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Tobias Meier, Leo Penta u.a. (Hrsg.): Community Organizing

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 14.10.2022

Cover Tobias Meier, Leo Penta u.a. (Hrsg.): Community Organizing ISBN 978-3-7799-6804-7

Tobias Meier, Leo Penta, Andreas Richter (Hrsg.): Community Organizing. Eine Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 310 Seiten. ISBN 978-3-7799-6804-7. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Der Sammelband führt in das Community Organizing (CO) ein. Ein Ansatz, der sich in den 1930er Jahren im Kontext der Arbeiterbewegung in den USA entwickelt hat und seit den 1990er Jahren auch in Deutschland rezipiert wird. Kurz zusammengefasst, ist Community Organizing ein Prozess strukturierter Offenheit, der Menschen (und Organisationen) bei der Selbstorganisation unterstützt, um gemeinsame Interessen öffentlich so zu artikulieren, dass strukturelle Veränderung hin zu einer sozialgerechteren Gesellschaft verwirklicht werden können.

Hintergrund

Der Sammelband baut auf dem Band auf, der im Jahr 2007 unter dem Titel „Community Organizing. Menschen verändern ihre Stadt“ erschienen ist und erweitert diesen um aktuelle Perspektiven. Aus dem Band wurden drei Grundlagentexte zur historischen Einordnung des Community Organizing übernommen. Die ‚Neuauflage‘ versammelt ansonsten Beiträge, welche die weitere Etablierung des Ansatzes in den USA und auch in Deutschland in den letzten 15 Jahren – insbesondere mit Blick auf die Arbeit des Deutschen Instituts für Communtity Organizing (DICO) – reflektieren und die gegenwärtigen Potenziale des Community Organizing ausloten. Alle Beiträge, die aus dem englischen Sprachraum übernommen wurden, sind ins Deutsche übersetzt.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband ist in sechs Kapitel gegliedert. Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit der Historie und den Grundlagen von Community Organizing. Die folgenden beiden Kapitel behandeln die Aspekte religiöser Vielfalt und Kultur im Organizing. In den zwei abschließenden Kapiteln wird die Praxis des Community Organizing reflektiert und eine Handreichung für eine praktische Umsetzung des Ansatzes zur Verfügung gestellt.

Nach einem knappen Vorwort der Herausgeber, beginnt der Band in Kapitel I „Anfänge in den USA“ mit einem Interview von Eric Norden mit Saul Alinsky aus dem Jahr 1972. Saul Alinsky gilt als derjenige, der den Ansatz in den USA in den 1930er Jahren entwickelt hat. Im Interview wird deutlich, wie stark Community Organizing von der Biografie und vom Charakter Saul Alinsky geprägt ist, der keine Hemmschwellen kannte, Beziehungen auch zu Menschen aufzubauen, die in den Augen der Mittelschicht abschätzig als kriminell oder unfähig betrachtet werden und der sich nicht davon abbringen ließ, Vorhaben anzugehen, die alle anderen für unmöglich hielten.

An das Interview anschließend zeigen Leo Penta und Tobias Meier, wie sich der Ansatz Community Organizing nach dem Tod Saul Alinsky's im Jahr 1972, insbesondere die von Alinsky gegründete Industrial Areas Foundation, weiterverbreitete und weiterentwickelte.

Luke Bretherton rekonstruiert sodann die Ursprünge des Community Organizing im Judentum, der ‚Settlement-Bewegung‘, der Stadtethnografie (insbesondere des organisierten Verbrechens), der Gemeinwesenarbeit, der Gewerkschaftsarbeit sowie der Religion. Als Schlüsselaufgabe des Community Organizing arbeitet er heraus, dass es nicht um die Befriedigung sozialer Grundbedürfnisse gehe, sondern darum, die 'Habenichte' zu organisieren, um gegenüber den 'Habenden' eine zivilgesellschaftliche Machtstruktur aufzubauen, die möglichst mit (und nicht gegen) die bestehenden Machthaber*innen für eine sozialgerechtere und menschenwürdige Welt (öffentlich) streitet.

Nachfolgend skizziert Leo Penta exemplarisch am Beispiel des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn, wie soziale Probleme durch den Aufbau kollektiver Macht in Nachbarschaften angegangen und so eine deutliche Steigerung der Lebensqualität sozial benachteiligter Gruppierungen erreicht werden kann. Der Autor verdeutlicht ferner, wie gesellschaftliche Analysen den Ausgangspunkt für Veränderungsprozesse bilden können und dass auch (scheinbar unmögliche) strukturelle Veränderungen möglich werden, wenn der richtige Hebelpunkt gefunden wird.

