Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Arist von Schlippe: Das Karussell der Empörung

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 02.05.2023

Cover Arist von Schlippe: Das Karussell der Empörung ISBN 978-3-525-40810-0

Arist von Schlippe: Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 246 Seiten. ISBN 978-3-525-40810-0. D: 23,00 EUR, A: 24,00 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Der Autor geht von der Grundannahme aus, dass jedem Konflikt ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden vorausgeht. Er geht den Gründen für eine Empörungsdynamik, die zu eskalierenden Konflikten führt nach, um schließlich Hinweise für ein angemessenes Verhalten in Konfliktsituationen geben zu wollen.

Autor

Arist von Schlippe ist Diplompsychologe, promovierte 1986 an der Universität Osnabrück und habilitierte 2001 eben dort im Fach Psychotherapie und Klinische Psychologie. Seit 2005 ist er Inhaber des Lehrstuhls 'Führung und Dynamik von Familienunternehmen' am Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Universität Witten/​Herdecke. Zwischen 1986 und 2015 arbeitete er als Lehrtherapeut für systemische Therapie, Coach und Supervisor.

Entstehungshintergrund

Der Autor bekennt in seinem als „Gebrauchsanleitung“ deklarierten Vorwort für dieses Buch, dass ihn die Aufgabe „Konflikte und ihre Dynamiken zu verstehen und Ideen zum Umgang mit ihnen zu finden“ in den letzten Jahrzehnten zunehmend mehr beschäftigt hat. Dabei wurde es ihm zum Anliegen, alle Leser, die sich in eskalierenden Konflikten unterschiedlichster Art und Situation befinden, persönlich erreichen zu wollen, um letztlich auch Anregungen für den Umgang mit Konflikten zu übermitteln. Zugleich ist es ihm ein Bedürfnis, einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung unter Anerkennung der hilfreichen Bedeutung der Ideen der Systemtheorie leisten zu wollen.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei Teile auf, die durchgehend in einundzwanzig Kapitel untergliedert sind. Einem vierten Teil schließt sich ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein die wichtigsten Punkte erfassendes Stichwortverzeichnis an.

Inhalte

Der erste Teil (Kapitel 1- 5) ist mit 'Keine Angst vor Theorie' überschrieben. Unter dem Titel 'Die Form des Konflikts' wird der Frage nachgegangen, was eigentlich ein Konflikt ist? Dem Autor geht es dabei darum, auf die Dynamik eskalierender Konflikte und deren sowohl positivem wie auch negativem Potenzial einzugehen. Des weiteren weist er darauf hin, dass man einen Konflikt nicht allein und auch nicht für sich allein haben kann (vgl. S. 25).

Konfliktdynamiken gelte es verstehen zu lernen, um eine Eskalation einzugrenzen – vor allem dann, wenn diese „aus den missglückten Versuchen entstehen, einen Konflikt zu lösen“(S. 37).

Von Schlippe schließt das Kapitel mit dem Rekurrieren auf drei verschiedene systemische Definitionen aus der Literatur ab. Er entnimmt ihnen die Erkenntnis, dass sich ein Interaktionsgeschehen durch einen Prozess des wechselseitigen Widerspruchs in ein Konfliktsystem hinein entwickelt und sich somit alles verschärft (ebd.).

Im nachfolgenden Kapitel geht es um Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen und hierbei zunächst um 'Die Unwahrscheinlichkeit von Ordnung und Verständigung'. Dabei rekurriert er auf Niklas Luhmann und dessen drei Unwahrscheinlichkeiten und fragt danach, wie angesichts derer Kommunikation überhaupt gelingen könne? Zudem sieht er das Problem der wechselseitig füreinander bestehenden Undurchschaubarkeit, weshalb Kommunikation aufgrund bestehender Kontingenz, unter der die Wahrscheinlichkeit verstanden wird, dass auf ein Verhalten sowohl positive wie auch negative Konsequenzen folgen, mit einem gewissen Risiko behaftet ist. In diesem Zusammenhang sind dann Erwartungs-Erwartungen zu sehen, welche Beziehungsstörungen mit entsprechenden Kommunikationsmustern bis hin zur Konfliktentstehung generiert. Der Autor legt dar, dass enttäuschte Erwartungen intensive Gefühle hervorruft, „die in der Kommunikation als Empörung vermittelt werden“ und konstatiert, dass „Empörung .. der stärkste Treiber für das Karussell der Konflikte [ist]“ (S. 53).

Damit gelangt der Autor zu einem der Kernthemen seines Buches, indem er im dritten Kapitel sich der Gefühlsebene der Konflikte zuwendet. Er erläutert, warum Gefühle in der systemischen Therapie ihre Bedeutung finden und wo der Zusammenhang zwischen Empörung und Gerechtigkeit zu finden ist. Von Schlippe sieht eine enge Verbundenheit von Empörung mit der eigenen Haltung dazu und letztlich zum eigenen Gerechtigkeitsempfinden: „Wenn das eigene Gerechtigkeitsempfinden verletzt ist, wird eine besondere Form von Emotion ausgelöst, …“ (S. 59). Man empört sich über Ungerechtigkeit und ist überzeugt, selbst im Recht zu sein. Diese Emotion wird vom Autor dann als Motor und Mittelpunkt eines Empörungskarussells gesehen.

