Birgit Averbeck, Filip Caby u.a. (Hrsg.): Kooperation im Kinderschutz
Rezensiert von Dr. Carsten Rensinghoff, 01.06.2023

Birgit Averbeck, Filip Caby, Björn Enno Hermans, Ansgar Röhrbein (Hrsg.): Kooperation im Kinderschutz. Handbuch für eine systemische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 320 Seiten. ISBN 978-3-525-40811-7. D: 40,00 EUR, A: 42,00 EUR.
Thema
Wie an den unterschiedlichen Qualifikationen erkennbar, ist hilfeorientierter Kinderschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Derartig praktizierter Kinderschutz erkennt das Expertentum in eigener Sache von Kindern, Jugendlichen und Eltern. Kinderschutz gelingt so „nur im Dialog, mit Beteiligung, Transparenz und Mut“ (Klappentext).
HerausgeberInnen
Birgit Averbeck ist Diplomsozialpädagogin. „Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Aufbau interdisziplinärer Helfernetzwerke unter anderem zum Kinderschutz“ (Klappentext).
Filip Caby ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut.
Björn Enno Hermans ist Diplompsychologe, Systemischer Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapeut und Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Schwerpunkt Systemische Psychotherapie.
Ansgar Röhrbein ist Diplompädagoge. Er leitet das Märkische Kinderschutz-Zentrum in Attendorn.
Entstehungshintergrund
Mit dieser Veröffentlichung soll der systemische Blick auf den Kinder- und Jugendschutz gerichtet werden. Es soll klar werden, dass mehrere Instanzen für das Kindeswohl entscheidend sind, damit Hilfeorientierung gewährleistet ist.
Aufbau
- Kinderschutz geht nur gemeinsam – einführender Dialog zum Thema Kooperation
- Einleitende Gedanken zu den statistischen Aufbereitungen des Themas Kindesmisshandlung und -vernachlässigung – eine (unvollständige) Annäherung an ein komplexes Phänomen
- Thematische Grundlagen
- Fokus Gesundheitswesen
- Fokus Sozialraum, Quartier, Kiez
- Fokus Hilfen zur Erziehung
- Fokus Recht und Gericht
- Besondere Orte und Aufgaben
- Methodische Beispiele im Netzwerk Kinderschutz
Inhalt
Für die entwicklungspsychologischen Grundlagen bezüglich des systemischen Kinderschutzes, so Sonja Bröning, sind die Ausführungen Uri Bronfenbrenners zur ökosystemischen Theorie wichtig, da sie auf die Bedeutung des Kontextes hinweisen.
Jochen Schweitzer weist im Gespräch mit Ansgar Röhrbein auf die dringende Notwendigkeit des Netzwerkens, Kooperierens in der frühen Hilfe hin.
Die rechtliche Perspektive des systemischen Kinderschutzes betrachtet Reinhard Wiesener. Hier wird der Kinderschutz aus verschiedenen Organisationsformen heraus betrachtet, wie der elterlichen Erziehungsverantwortung, dem staatlichen Wächteramt oder dem schulischen Kinderschutz.
Was bieten die digitalen Medien zum Kinder- und Jugendschutz an, denn die Gefahren, die vom Internet ausgehen, so Joachim Wenzel und Stephanie Jaschke, sind vielfältig. Einen hohen Stellenwert hat hier das Smartphone, da es sich hierbei „um den Dreh- und Angelpunkt der alltäglichen Kommunikation“ (S. 86) handelt.
In welcher Weise befasst sich die hochschulische Ausbildung mit dem Kinderschutz. Diese Frage beantworten Michael Böwer und Regine Rätz mit Blick auf den Bachelorstudiengang Soziale Arbeit und dem Masterstudiengang mit dem Schwerpunkt Frühe Hilfen und Kinderschutz an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
Den Blick auf das Gesundheitswesen richten Filip Caby und Rieke Oelkers-Ax über die Kinder- und Jugendpsychiatrie. In diesem Kontext ist der Kinderschutz selten in Erscheinung getreten. Es wurde vielmehr eher von außen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie hineingetragen.
