyse“ (22) beigetragen, „eine eigenständige Sozialisationstheorie“ (23) entwickelt, „relevante kulturwissenschaftliche Untersuchungen vorgelegt“ (23) und nicht zuletzt demonstriert, wie sich „ Psychoanalyse und Historischer Materialismus […] vermitteln“ (23) ließen.

Annemarie Laimböck (33–45) hebt die gegenseitige Begrenzung von Triebkonzept und Sprachtheorie bei Lorenzer hervor. Sein Festhalten am Triebgeschehen fördere eine realistische Analyse der Kulturleistungen und halte den sinnlichen Charakter der sozialen Interaktionen präsent. Für das Verständnis der analytischen Beziehung sei das Konzept des „szenischen Verstehens“ in besonderer Weise fruchtbar, weil es die Aufmerksamkeit auf den Sinn des Gesprochenen lenke und weniger auf dessen Faktizität und weil es die psychischen Prozesse der analysierenden Person in den Blick nehme. Es sei somit das Mittel schlechthin, „das Unbewusste zu suchen und zu finden“ (42).

Für Ellen Reinke (46–63) führt Lorenzers psychoanalytische Hermeneutik als „Hermeneutik des Leibes“ (46) zu einem tieferen Verständnis der „lebenspraktischen Vorannahmen“, ohne die „der hermeneutische Prozess der Psychoanalyse nicht denkbar“ (48) wäre. Sie schließt die vorsprachliche Ebene und damit die frühesten Interaktionsformen als „Grundschritt der Sozialisation“ (51) ein. Die Bemühungen in der Analyse um eine „Resymbolisierung“ ermöglichten dem Patienten eine Rückkehr in die „Sprachgemeinschaft“ (57). Insofern sei das hermeneutische Verfahren auch als „Sozialisationsprozess“ (57) zu begreifen.

Die „leiblich fundierte Interaktionsform“ (65) sehen Bernard Görlichs und Heinz Lüdde (64–78) als theoretischen Kern von Lorenzers Projekt an, „Erkenntnisse der Freud’schen Wissenschaft vom Unbewussten in die Perspektive kritischer Gesellschaftstheorie zu rücken“ (64). In der Auseinandersetzung des Subjekts mit der vom Leib ausgehenden Bedrohung hinsichtlich „Vergänglichkeit“ und „überbordender Lebendigkeit“ (74) entdecken sie mit Lorenzer eine „Haltung der Widerständigkeit, die dem […] Bestehenden die Stirn bietet“ (77).

Frederik van Gelder (79–92) schließt den ersten Themenkreis, indem er die Entwicklung des Symbolbegriffs bei Alfred Lorenzer nachzeichnet. Dessen Intention, die Subjekte müssten zu einer „autonomen Symbolisierung“ (81) ermächtigt werden, trägt ihm zufolge deutlich die Spuren eines materialistischen Geschichtsverständnisses, wie Lorenzer es den Anregungen der Frankfurter Schule entnommen hat. Damit mahne er nicht nur eine Revision des ideengeschichtlich dominierten Gesellschaftsbildes der seinerzeitigen Psychoanalyse an, sondern zugleich für den klinischen Bereich die Entwicklung einer „materialistischen Hermeneutik“, die den auf dem Wege der Sozialisation des Subjekts verinnerlichten „Praxisfiguren und ihren symbolischen Niederschlägen“ (86) nachspürt.

2. Sozialisations- und Traumatheorie, Sozialforschung

Den zweiten Themenkreis eröffnet Vera King (94–107) mit ihrem Beitrag über Generationenbeziehungen. Ihm stellt sie die Zielsetzung Lorenzers voran, „die Genese und Erscheinungsformen psychischen Leidens bis in die feinsten Verästelungen von Selbst-, Körperverhältnis und Leiberleben hinein zu erhellen“ (94). Lorenzers Annahme von der Bedeutung des Generationenverhältnisses für die „Konstituierung der Subjektivität“ (95) führt die Autorin weiter, indem sie der Rolle des Widerstands der Adoleszenten gegen den Anpassungsdruck der älteren Generation nachgeht, ein Phänomen, das bereits Mario Erdheim als Movens der Kulturentwicklung erkannt habe und das sie in den aktuellen Migrationsbewegungen und ihren literarischen Spiegelungen wiedererkennt.