In den beiden letzten Kapiteln folgen Einlassungen über den Zusammenhang von Kommunikation mit dem jeweils wahrgenommenen Kontext. Das bedeutet für von Schlippe, dass die Bedeutung einer Kommunikation durch den jeweiligen Kontext bestimmt werde, weshalb er sich stärker mit dem Kontextbegriff (z.B. als Polykontexturalität) als Systembegriff der Systemtheorie auseinandersetzt (S. 76 ff.) und letztlich erkennt, dass Kommunikationen Elemente sozialer Systeme sind.

Der zweite Teil des Buches (Kap. 6 - 15) baut auf der Erkenntnis auf, dass Konflikte als Sozialsysteme mit einer besonderen Dynamik verstanden werden können. Des weiteren auf der Erkenntnis, dass „die Erwartungsstrukturen, die die Beteiligten jeweils dem anderen gegenüber entwickelt hatten, […] sich ins Negative gewendet [haben]“( S. 89). Im Prinzip geht es nunmehr um die Kausalität der Zusammenhänge zwischen den moralischen Empfindungen und deren Auswirkungen auf die Kommunikation (miteinander). Und so stellt der Autor zunächst die Frage danach, wer angefangen hat, sodann wird die Kraft von Erwartungen hinterfragt, um schließlich auf Enttäuschungen und ein scheinbar paradoxes Verhalten von Menschen in Konfliktsituationen gerade in zwischenmenschlichen Beziehungen einzugehen.

So verlässt von Schlippe in Kapitel 8 die Erklärungsebene des sozialen Systems und geht auf den für ihn wichtigen Kontext der Kommunikation mit dem seelischen Erleben ein. Hier spielen für ihn sowohl das Selbstwertgefühl wie auch die Wertschätzung eine bedeutende Rolle. Er sieht in der Resonanz der Akteure die enge Verbundenheit seelischer und kommunikativer Prozesse, illustriert das Ganze mit einem Beispiel, wie sich aus Nichtigkeiten in Windeseile ein heftiger Streit entwickelt (vgl. S. 112 f.) und letztlich zum 'Karussellfahren' führt und spricht von einer Konfliktdynamik, die bis zu einer existentiellen Gefährdung durch Beeinträchtigung des überlebenswichtigen Selbstwertgefühls führen kann.

Im nachfolgenden Kapitel werden die personenbezogene Zurechnung und Motivunterstellungen aufgrund des einseitigen Blickes, welcher zu Wahrnehmungsverszerrungen führt, erläutert. Sein Fazit daraus ist, dass man „zunehmend blind für den eigenen Anteil am Konflikt wird“, während sich das Karussell immer weiter drehe (S. 131).

Ein sich immer schneller drehendes Karussell führt nach von Schlippe zu einer von Verdacht und Misstrauen gekennzeichneten Einstellung gegenüber dem anderen, die letztlich in einer Dämonisierung – indem man den anderen entweder für dumm, krank oder böse hält – führt (vgl. Kapitel 10).

Die nachfolgenden Kapitel beschäftigen sich zum einen mit gefährlichen Gedanken, die sich etwa aus der Idee der eigenen Überlegenheit und der Andersartigkeit des anderen ergeben, ober aber zum anderen mit verschiedenen Stufen der Eskalation (so insbesondere Kapitel 15). Der Autor rekurriert dabei auf Franz Glasl, der in seinem Buch 'Eskalationsdynamik – zur Logik von Affektsteigerungen' eine neunstufige Konfliktleiter entworfen hat. Ohne diese erneut referieren zu wollen, erläutert von Schlippe den Weg eines Konfliktes von der primären Verhärtung bis hin zu einem 'point of no return', den er dann erreicht sieht, wenn der Moment erreicht ist, wo „die Dynamik von der Sachseite umkippt auf den persönlichen Angriff auf den anderen übergeht“ (S. 172).

Dies führt den Autor zu Konfliktsituationen in den Paarbeziehungen, indem er sich dem Modell der „apokalyptischen Reiter“, wie es von John Gottman entworfen wurde, zuwendet. Ohne näher auf diese einzugehen, seien insbesondere genannt: Hemmungslose Kritik, Anklagen und Schuldzuweisungen, Abwehr und Rechtfertigung, Verachtung, Abblocken. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie sich die apokalyptischen Reiter unter den Bedingungen digitaler Kommunikationsmedien verändern (vgl. S. 177). Dabei werden die Gefahren eines schnelleren Erreichens eskalativer Höhen, der schnellen Ausweitung des Adressatenkreises und zunehmender möglicher Missverständnisse mit sich einer daraus ergebenden Steigerung der Konfliktdynamik erkannt.

