Arnd Pollmann: Menschenrechte und Menschenwürde
Rezensiert von Prof. em. Dr. Karl-Peter Fritzsche, 01.12.2022
Arnd Pollmann: Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2022.
451 Seiten.
ISBN 978-3-518-29970-8.
D: 24,00 EUR,
A: 24,70 EUR,
CH: 34,50 sFr.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2370.
Autor
Arnd Pollmann (Jg. 1970) ist seit 2018 Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
Hintergrund
Während die Menschenrechte noch vor wenigen Jahren als Leitidee des internationalen politischen Diskurses im ungebremsten Aufwind schienen, sehen sie sich in letzter Zeit politisch und akademisch zunehmend mit Gegenwind konfrontiert. Zur Verteidigung der angegriffenen Menschenrechte liefert Pollmann eine grundlegende Analyse der Entwicklungsfortschritte, die in den Menschenrechten zum Ausdruck kommen und der Entwicklungspotenziale, die in der Verknüpfung von Menschenrechten und Menschenwürde zu finden sind.
Aufbau
Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert:
- Begriffsbestimmungen. Vom Anspruch auf rechtliche Gleichbehandlung zur politischen Bewegung,
- Funktionsbestimmungen. Von der konstitutionellen Begründung zur völkerrechtlichen Durchsetzung,
- Inhaltsbestimmungen. Von der historischen Gewalt zum menschenwürdigen Leben. Die jeweiligen Untertitel zeigen, dass systematische und entwicklungsgeschichtliche Aspekte zusammengeführt werden.
Dem 1. Teil wird eine ausführliche Einleitung vorangestellt, die unterstreicht, dass ein Fokus des Buches die konzeptionelle Zusammenführung von Menschenrechten und Menschenwürde ist, die aber den Leser auch darauf vorbereitet, dass erst im 3. Teil dieser Zusammenhang expliziert wird. Die drei Hauptteile sind in jeweils 5 Kapitel unterteilt, die Pollmann Paragrafen nennt. Jedem Paragrafen ist eine Zusammenfassung vorangestellt, die alle im als „Inhaltsverzeichnis“ titulierten Teil am Ende des Buches noch einmal zusammen aufgeführt werden.
Inhalt
In neun Thesen werde ich Kerngedanken der Studie formulieren.
Projektthese
Die Entwicklung der Menschenrechte wird als ein noch unvollendetes revolutionäres Projekt verstanden, durch das aus gedachten Rechten verfassungsmäßig garantierte und völkerrechtlich überwachte Rechte werden. Im Zusammenwirken von Unrechtserfahrungen, philosophischen Ideen und politischen Kämpfen entfaltet es sein Potenzial der „Transformation“ menschenrechtsverletzender Verhältnisse.
Lernthese
Die Entwicklung menschenrechtlicher Inhalte und Institutionen wird als Lernen durch Unrechtserfahrungen gedeutet. Als Schlüsselerfahrungen gelten die „disruptiven Lernerfahrungen“ (305), die durch die „monströsen Grausamkeiten“ des 20. Jh. ausgelöst wurden. Es sind besonders Katastrophen, die Lernfortschritte im Recht provozieren. Auch die Anerkennung menschenrechtlicher Gleichheit verdankt sich weniger der Überzeugungskraft der Theorie oder der Lektüre menschenrechtlicher Dokumente, sondern „lebensweltlichen Erfahrungen oder eindringlichen Schilderungen diskriminierenden Unrecht(s)“ (165).
Universalisierungsthese
Die Universalität der Menschenrechte ist nicht als behauptete Realität, sondern als ein Prozess der Universalisierung zu verstehen, der einen Geltungsanspruch erst Wirklichkeit werden lassen soll. Hinweise auf noch ausgeschlossene Menschen aus dem Kreis der Gleichberechtigten, widerlegen somit auch nicht die universelle Geltung der Menschenrechte, sondern unterstreichen, was politisch und rechtlich noch zu tun ist.