Marianne Leuzinger-Bohleber (108–122) sieht die angemessene Form der „Wertschätzung unserer psychoanalytischen Väter und Mütter“ nicht in deren „Idealisierung“, sondern „darin, uns intensiv mit den Werken unserer Lehrer zu beschäftigen und kritisch zu reflektieren, welche Wirkungen sie auf uns selbst, bzw. auf die Weiterentwicklung der Psychoanalyse, ausgeübt haben“ (109). Sie selbst habe durch Alfred Lorenzer in zweifacher Hinsicht eine persönliche und fachliche Prägung erfahren: im Hinblick auf die Bemühungen um die Konstituierung der Psychoanalyse als Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit positivistischen Positionen und durch Lorenzers Arbeiten zu den Kurz- und Langzeitwirkungen von Traumatisierungen. Sie kämen ihr aktuell bei der Arbeit mit Geflüchteten und Migranten zugute.

Klaus Ottomeyer und Gitka Opetnik (123–136) setzen das Thema „Intergenerative Beziehungen“ mit dem Akzent auf „Traumaweitergabe und szenisches Verstehen“ fort. Beim Blick auf Lorenzers Theorie einer „zweiphasigen Symptomentwicklung bei traumatischen Neurosen“ (124) und auf seine Therapieerfahrungen mit Menschen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, erkennen sie in eigenen Therapien markante Spätfolgen noch in der 3. Nachkriegsgeneration und bearbeiten sie, dokumentiert mit zwei Fallbeispielen, „szenisch“ im Sinne Lorenzers und unter Einbeziehung von Elementen einer „Psychodynamischen Traumatherapie“ (128). Ihre Erfahrungen sollen vermehrt auch Menschen zugute kommen, „die in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht […] Traumatisierung erlebt haben“ (135).

Ihre Überlegungen zur Verbindung von Tiefenhermeneutik und Gruppenanalyse leitet Regina Klein (137–153) mit der Frage ein: „[…] was passiert genau, wenn wir mit anderen um Lesarten ringen, um Interpretationen streiten und Deutungen […] hin- und herwerfen? Was geschieht in Gruppen, wenn Einzelnes interpretiert wird, Interaktionen gedeutet und/oder die Gruppe als Ganzes im Fokus steht?“(138) Eine Antwort darauf sucht sie über die „Denk- und Handlungsformen“ (138) so unterschiedlicher Protagonisten wie S. K. Foulkes, A. Lorenzer, G. Simmel und E. Cassierer, deren Theorien und Lebensformen für sie eine „netzwerkartig verwobene Matrix“ bilden, „die sich um bedeutsame Knotenpunkte flicht“ (149). Über sie lasse sich die „Doppelnatur des Menschen als Natur- und Kulturwesen“ (150) entschlüsseln und „das cartesianische Aussagengebäude unserer Kultur“ (ebd.) erschüttern.

Unter dem Titel „Wo Ich war, soll Es werden“ wählt Hans-Dieter König (154–170) Trumps Rede vom 6. 1. 21, um daran die Fruchtbarkeit der tiefenhermeneutischen Rekonstruktion zu demonstrieren. Einer Skizze der methodischen Grundlagen folgt die szenische Analyse der Rede mit der Aufdeckung ihrer manifesten und latenten Bedeutungsebenen. Den Schluss bildet eine sozialisationstheoretische Deutung der Interpretation. Trumps Verzicht auf eine logische Argumentation, seine Appelle an das Erleben der Zuhörer, die Verteufelung des politischen Gegners und nicht zuletzt die durch „manifeste Lügen“ erfolgende Verschiebung der „Wahrheit auf die latente Bedeutungsebene“ (165) weisen für den Autor „Merkmale eines autoritären Syndroms“ (166) auf.

