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Anna Jerosenko, Nicola Maier-Michalitsch (Hrsg.): Schmerzen bei Menschen mit komplexer Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 07.03.2023

Cover Anna Jerosenko, Nicola Maier-Michalitsch (Hrsg.): Schmerzen bei Menschen mit komplexer Behinderung ISBN 978-3-945771-23-5

Anna Jerosenko, Nicola Maier-Michalitsch (Hrsg.): Schmerzen bei Menschen mit komplexer Behinderung. verlag selbstbestimmtes leben (Düsseldorf) 2021. 193 Seiten. ISBN 978-3-945771-23-5. D: 17,40 EUR, A: 17,90 EUR.
Reihe: Leben pur.

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Herausgeber

Frau Dr. Jerosenko und Frau Dr. Maier-Michalitsch arbeiten für die Stiftung Leben pur in München. Frau Dr. Maier-Michalitsch ist die wissenschaftliche Leiterin der Stiftung und Frau Dr. Jerosenko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin.

Entstehungshintergrund

Der Aufsatzband geht auf die interdisziplinäre Fachtagung der Stiftung Leben pur von 2020 zum Thema des Buches zurück. Die Mehrzahl der 17 Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen, die dort gehalten wurden.

Aufbau und Inhalt

Die Anordnung der Beiträge führt von den ethischen, pädagogischen und medizinischen Grundlagen über die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu den verschiedenen Behandlungsansätzen. Glossar, Abkürzungsverzeichnis und Autorenseite runden den Band ab. Hier wird auf eine Auswahl von Beiträgen eingegangen.

Huber thematisiert aus theologischer Perspektive eine überzogene Hoffnung auf Vermeidung und Bewältigung von Schmerz, Leid und Behinderung. Einen Beleg für diese problematische Utopie sieht sie unter anderem in der WHO-Definition der Gesundheit. Sie präsentiert literarische Zeugnisse der sozialen Leiderfahrung von Menschen mit Behinderung und zeigt den Beitrag der Seelsorge zur Linderung von Leiden.

Fröhlich konstatiert eine „Schmerzabstinenz der Pädagogik“ und erläutert sein Konzept einer palliativen Pädagogik für schwerbehinderte Kinder. Als ihr Kernmerkmal stellt er die Wertschätzung des Körpers heraus, die mit jeder Geste, in jeder Pflegehandlung und Berührung zum Ausdruck kommen soll. Er schildert, wie durch Berührung, begleitende Atmung, Symbole und Rituale sowie durch Verlässlichkeit und eine kontinuierliche Beobachtung mit Schmerzen praktisch-pädagogisch gearbeitet werden kann. Die heilpädagogische Aufgabe ist dabei die emotionale, die kognitive und die Handlungsbegleitung. Die kognitive Begleitung hilft den Schmerzen Namen zu geben und durch die Förderung eines differenzierten Erlebens einen als total erlebten Schmerz zu depotenzieren. Die Handlungsbegleitung versucht, Zeichen für Schmerzen zu vereinbaren und Entlastungen zu erarbeiten. Schließlich hat die pädagogische Schmerzbegleitung auch die Aufgabe, neben dem Schmerz ein positives Erleben, den nachlassenden und den Nicht-Schmerz, zu fördern.

Der Beitrag von Schlichting knüpft hier direkt an. Er zeigt eine Reihe von Techniken und Hilfsmitteln einschließlich der Bezugsquellen z.B. für den ‚Palliativkoffer‘, die eine Schmerzeinschätzung, den Aufbau einer basalen Kommunikation oder die Kommunikation über den Schmerz unterstützen.

Martin behandelt die Neurophysiologie des Schmerzes. Er erläutert verschiedene Schmerzarten und geht auf die neuronalen Verarbeitungsstationen zwischen der Peripherie und der Großhirnrinde ein, die der Schmerzerfahrung zugrunde liegen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass es nicht nur eine aufsteigende Verarbeitung in Richtung Gehirn, sondern auf mehreren Stufen auch gegenläufige Prozesse gibt, die das Schmerzerleben modulieren.

Heinicke geht auf die Besonderheiten der Schmerzempfindung bei Menschen mit geistiger Behinderung ein. Er zeigt eine Liste von objektiven Möglichkeiten der Schmerzeinschätzung und hebt hervor, dass bei diesem Personenkreis mitunter nur die Beobachtung von feinsten Verhaltensänderungen und Änderungen in pathologischen Verhaltensmustern Aufschluss über Schmerzen geben können.

Augustin liefert einen kompakten Überblick über die medikamentöse und – im Seitenblick – die nicht-medikamentöse Schmerztherapie. Er behandelt auch den „Hype“ um die Cannabinoide und die Mythen, die sich um die Verwendung der Morphine ranken.