Das Thema Kinder psychisch kranker Eltern behandeln Bernward Vieten und Filip Caby in ihren Ausführungen.
Was der gemeindepsychiatrische Dienst zum Kinderschutz liefern kann, diskutieren Birgit Görres, Nils Greve und Birgit Richterich u.a. mithilfe der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft Duisburg.
Jessika Kuehn-Velten und Frauke Schwier betrachten die S3+-Leitlinie Kinderschutz. Hierbei handelt es sich um eine Schnittstelle zwischen Medizin und Jugendhilfe. Die Autorinnen merken an, dass hier noch etwas fehlt: Es fehlt „die Umsetzung und Weiterentwicklung mit den Adressat:innen, so, dass nicht größere Angst entsteht: ‚Die Fachkräfte rücken zusammen – müssen wir uns Sorgen machen?‘“ (S. 141).
Elterliche Abhängigkeit von illegalen Suchtstoffen wird im Zusammenhang mit Kinderschutz von Petra Ape und Birgit Averbeck behandelt. Dies geschieht z.B. mit Fokus auf Kooperation und Kinderschutz in Dortmund.
Kathrin Stoltze, Heiko Schumann und Elke Stechbarth stellen fest, dass Rettungsdienstmitarbeitende „zur professionellen Verantwortungsgemeinschaft im Kinderschutz“ (S. 166) gehören. Hierzu zählt die steigende Anzahl von Misshandlungen gegen Kinder und Jugendliche.
Wie sieht es mit dem Kinderschutz aus, wenn Eltern nicht mehr lange leben? Hier rücken Tod und Sterben ins Zentrum der Betrachtung. Monika Jost, Anja Novostel, Tim Reuter und Walter Tewes befassen sich ausführlich mit der klinischen Hospiz- und Palliativarbeit.
Eine besondere Herausforderung, so Andrea Caby und Liane Simon, stellen „Kinder mit bekannten oder drohenden Entwicklungsbeeinträchtigungen“ (S. 191) dar. Betrachtet werden hier u.a. Frühförderstellen und sozialpädiatrische Settings.
Im Sozialraum bietet der Familienrat eine Chance. Hierüber, so berichtet es Heike Hör, werden rechtliche und fachliche Anforderungen an einen erfolgreichen Kinderschutz berücksichtigt. Über den Familienrat können Familien in problematischen Lebenssituationen gestärkt werden. Hierfür treffen sich Familien, Verwandte, Freundinnen und Freunde, „um die aktuellen Schwierigkeiten und fachlichen Informationen oder auch Anforderungen zum Kinderschutz zu diskutieren, eigene Lösungsideen zu entwickeln und zu entscheiden, welche professionellen Hilfen beauftragt werden sollen“ (S. 205).
Die Professionalisierung des Kinderschutzes in Kindertagesstätten im Netzwerk Kinderschutz in Kitas ist ein Thema des Beitrags von Kim Heinzer, Sabrina Müller, Uwe Hindrichs und Ansgar Röhrbein.
Nathalie Kompernaß, Tanja Tschöke, Stefan Schröder und Ansgar Röhrbein sind in unterschiedlichen Institutionen mit dem Kinder- und Jugendschutz befasst. Und ihr Beitrag nimmt die Kooperation in eben diesem Kinder- und Jugendschutz aus diesen vier Perspektiven unter die Lupe – und das sind:
- der kommunale Allgemeine Soziale Dienstag
- das kommunale Schulamt
- die förderschulische Schulsozialarbeit
- das klinische Kinderschutz-Zentrum.
Diese Betrachtung zeigt die Notwendigkeit des kooperativen Kinderschutzes.
Mit Bezug zu § 27 SGB VII ist ein Angebot der Jugendhilfe die Erziehungsberatung. Hierbei handelt es sich um eine Hilfe zur Erziehung, derer sich Ines Ellesser widmet.