3. Pädagogik und Soziale Arbeit

Den dritten Themenkreis eröffnet Martin Gerspach (172–184), indem er die Einflüsse Alfred Lorenzers auf die Entwicklung der Sozialpädagogik nachzeichnet: die Fruchtbarkeit seiner „materialistischen Sozialisationstheorie“ im Vergleich zu behavioristischen Konzepten, seine besondere Aufmerksamkeit für den unbewussten Sinn von Handlungen „als Merkmal einer ganz bestimmten Beziehungssituation“ (173) und das Gewicht, das er der „Symbolbildung“ für das Gelingen der „Strukturbildung des Subjekts“ (ebd.) beimisst. Lorenzer habe damit einen „Paradigmenwechsel“ (175) in der Sozialpädagogik ausgelöst. Gerspach hebt dabei die Rolle Aloys Lebers bei der Adaptation des „szenischen Verstehens“ hervor. Sein Auftrag an die Pädagoginnen und Pädagogen: Sie „sollen lernen, nachzuempfinden, was ihr Gegenüber von seinen inneren Schwierigkeiten und ungelösten Konflikten in reales Handeln übersetzt“, damit das „agierte Leiden […] in eine (sprach)symbolische Form“ (179) gekleidet werden kann.

Marian Kratz (185–196) möchte das tiefenhermeneutische Konzept Lorenzers im Sinne biographisch-selbstreflexiver Prozesse für die pädagogische Professionalisierung nutzbar machen. Er sieht sich dabei in einer Traditionslinie, die mit Siegfried Bernfeld einsetzt, durch Lorenzer eine besondere sprachsymbolische Prägung erhalten hat und durch Aloys Leber und Hans Georg Trescher vielfach für die Praxis fruchtbar gemacht worden ist. „Wie […] Präzisierungen des Bildungsprozesses als Symbolisierungsprozess aussehen können und welche Anschlüsse sie in Aussicht stellen“ (187), verfolgt er mit Hans Jörg Walter und Thilo Naumann, die beide in der Vielfalt des „Interaktionsspiels“ (188) dem „Symbolisierungsprozess im Spiegel des Anderen“ (ebd.) nachgehen, die aber, so Kratz, ebenso wie der ganze Anregungs- und Erfahrungsreichtum der Psychoanalytischen Pädagogik für die pädagogische Professionalisierung von der Erziehungswissenschaft weitgehend übersehen werden.

Margret Dörr und Lara Spiegler (197–211) wollen die im Buchtitel annoncierten Phänomene „Zwang“ und „Utopie“ mithilfe des von Lorenzer entwickelten analytischen Instrumentariums an einem konkreten Datenmaterial sichtbar machen. Lorenzer folgend, geht es also auch hier – bei der Analyse eines Gesprächs zwischen einem gemeindepsychiatrisch betreuten Mann und einer Sozialpädagogin – darum, aufzuzeigen, wie früh verinnerlichte Interaktionserfahrungen „in späteren Interaktionen […] als soziale Verhaltensformeln wirksam werden“ (198). Das Gesprächsprotokoll wird von einer Arbeitsgruppe im Hinblick auf latente Sinngehalte analysiert. Dabei richtet sich das Forschungsinteresse auf zwei Erkenntnisquellen: auf die Identifikationen der Analysierenden mit den handelnden Personen und auf ihre eigenen Irritationen und Gefühlsausschläge.

Lorenzers Annahme, „dass sich unsere täglichen Erfahrungen in einem Panorama von komplexen Szenen abspielen, aus denen wir die Wahrnehmung abgegrenzter Dinge und Personen allenfalls abstrahierend und synthetisierend erst herauslösen“ (212), bildet den Ausgangspunkt für SØren NagbØls „kulturpädagogisches Projekt mit Auguste Rodins Die Bürger von Calais“ (212–225). In ihm fügt er im Rahmen einer studentischen Arbeitsgruppe „Erlebnisanalyse“ und „mimetische Prozesse“ in zeitlichen Abstufungen so zusammen, dass die Mitglieder zunächst über die Nachahmung der Skulpturen ihre Körper in Beziehung zu anderen Körpern spüren, die von ihnen verinnerlichte Figur in Ton modellieren und sich zuletzt über ihre Erfahrungen austauschen. Nagbøls Resümee: „Nicht die Subjektivität als solche bringt die sinnstiftenden Formen hervor, sondern die soziale Praxis“ (225).