Im Beitrag von Michael Gecan wird die von Penta skizzierte Entwicklung in Brooklyn, New York, als community organizing prozess noch einmal ausführlicher dargestellt, der im Bau von bezahlbarem Wohnraum – den ‚Nehemiah-Häusern‘ – einen bedeutsamen Erfolg verzeichnete.

In Kapitel II „Community Organizing als demokratisches Handeln“ identifiziert Helmut K. Anheier drei Akteursgruppen, die Zivilgesellschaft konstituieren:

  • Soziales Kapitel und soziale Netzwerke,
  • Gemeinnützige oder Nonprofit-Organisationen sowie
  • soziale Bewegungen.

Leo Penta fragt nach den kontraproduktiven Nebenfolgen einer administrativen Daseinsvorsorge und argumentiert mit Habermas, dass Solidarität (nebst Geld und administrativer Macht) eine der drei zentralen gesellschaftlichen Ressourcen ist, die es zu mobilisieren gilt, um die Betreuungsmentalität durch eine offensive Beteiligungskultur abzulösen.

Amanda Tattersall diskutiert zum einen die Übersetzung des Community Organizing Ansatzes nach Australien und stellt zudem ihre Forschung zu Netzwerken und Allianzen für sozialen Wandel (People Power Strategien) vor. Dabei ordnet sie Community Organizing als eine unter vielen (möglichen) Strategien ein.

Michael Gecan reflektiert in seinem Beitrag kritisch aktuelle Formen des Aktivismus in sozialen Medien (‚clicktivism‘) und plädiert für mehr Anerkennung des langwierigen Beziehungsaufbaus, der (oft ungesehen) die Voraussetzung für sozialen Wandeln schafft.

Kapitel III „Community Organizing und religiöse Vielfalt“ beginnt mit einem Beitrag von Brad R. Fulton und Richard L. Wood, der interreligiöse Aktivitäten eines ‚broad-based‘, ‚faith-based‘ oder ‚congregation-based‘ Community Organizing vorstellt. Basierend auf einer Follow-Up Studie aus dem Jahr 2011 wurden 189 Community Organizing Bündnisse online befragt, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Netzwerken und über die Zeit seit der ersten Erhebung im Jahr 1999 herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich, wie es in der Zusammenarbeit gelingt, allgemeine religiöse Bilder zu schaffen, die von allen akzeptiert werden können.

Auch der Beitrag von Christine Funk verdeutlicht, wie eine Basis über die gemeinsamen Themen (z.B. Wohnraum, Verkehr oder Bildung) hergestellt wird und Religion dabei helfen kann, Raum für menschliche Anteilnahme an Schicksalen auf Treffen einer multireligiösen Bürger*innenplattform zu schaffen.

Andreas Lob-Hüdepohl schreibt aus Perspektive kirchlicher Akteure (diakonischer Pastoral). Der Autor arbeitet mit einer Differenzierung von ‚Zivilgesellschaft‘ in Diskurs- und Tatlandschaft und plädiert für einen Community Organizing Ansatz, der diskursive Auseinandersetzung und tatkräftige Aktion miteinander verknüpft und dabei sozialpastorale Grundprinzipien verinnerlicht, um zu einer Verlebendigung der Demokratie und der sozialpastoralen Kirche beizutragen.

In Kapitel IV „Die Kultur des Organizings“ macht Leo Penta sich für ein Comunity Organizing stark, das auf den Traditionen des In-Beziehung-Tretens, des gemeinsamen Handelns, der Machtanalyse und der Reflexion aufbaut und zu einem lebendigen Gemeinwesen beiträgt, indem es politische (Gegen-)Kultur Prozesse einer demokratischen Gesellschaft initiiert und aufrechterhält.

Lina Jamoul stellt in ihrem Beitrag vor, auf welchen Prinzipien ein dauerhaftes Bündnis aus vielfältigen zivilgesellschaftlichen Akteuren – eine Bürger*innenplattform – basiert.

Andreas Richter fokussiert sich auf die (persönlichkeits-) Entwicklung von Qualitäten und der Bedeutung von Schlüsselpersonen (bzw. Leadern) im Rahmen von Bürger*innenplattformen. Gisela Renner befasst sich mit dem Aspekt der Inszenierung (im Sinne von öffentlich Sichtbar-Werden) bei der Planung und Durchführung von Aktionen des Community Organizing.

Tobias Meier systematisiert den Community Organizing Prozess als Dreieck zwischen Menschen, Macht und Ort. Abschließend beschreibt Leo Penta die Phasen beim Aufbau einer Bürger*innenplattform von der Sondierung bis zum Entstehen einer selbstständigen Bürger*innenorganisation.