Als ein großes Feld außerfamiliärer Bildung und Erziehung wird nach §§ 11; 12 SGB VIII die Kinder- und Jugendarbeit von Tobias Falke behandelt.
Petra Hiller macht Ausführungen zum systemischen Kinderschutz in stationären Erziehungshilfeeinrichtungen.
Im Anschluss befasst sich Tabea Karla mit dem Kinderschutz in teilstationären Settings.
Monika Rüsch beantwortet die Frage nach den besonderen Bedingungen und Herausforderungen des Kinderschutzes in Pflegefamilien. Es geht hier um „Kontakt statt Kontrolle“ (S. 278). Es wird der Frage nachgegangen, wie die Zusammenarbeit zwischen Fachdienst und Pflegeltern idealerweise aussieht, damit Erstgenanntem „erfreut die Tür“ (ebd.) geöffnet wird.
Mit der Inobhutnahme i.S. einer sozialpädagogischen Krisenintervention befasst sich, mit Bezug auf einen systemischen und hilfeorientierten Kinderschutz, der Beitrag von Helmut Maier.
Weil der Mensch lebenslänglich auf das Zusammenspiel mit anderen Menschen angewiesen ist, können Frühe Hilfen, wie Birgit Maschke, Gabriele Biehl und Detlef Schütze ausführen, notwendig werden. Das Instrument Frühe Hilfen ist dann erforderlich, um in den ersten Lebensjahren einen Mangel an Zuwendung und Versorgung zu vermeiden. Ein derartiger Mangel nimmt u.U. negativen Einfluss auf das weitere Leben.
U.a. gilt „kriminelles Verhalten eines Elternteils […] generell als Risikofaktor für eine gesunde Entwicklung von Kindern“ (S. 325). Aus diesem Grund – und auch mit dem Blick auf straffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen – wird von Andreas Klink der Kinderschutz in kriminalpräventiven Netzwerken betrachtet.
Raimund Schwendner und Filip Caby befassen sich mit dem Kinderschutz im familiengerichtlichen Kontext.
Die elterliche Trennung hat Auswirkungen auf die Gestaltung der kindlichen Lebensumwelt. Annika Falkner nimmt in ihren Ausführungen die Perspektive familiengerichtlicher Sachverständiger ein.
Mit den rechtsmedizinischen Möglichkeiten im Kinderschutz befassen sich Sibylle Banaschak und Tanja Brüning. Die Autorinnen stellen heraus, dass der medizinische Kinderschutz und die Netzwerkarbeit einen sich dynamisch entwickelnden Bereich darstellen. Hieran ist die Rechtsmedizin beteiligt. Durch derartige Kooperationen wird die systemische Arbeit gestärkt.
„Eine besonders wichtige Rolle bildet eine sozialarbeiterische Haltung, die den Kinder- und Jugendschutz in Flüchtlingsunterkünften vor allem präventiv angeht, und ein Vorgehen, das Sichtweisen, Absichten und Ziele aller Akteure in den Hilfsangeboten wertschätzt und diese beteiligt“ (S. 382), wie Claas Jörges und Stefanie Horstmann in ihrem Beitrag konstatieren.
Mit der Fachberatung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft im kooperativen Kinderschutz befasst sich Stefan Heinitz. Eine insoweit erfahrene Fachkraft „steht als kooperativer Standard in öffentlicher Gesamtverantwortung allen im Kinderschutz Tätigen verbindlich zur Verfügung“ (S. 395).
Diskussion
Über die hessenschau (2023) erfahren wir das die Zahl der Kindesmisshandlungen 2020, im ersten Pandemiejahr, einen Höchststand erreicht hat.
Sexuelle Gewalt an Kindern wurde vom Mainzer Bistum über Jahrzehnte hinweg „nicht konsequent verfolgt, teils verschwiegen und verharmlost […]. ‚Das Bistum als verantwortliche Institution hat durch unangemessenen Umgang und mangelnde Kontrolle in vielen Fällen sexuellen Missbrauch begünstigt‘. […] Pfarrgemeinden hätten mit einer Solidarisierung mit Beschuldigten und der Diskreditierung von Opfern eine Aufklärung erschwert und weitere Vorfälle ermöglicht“ (PANORAMA 2023).