4. Kulturanalyse

Zu Beginn des vierten Themenkreises nimmt Achim Würker (228–242) „das ‚Spiel der Phantasie’ […] zwischen Text und Autor“ (228) in Augenschein, um auf diesem Wege „sozial relevante, bewusstseinsferne Bedeutungsdimensionen“ (ebd.) aufzudecken. Objekt seines Erkenntnisinteresses ist Franz Kafkas Roman „Der Prozeß“. Die unerklärliche Sogwirkung, die für ihn generell von Kafkas Werk ausgeht, wird für ihn besonders bei der Lektüre dieses Buchs virulent. Beim Durchgang vor allem durch jene Passagen, in denen die Ohnmacht des Protagonisten zum Ausdruck kommt, öffnet sich ihm „eine Erfahrungsschicht, die wir zwar nicht unmittelbar reflektieren können, die dennoch unser Gefühlsleben bestimmt“ (237). In ihr erkennt er die Nachwirkungen einer„existenzielle(n) Abhängigkeit“, wie sie die „frühe Phase der subjektiven Strukturbildung“ (ebd.) prägt.

Das Gemälde „Reisegruppe“ von Robert Steidl wählt Gunzelin Schmid Noerr (245–256) aus, um daran die Ergiebigkeit der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse sichtbar zu machen. Nicht der „Produzent“ – hier der Maler – stehe im Vordergrund, sondern die „Wirkung des Kunstwerks auf den Interpreten“ (246). Lorenzer paraphrasierend: „Als Interpret lasse ich mich […] in ‚gleichschwebender Aufmerksamkeit’ auf die gestalteten Szenen ein und verbinde sie in ‚freier Assoziation’ mit anderen, kulturell signifikanten Szenen“ (ebd.). Die im Bild thematisierte „stillgestellte Zeit“ (252) rührt für den Autor an eigene existenzielle Themen: „Warten auf den nächsten Zeitabriss“ (256), Übergänge, Sterben, Tod.

Mit der Analyse des Films „Une saison en France“ verweist Sigrid Scheifele (257–271) auf Lorenzers Interesse an der Wirkung von Objekten der Kultur und auf sein therapeutisches Engagement für traumatisierte Menschen. Beides macht sie sich zueigen, wenn sie den Filmszenen nachgeht und es zulässt, dass der „Appell des Films, seine ergreifende Darstellung menschlicher Schicksale in einer fürchterlichen gesellschaftlichen Gegenwart“ (259) sie unmittelbar ergreift. Die Zumutung, die von ihm ausgeht, möchte sie aber nicht auf die eigene Person beschränkt wissen. Sie zitiert Lorenzer: „Die kulturellen Objektivationen sind entweder Symbole der Freiheit oder Symptome des Zwangs“ (270) – eine Unterscheidung, die „nur aus der Betroffenheit mit dem interpretierenden Aufarbeiten der Wirkung“ (ebd.) getroffen werden kann.

Für Lavinia Monteanu (272–285) ist das eigene Zuhause ein Kulturobjekt, dessen tiefenhermeneutische Analyse sich lohnt. In einer „Gedankencollage“ (272) erkundet sie „die unbewusste Dynamik des Wechselspiels zwischen Leib und Raum“ (ebd.), die in ihrer Wohnung spürbar wird. In ihre assoziative Selbstwahrnehmung bezieht sie den Umgang mit Räumen und das Nachdenken über sie seit der Antike mit ein: die Vorstellungen von „beseelten Räumen“ und deren Symbolisierung als mütterlicher Leib ebenso wie die Perversion des Raumes im Gefängnisbau (Bentham, Foucault) und seine funktionale Entseelung in der heutigen Großstadtarchitektur, die, in Anlehnung an Lorenzer, den „reale(n) Unterschied der Menschen im Erleben“ (284) nicht mehr sinnlich repräsentieren kann.