Der dritte Teil umfasst die Kapitel 16–21, beendet das Karussellfahren und beschäftigt sich mit Wegen im Konflikt und einem möglichen Ausstieg. Auch in diesem Teil will von Schlippe „keine detaillierten Handlungsanweisungen für ein strukturiertes Vorgehen in Moderation und Mediation geben“ (S. 183). Es geht ihm vielmehr um eine Standortbestimmung unter Berücksichtigung seines persönlichen Erfahrungswissens. Zudem soll der Aspekt der 'Bewusstheit' in den Vordergrund gestellt werden – es geht darum Konfliktdynamiken bewusst zu verstehen, mittels eines veränderten Blicks zu einem veränderten Handeln zu gelangen und „Denkwerkzeuge“ in den Vordergrund zu stellen.

Der Autor wendet sich sodann der 'Rehabilitierung der Empörung ' (Kapitel 16) zu, weil er glaubt, dass diese zum einen Aspekt einer Steigerungsdynamik ist, zum anderen „mit dem Anspruch verbunden ist, dass 'alles' erlaubt sei, um den anderen dahin zu bringen, dass er sich so verhält, wie wir es wollen“ (S. 286 f.). Zugleich wird aber auch der Frage nachgegangen, wie Empörung konstruktiv genutzt oder verwandelt werden könne.

Es folgen Gedanken über das Management von Konflikten (siehe Kapital 17), über 'Consciousness raising' (Kapitel 18) im Sinne von der eigenen Bewusstheit im Konflikt, um Positionen und Interessen, die oft gleich zu Beginn einer Auseinandersetzung geäußert werden (Kapitel19), oder aber um Reflektion etwa im Sinne der Selbstbeobachtung, gekennzeichnet durch einen 'blinden Fleck', der jeder Beobachtung nach von Schlippe zu eigen ist: „Es liegt in der Natur der Dinge, dass jede Beobachtung den Teil, den sie fokussiert, scharf stellt, wobei zugleich andere Aspekte unscharf werden“( S. 213).

Anschließend geht der Autor auf praxisbezogene, beispielhafte Umsetzungen über und schließt das Buch auf wenigen Seiten im vierten Teil mit zehn Empfehlungen für den Umgang mit Konflikten ab. Es sind von ihm mit Kollegen der Universität Witten/​Herdecke für die „persönliche Weiterführung“ entwickelte Empfehlungen, die zu einem sensibleren und konstruktiveren Umgang mit Konflikten beitragen sollen.

Diskussion

Es ist dem Autor gelungen, eine hochaktuelle Thematik aufzugreifen; zu beschreiben, welche psychologischen Vorgänge in uns Menschen vor sich gehen, die nicht selten eine Eigendynamik entwickeln, welche wiederum zur Eskalation von Konflikten führen. Vieles von dem, was von Schlippe sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen, wie auch einem hohen Verständlichkeitsgrad genügend analysiert und beschreibt, lässt sich weg von Alltags- oder auch Gesellschaftsgegebenheiten ebenso auf die höhere Ebene der Politik übertragen.

Eine Zeit der internationalen Konflikte – sei es nun ein Krieg auf europäischem Boden, eine dramatische Zuspitzung sowohl der klimatischen Veränderungen, der nicht nachlassenden Flüchtlingsströme oder aber innergesellschaftlicher Umbrüche und Prozesse – stellt Fragen danach, wie Konflikteskalation funktioniert, wie man sie verstehen und begrenzen kann. 

Insofern bietet von Schlippe durchaus Hilfestellung und gibt Hinweise, um das sich immer aufs Neue drehende „Karussell der Empörung“ begreifbarer zu machen – auch, wenn er expressis verbis keine Lösungen anbieten möchte, oder sein Buch als Ratgeber verstanden wissen will. Dies mag man bedauern; es muss aber schließlich dem Autor zugestanden werden, dass er dies eigentlich im seriösen Sinne gar nicht zu leisten vermag.

Fazit

So ist „Das Karussell der Empörung“ letzten Endes ein Buch, das zum einen irgendwie eine Sichtweise zu vermitteln vermag, wie man Konflikte besser erkennt und versteht, ohne konkrete Lösungsmöglichkeiten oder gar Handlungsanweisungen geben zu wollen. Zum anderen muss der Leser sich im Klaren darüber sein, dass gerade im Hinblick auf eine derartige wissenschaftsorientierte Zielsetzung nur eine bedingte Praktikabilität hinsichtlich einer personenbezogenen Umsetzung gegeben ist – auch wenn der Autor in einer ganzen Reihe von sehr praxisbezogenen Beispielen recht nahe an eine alltagstaugliche Ratgeberfunktion heranrückt.

Ein Buch, dessen erkenntnisleitendes Interesse in der Art eines Konfliktmanagements für jedermann gesehen werden darf.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
Mailformular

Es gibt 85 Rezensionen von Peter Eisenmann.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245