Staatsthese
Menschenrechte werden als „konstitutionelle Bollwerke gegen staatliche Willkürherrschaft“ gedeutet (305). Ihre Regelungsmacht beschränkt sich auf das Verhältnis der BürgerInnen zum Staat, sie regeln nicht auch das Verhältnis der Menschen untereinander. Private können zwar Gesetze brechen und Recht verletzen, aber eben keine Menschenrechte. „Damit ist konzeptionell ausgeschlossen, was in der Menschenrechte-Debatte noch immer gerne behauptet wird, dass auch Privatpersonen die Menschenrechte anderer verletzen können“ (240).
Verknüpfungsthese
Die Begriffe der Menschenrechte und der Menschenwürde, die bis 1945 weitgehend separat verwendet wurden, werden unter dem Eindruck „global widerhallender Unrechts- und Gewalterfahrungen“ miteinander verknüpft. Zwar sind beide Ideen nicht neu, aber ihre Verknüpfung ist neu und führt auch „zu einem tiefgreifend veränderten Verständnis des Inhalts der Menschenrechte“ (48). Nicht mehr nur die klassischen Güter der Freiheit und Gleichheit, die vor 1945 im Mittelpunkt standen, sollen menschenrechtlich geschützt werden, sondern ein Leben in gleicher Würde führen zu können, ein Leben „frei von Knechtschaft, Erniedrigung, Verachtung, Demütigung, Entmenschlichung oder gar Vernichtung“ (47).
Antastbarkeitsthese
Dem Anspruch unantastbarer Würde steht die Erfahrung angetasteter Würde entgegen. Es ist dieser Widerspruch, der nach dem Schutz der Würde durch die Menschenrechte verlangt Allerdings vermögen die Menschenrechte gemäß der Konzeption konstitutioneller Rechte nur vor denjenigen Würdeverletzungen zu schützen, die von staatlichen Autoritäten verübt werden, nicht auch vor solchen, die es im „privaten Miteinander“ gibt.
Potenzialitätsthese
Mit der Einsicht in die Antastbarkeit der Menschenwürde geht ihre inhaltliche Bestimmung als „Potenzial zu einem menschenwürdigen Leben“ einher. In Abgrenzung von Interpretationen der Menschenwürde als bereits angeborene Mitgift oder als das „a priori und unumstößlich vorgegebene Begründungsfundament der Menschenrechte“ (305) wird vorgeschlagen, die Menschenwürde (in Anlehnung an einen Begriff von Aristoteles) als den „Worumwillen“ der Menschenrechte zu verstehen (320). Die Menschenrechte sind dazu da, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Würde ist nicht vorgegeben, sondern als zu verwirklichendes Potenzial aufgegeben.
Steigerungsthese
Nicht jede Menschenrechtsverletzung ist schon eine Würdeverletzung, erst eine besondere Schwere und Tiefe macht sie hierzu: „Verstöße gegen die Menschenrechte können jeweils zu einer Verletzung der Menschenwürde gesteigert werden, falls mit ihnen zugleich auch die Botschaft einer symbolischen Demütigung, Erniedrigung oder Entmenschlichung kommuniziert wird“ (339). Menschenwürde-Verletzungen dringen in soziale Erfahrungs- und psychische Tiefendimensionen der Verletzten vor und wirken sich dadurch „zerstörerisch auf ihre Selbstachtung “ aus (331). Würdeverletzung ist also durch das Zusammentreffen von gesteigerter Verletzung und vertiefter Verletzungsempfindung charakterisiert. Solchermaßen gesteigerte Verletzungen sind jedoch nur dann als Menschenrechtsverletzungen einzustufen, wenn sie von Vertretern staatlicher Gewalt ausgeübt werden. Die „inhumane(n) Praktiken“ (331) der Entwürdigung, die auf vielfältigen Ebenen durch „Private“ verübt werden, erfordern andere Schutzmechanismen.