Im Februar 2023 wurde ein fünfjähriger Junge in Hagen von Polizei und Jugendamt „aus verwahrlosten Lebensumständen geholt und in Obhut genommen. […] Er habe offenbar eingeschlossen im Kinderzimmer gelebt, in dem sich nur eine Matratze und ein Eimer für seine Notdurft befanden“ (PANORAMA 2023a).
„Das Landgericht Stralsund hat einen Mann wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Wie ein Sprecher des Landgerichtes am Dienstag sagte, hatte der 33-Jährige im Prozess gestanden, sich im Januar 2020 in seiner Wohnung an zwei geistig behinderten Jungen vergangen zu haben“ (rnd 2023).
Die Medienberichte zum Missbrauch von Kindern lässt sich um ein Vielfaches fortsetzen. Eine Kooperation der unterschiedlichsten Stellen ist hier unabdingbar. Die bis hierhin besprochene Publikation ist hierfür bestens geeignet, denn: „Wer einen zukunftsorientierten Wegweiser für die professionelle Weiterentwicklung sucht, wird hier fündig“ (Klappentext).
Fazit
Die Beiträge betrachten die systemische Praxis zum Kinder- und Jugendschutz aus unterschiedlichen Perspektiven. So schreiben Kompernaß/Tschöke/Schröder/Röhrbein ihre Ausführungen bewusst als „Kleeblatt, um die unterschiedlichen Institutionen […] in der Autor:innenschaft abzubilden“ (S. 223). Unter diesen Bedingungen richtet sich die Publikation an all die, die mit dem Kinder- und Jugendschutz befasst sind und die Kooperation in diesem Feld stärken wollen.
Literatur
hessenschau: Mehr Kindesmisshandlung in der Pandemie – was wir dagegen tun können. URL: https://www.hessenschau.de/gesellschaft/​mehr-kindesmisshandlung-in-der-corona-pandemie---was-wir-dagegen-tun-koennen,thema-kindesmisshandlung-pandemie-100.html#:~:text=Fast%2061.000%20Meldungen%20von%20Kindeswohlgef%C3 %A4hrdungen,959%20auf%201.025)%20nach%20oben. [Download: 30.04.2023].
PANORAMA: Umgang mit Kindesmissbrauch. „Hässlicher Wesenszug” – heftige Kritik an Kardinal Lehmann. URL: https://www.n-tv.de/panorama/​Haesslicher-Wesenszug-heftige-Kritik-an-Kardinal-Lehmann-article23970359.html [Download: 30.04.2023].
PANORAMA: Ohne Essen im Zimmer eingesperrt. Fünfjähriger aus verwahrloster Wohnung gerettet. URL: https://www.n-tv.de/panorama/​Fuenfjaehriger-aus-verwahrloster-Wohnung-gerettet-article23916190.html [Download: 30.04.2023a].
rnd – RedaktionsNetzwerk Deutschland: Geistig behinderte Kinder sexuell missbraucht: Mehr als 4 Jahre Haft für 33-jährigen. URL: https://www.rnd.de/panorama/​geistig-behinderte-kinder-sexuell-missbraucht-mehr-als-vier-jahre-haft-fur-33-jahrigen-6JKD7LI53ML5YXVAHH6DKHCO5U.html [Download: 30.04.2023].
Rezension von
Dr. Carsten Rensinghoff
Teilhabeberater, EUTB – Verein zur sozialen und beruflichen Integration (VSBI e.V.) in Sangerhausen,
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Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 01.06.2023 zu:
Birgit Averbeck, Filip Caby, Björn Enno Hermans, Ansgar Röhrbein (Hrsg.): Kooperation im Kinderschutz. Handbuch für eine systemische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2022.
ISBN 978-3-525-40811-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29643.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
Urheberrecht
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