Kapitel V „Aus der Praxis“ enthält einen Beitrag von Andreas Richter, der den Weg hin zu den Berliner Bürger*innenplattformen reflektiert sowie einen Aufsatz von Tobias Meier und Neele Behler, die den Organizing Prozess von Bürger*innenplattformen in Nordrhein-Westfalen beschreiben.

Sonya Winterberg weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass Community Organizing metaphorisch einem Marathonlauf gleicht und diskutiert, wie Durststrecken und Motivationstiefs überwunden werden können.

Jonathan Lange erörtert, wie Community Organizing und Gewerkschaftsarbeit historisch verwoben waren und reflektiert, welche Impulse die Arbeiterbewegung heute aus dem Community Organizing aufgreifen kann.

Abschließend betrachtet Sebastian Kurtenbach die Relation zwischen Quartiersmanagement und Community Organizing und entwirft ein Forschungsprogramm, das u.a. vorschlägt, die unterschiedlichen Steuerungslogiken ‚top-down‘ und ‚bottom-up‘ empirisch zu untersuchen.

Kapitel VI „Serviceteil“ enthält eine Auflistung der wichtigsten Organisationen und Akteure im Community Organizing, ausgewählte Literatur, ein Glossar sowie Arbeitsblätter, um einen Community Organizing Prozess durchzuführen.

Diskussion

Die Stärken des Bandes liegen m.E. darin, einerseits zentrale Grundlagentexte zum Ansatz des Community Organizing zu versammeln und zugleich auch die in den letzten 15 Jahren vollzogenen Entwicklungen im Community Organizing anschaulich darzustellen und zu reflektieren. Der Fokus der Darstellung liegt überwiegend auf der Arbeit des DICO in Deutschland. Dennoch wird deutlich, dass Community Organizing sich in Gemeinwesen- und Stadtteilarbeit als Ansatz in Deutschland daraus etablieren konnte. Obgleich einige Beiträge auf der Basis empirischer Daten argumentieren, wird doch erkennbar, dass noch Forschungsbedarf besteht. Die mitunter glorifizierten Geschichten erfolgreicher Community Organizing Prozesse zeigen zwar auf, was möglich ist und worin Fallstricke bestehen, sie arbeiten aber m.E. noch zu oberflächlich die Ambivalenzen heraus, die diesen Prozessen (zwangsläufig) inhärent sind. Weitere Forschung kann – wie Kurtenbach – argumentiert, den Ansatz von Community Organizing hinsichtlich unterschiedlicher Steuerungslogiken untersuchen. Auch grundsätzliche Fragen nach dem Erleben individueller und kollektiver Handlungsmächtigkeit in den Prozessen, der Formierung eines gemeinsamen ‚Wir‘, dem Umgang mit Macht und Anerkennung etc. wären spannende Themen für weitere Forschung, die damit auch eine Verbindung zur Praxis Sozialer Arbeit sucht. Obgleich im Band mitunter auch eine konfliktive Positionierung Sozialer Arbeit gegenüber dem Community Organizing angemerkt wird (z.B. S. 256), wird der Ansatz gerade auch von Sozialarbeiter*innen praktiziert, die bspw. in der Gemeinwesen- oder Stadtteilarbeit aktiv sind. In dieser Hinsicht bietet der Band eine Fülle (impliziter) Forschungsanschlüsse, die dazu beitragen würden, den Ansatz im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit verstärkt zu diskutieren und weiterzuentwickeln.

Fazit

Das Buch ist eine lesenswerte Lektüre für alle, die sich mit Community Organizing einführend beschäftigen möchten. Es adressiert sowohl Studierende als auch Professionelle, die sich mit Ansätzen beschäftigen (möchten), welche dazu dienen, basisdemokratische Strukturen in Gemeinwesen über langfristige Beziehungsarbeit aufzubauen und insgesamt das Ziel verfolgen, Zivilgesellschaft – gedacht als (solidarisches) Beziehungsnetzwerk – gegenüber den Kräften des Marktes und des Staates zu stärken. Interessierte Wissenschaftler*innen finden darin ein Feld empirischer Forschung, das bis dato noch zu wenig erschlossen ist und m.E. gerade im Fachdiskurs und der Praxis Sozialer Arbeit mehr Aufmerksamkeit verdient.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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Es gibt 15 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 14.10.2022 zu: Tobias Meier, Leo Penta, Andreas Richter (Hrsg.): Community Organizing. Eine Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6804-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29647.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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