Stufenthese
Ein Leben in Würde führen zu können ist mehr, als frei von Verletzungen leben zu können: ein solches Leben realisiert das Würde-Potenzial. Die einzelnen Menschenrechte buchstabieren aus, was zum menschenwürdigen Leben gehört und reagieren dabei auf Gefährdungslagen sehr unterschiedlicher Grundbedingungen eines Lebens in Würde. In einer angenommen Abstufung reichen die vorgeschlagenen Grundbedingungen von vitaler Selbsterhaltung und reproduktiver Selbstversorgung über persönliche Selbstbestimmung und öffentliche Selbstbehauptung bis zur partizipativen Selbstermächtigung und intersubjektiven Selbstbestätigung (397-401). Mit der Idee abgestufter Grundbedingungen für ein menschenwürdiges Leben korreliert die These unterschiedlicher Wichtigkeit und Dringlichkeit der einzelnen Menschenrechte. Das Diktum der „unteilbaren Menschenrechte“ erfährt eine Neuinterpretation: Die Menschenrechte sind zwar alle wichtig, aber nicht alle (für alle) gleich wichtig. Allerdings sind die Gewichtungen nicht objektiv feststellbar oder am „philosophischen Reißbrett“ (379) darstellbar, sondern es sind politische Kämpfe um die Deutung der Menschenrechte, die das letzte Wort haben.
Diskussion
Das Buch ist eine Einladung, die komplexe und kontroverse Welt der Menschenrechte, der Menschenwürde und ihrer Verknüpfungen zu verstehen. Die Strukturierung mit den klaren Zusammenfassungen am Anfang jeden Kapitels ermöglicht es stets, die Orientierung zu behalten. Allerdings ist die Vielfalt der vorgestellten Perspektiven größer als der Untertitel erwarten lässt. Es geht nicht nur um die „philosophische Bedeutung“, sondern Pollmann nutzt ausgiebig politikwissenschaftliche, rechtshistorische und sozialpsychologische Erkenntnisse, um seine Argumentation stark zu machen. Diese ist zumeist transparent und lässt dem Leser Raum zur eigenen Interpretation, falls dieser den oft explizit von „Mainstream-Positionen“ abweichenden Interpretationsvorschlägen von Pollmann nicht folgen möchte.
Ich wähle vier Themenbereiche aus, bei denen ich Bedarf einer weiterführenden Diskussion sehe.
Kriterien der Verletzung
Die Diagnose und Kritik vertiefter Entwürdigungserfahrungen wie die der Missachtung, Demütigung und Erniedrigung ist deutlicher mit objektivierbaren Kriterien für die gesteigerte Menschenrechtsverletzung zu verknüpfen. Der Hinweis auf eine vom Verletzer an die verletzte Person „kommunizierte Botschaft“ ist nicht ausreichend. Für den Fall, dass die Opfer der Verletzungen menschenrechtliche Beschwerde oder Klage anstreben, wird auch ihr subjektives Empfinden nicht hinreichend sein. Für eine menschenrechtliche Anerkennung und Sanktionierung braucht es überprüfbare Kriterien, dass der Verletzer eine „gesteigerte Menschenrechtsverletzung“ verübt hat.
Auswege aus der Verletzung
Perspektivisch sollte auch in den Blick geraten, dass die Entwürdigten nicht notwendig in einem Leben in gleicher Würde den Ausweg aus ihrer verletzten Selbstachtung sehen, sondern dass sie auch durch die Anerkennungsangebote exklusiver extremistischer oder fundamentalistischer Gruppierungen angezogen werden können.