Diskussion

Die etwas ausführlichere Nachzeichnung der einzelnen Beiträge war notwendig, um hinter dem breiten Themenspektrum etwas von dem Fundament sichtbar werden zu lassen, das Alfred Lorenzer in anthropologischer, sozialisationstheoretischer, psychoanalytischer und interdisziplinärer Hinsicht gelegt hat. Die „Vielstimmigkeit der Rede“ (Bernhard Waldenfels) über ihn, intradisziplinär von den für den Band Verantwortlichen in vier Gruppen geordnet, vermittelt eine Ahnung von der Fruchtbarkeit seines Denkens nicht nur im Hinblick auf die psychoanalytische Therapie, sondern auch hinsichtlich des Verständnisses der Kultur, in die jedes Subjekt genauso unausweichlich eingebunden ist wie in die Sozialität. Auf der therapeutischen wie auf der kulturellen Ebene ist die Begegnung mit „Objekten“ und ihre Analyse Auslöser von Prozessen der Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung. Ob jemand im Rahmen einer Therapie analytisch tätig ist oder ob er sich in tiefenhermeneutischer Absicht Gegenständen der Literatur, der Künste oder der Alltagskultur aussetzt – immer arbeitet er auch an der Befreiung von eigenen Zwängen und öffnet sich für Entwicklungen, die bisher utopisch erschienen. Dass er damit an der Befreiung anderer mitwirkt (in der Therapie direkt, über die Folgen der Kulturanalyse indirekt), also die Gesellschaft in emanzipatorischer Hinsicht beeinflusst, war Lorenzers Hoffnung. In diesem Sinne hat er die Kritische Theorie für sich adaptiert und fortgesetzt. Die Feststellung Siegfried Zepfs im ersten Beitrag, die Psychoanalyse habe Lorenzer zu wenig in ihre Theoriebildung einbezogen und sie trage damit gleichsam eine Mitschuld an ihrer wissenschaftlichen Randständigkeit, ist nach der Lektüre der vorliegenden Texte und mit Blick auf die in ihnen verarbeitete Literatur nur schwer nachzuvollziehen (außerdem gibt es für das „Übersehen“ der Psychoanalyse im Wissenschaftsdiskurs eine Reihe von Gründen, die nichts mit ihrer Reputation als Wissenschaft zu tun haben). Es sieht eher so aus, als habe die Psychoanalyse Erkenntnisse Lorenzers (z.B. über „Sprachzerstörung“, „szenisches Verstehen“, „materialistisch“ zu verstehende Sozialisation und über die Notwendigkeit der Interdisziplinarität) assimiliert, ohne sich dabei ausdrücklich auf ihn zu berufen. Den meisten Beiträgen gelingt es, sich vom hohen Abstraktionsniveau der Sprache Lorenzers etwas zu lösen, ohne an Substanz einzubüßen. So kann die Sammlung auch als Einführung in sein Werk gelesen werden, zumindest aber auf sein Werk neugierig machen. Angesichts der auf dem wissenschaftlichen Literaturmarkt vielfach anzutreffenden Nachlässigkeit hinsichtlich der Formalia sei die sorgfältige Redaktion der Texte durch die Verantwortlichen eigens hervorgehoben.

Fazit

Der Band bietet – im Sinne des Wortes – aufschlussreiche Zugänge zu Alfred Lorenzers Werk und zu einer Vielzahl von Bereichen, die, mit seinen Augen gesehen, eine neue Bedeutung und Qualität gewinnen. Es lohnt sich daher für psychotherapeutisch Tätige (nicht nur aus der Psychoanalyse) wie für alle, die ihre Kultur und nicht zuletzt sich selbst besser verstehen wollen, die Probe aufs Exempel zu machen.

Rezension von
Helmwart Hierdeis
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Es gibt 18 Rezensionen von Helmwart Hierdeis.

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Zitiervorschlag
Helmwart Hierdeis. Rezension vom 02.12.2022 zu: Margret Dörr, Gunzelin Schmid Noerr, Achim Würker (Hrsg.): Zwang und Utopie - das Potenzial des Unbewussten. Zum 100. Geburtstag von Alfred Lorenzer. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6526-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29634.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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