Über die rechtliche Situation der Schmerzbehandlung informiert Kestel. Themen sind das Recht auf Schmerzbehandlung, die Unabdingbarkeit der Einwilligung durch die Betroffenen oder die rechtlichen Vertreter, die Verpflichtungen im Rahmen des Behandlungsvertrages, die Verpflichtung zur Aufklärung über die Behandlung sowie Fragen der Medikamentenvergabe.

Jaenike schildert aus der Perspektive eines fürsorglichen Vaters die Erfahrung von Schmerzen seines schwerbehinderten Sohnes. Er konstatiert absonderliche Gewöhnungseffekte der Eltern wie die Gewöhnung an seine schmerzhaften Krampfanfälle neben schwer zu ertragendem Mitleiden bei ungewissen Situationen wie nach einer OP.

Stockmann berichtet als Chefarzt einer Klinik für Inklusive Medizin von den Problemen der Schmerzdiagnostik bei Menschen mit komplexen Behinderungen und fehlendem Sprachvermögen. Auch er vermutet eine Unterdiagnostik bei diesen Personen. Er sieht sich als Arzt auf eine enge Zusammenarbeit und Zuarbeit aus der Betreuungswelt angewiesen und schildert die systemisch bedingten Zeitnotbedingungen, unter denen eine Schmerzdiagnostik mit diesen Klienten stattfindet. Er schlägt einen Stufenprozess vor von der systematischen Beobachtung in den Einrichtungen bis zur probatorischen Schmerztherapie für Patienten, bei denen eine zunehmend invasive Diagnostik zu riskant wäre. In der Zusammenfassung konstatiert er auch, dass eine eindeutige Klärung der Vermutung von Schmerzen bei diesen Patienten oft nicht möglich ist.

Nicklas-Faust, die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, spricht als betroffene Mutter und Ärztin. Sie geht anhand von Beispielen auf typische Ursachen von Schmerzen, auf die fehlende Schmerzäußerung, bei der der Schmerz nur durch eine Verhaltensbeobachtung erkennbar wird, und auf die Verkennung des Stressausdrucks von organisch bedingten Schmerzen als Psychopathologie ein.

Einen Blick in die Zukunft wagt Nüßlein. Aktuell sei die Situation in den Einrichtungen der Behindertenhilfe so, dass das Wissen und Know-How für Schmerzmanagement eher zufällig vorhanden sind. Er plädiert dafür, künftig systematischen Fremdbeurteilungsinstrumente einzusetzen und die Thematik in die Ausbildungs- und Studienpläne der heilpädagogischen Disziplinen zu integrieren.

Über die Zubereitung und Anwendung von warmen oder kalten Wickeln und Auflagen informiert der Beitrag von Möllmann mit konkreten Anleitungen.

Hübner stellt den Ansatz der musikbasierten Kommunikation vor und spekuliert, dass Musik eine Hilfestellung zu Lokalisation und damit zu einer tendenziellen Bewältigung geben kann. Darüber hinaus könne Musik auch zur Ablenkung und sozialen Unterstützung eingesetzt werden.

Diskussion

Für den Band haben die Herausgeberinnen Beiträge aus einem breiten fachlichen Spektrum gewinnen können. Es reicht von der theologisch-ethischen bis zu der praktisch-pflegerischen und musiktherapeutischen Perspektive. Dabei zeigen alle einen engen Bezug zur Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Dass auch die Perspektive der Angehörigen sowie die juristische Sicht nicht ausgespart bleiben, rundet die Auswahl in besonderer Weise ab.

Die Beiträge stimmen darin überein, dass wahrscheinlich eine Unterdiagnostik und -therapie von Schmerzen bei Menschen mit komplexen Behinderungen besteht, und sie zeigen, wie dem auf den verschiedenen Ebenen begegnet werden kann. Die Ausführungen reichen zum Teil bis zu detaillierten praktischen Anleitungen. Die Herstellung einer Ölkompresse mit Johanniskrautöl wird nach der Lektüre kein Problem mehr darstellen. Die meisten praktischen Beiträge bleiben auf einem mittleren Detaillierungsniveau und weisen auf Ansätze und Hilfsmittel zur Schmerzdiagnostik, -behandlung und -begleitung hin. Die besprochenen Schmerzskalen, Vorgehensweisen und etliche Materialien lassen sich mit den Nachweisen leicht finden. Der Beitrag von Stockmann schöpft auch aus einer reichen praktischen Erfahrung. Aber man würde hier gerne einiges nachlesen, nur fehlen leider die Literaturnachweise. Auch der Beitrag von Hübner fällt etwas aus dem Rahmen. Er ist zwar praktisch angelegt, bleibt aber stark programmatisch. Wie die Lokalisation von Schmerzen musiktherapeutisch unterstützt werden könnte, bleibt leider völlig offen.

Fazit

Kleiner Aufsatzband, der in knapper Form aus verschiedensten Perspektiven das unterschätze Thema der Schmerzen von Menschen mit komplexen Behinderungen beleuchtet und zahlreiche praktische Anregungen für Behandlung und Begleitung gibt.

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 36 Rezensionen von Carl Heese.

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ISSN 2190-9245