Leben in Würde
Der menschenrechtlich nicht würdeverletzte Mensch ist nicht schon der Mensch, der in Würde lebt. Er kann durch Private in seiner Würde verletzt werden und lebt u.U. gleichzeitig sowohl in würdegeschützten „konstitutionellen Verhältnissen“ wie in ungeschützten würdeverletzenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Pointiert: Menschenrechtlicher Würdeschutz ist nur halber Würde-Schutz! Zu diskutieren ist, welche Dynamik diesem „Zwei-Bereiche-Befund“ innewohnt? Wird es weiterhin eine Koexistenz dieser zwei Würdewelten geben oder gibt es erkennbare Kräfte, die auch Bereiche privater Würdeverletzung unter menschenrechtlichen Schutz stellen wollen und können? Oder begnügt man sich mit einem Brückenkonzept wie dem der Kultur der Menschenrechte, das Anerkennung gleicher Würde in beiden Welten generieren soll?
Lernprozesse
Mit der Charakterisierung menschenrechtlicher Entwicklung als kollektive Lernprozesse öffnet Pollmann ein wichtiges Themenfeld. Allerdings fordert seine doch etwas eindimensional geratene Fokussierung auf das Lernen aus monströsen Gewalterfahrungen und aus Katastrophen der Inhumanität dazu heraus, das Thema theoretisch weiter zu öffnen und dann systematisch zu fragen: Wer lernt wann was über und für die Menschenrechte. Noch gänzlich im toten Winkel der Analyse liegt die Thematik des Lernens durch Bildung! Die Hochschätzung des Lernpotenzials „lebensweltlicher Erfahrungen“ in der Abgrenzung wenig lernförderlicher Lektüre von Rechtstexten und der Rezeption theoretischer Erörterungen macht einen falschen Gegensatz auf, durch den aus dem Blick gerät, welche Bedeutung Bildung hat, um aus Erfahrungen lernen zu können. Der Text von Pollmann selbst ist ein gutes Beispiel für die Komplexität und Kontroversität des Themas „Menschenrechte und Menschenwürde“ und dafür, dass es nur schwerlich möglich ist, ein Leben in gleicher Würde zu führen und zu verteidigen, ohne Allgemeinbildung und ohne menschenrechtsorientierte Bildung.
Der Autor zeigt, wie die zwei ehemals unabhängig voneinander existierenden Begriffe der Menschenrechte und der Menschenwürde unter dem Eindruck extremer Unrechtserfahrungen konzeptionell miteinander verknüpft werden. Die Menschenwürde soll zwar unantastbar sein, erweist sich aber empirisch als hochgradig antastbar und braucht deshalb den Schutz der Menschenrechte. Durch die Verknüpfung mit der Menschenwürde erfahren die Menschenrechte eine inhaltlichen Akzentverschiebung: vom Schutz gleicher Freiheit zum Schutz gleicher Würde. Sie wird als Potenzial verstanden, ein Leben in gleicher Würde führen zu können, was mehr ist, als nur frei von Verletzungen zu bleiben. Während diejenigen Würdeverletzungen, die vom Staat verübt werden, in den Menschenrechten Instrumente des Schutzes gefunden haben, ist ein angemessener Schutz für Würdeverletzungen unter Privaten erst noch zu entwickeln.
Fazit
Der Autor bietet eine sehr lesenswerte Studie zu den Menschenrechten, der Menschenwürde und ihrer Verknüpfung unter dem Eindruck extremer Unrechtserfahrungen. Er zeigt sowohl welchen Schutz die Menschenrechte der antastbaren Würde bieten können, wie auch welche Lebensbereiche (zumindest bislang) nicht unter diesem Schutz stehen.
Rezension von
Prof. em. Dr. Karl-Peter Fritzsche
Otto-von-Guericke Universität Magdeburg
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Es gibt 2 Rezensionen von Karl-Peter Fritzsche.
Zitiervorschlag
Karl-Peter Fritzsche. Rezension vom 01.12.2022 zu:
Arnd Pollmann: Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2022.
ISBN 978-3-518-29970-8.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2370.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29636.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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