Roman Hoch: Systemische Traumaberatung
Rezensiert von Astrid Konter, 25.08.2023
Roman Hoch: Systemische Traumaberatung. Mit E-Book inside. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2022. 10 Seiten. ISBN 978-3-621-28927-6. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema
Der Autor entwickelt in diesem Buch ein Manual für die Traumaberatung auf der Grundlage der Systemischen Vorgehensweise und Haltung.
Autor
Roman Hoch ist Dipl.-Sozialpädagoge und Traumazentrierter Fachberater (DEGPT). Sein Tätigkeitsfeld ist die Systemische Beratung und Therapie (DGSF) in freier Praxis. Er arbeitet außerdem als Dozent im Systemischen Zentrum WISPO AG in Hamburg. Zur Unterstützung von Beratungs- und Therapieprozessen veröffentlichte er gemeinsam mit Sylvia Vater Frage- und Bildkartenzusammenstellungen. Seine Webseite ist aufrufbar unter www.hochentwickelt.de.
Entstehungshintergrund
Das Buch entstand aus dem Anliegen heraus, unterstützende Methoden für die Traumaberatung zu sammeln, die der Autor in seiner Praxis als nützlich und effektiv erfahren hat. Eine große Schachtel methodischer Pralinen wolle er präsentieren, wie Hoch lustvoll formuliert. Sein Schwerpunkt liegt auf systemischen Vorgehensweisen. Er führt jedoch alles zusammen, was in der Beratung hilfreich sein kann. Besonders die körperorientierten Methoden sind ihm dabei wichtig.
Aufbau
In sieben Kapiteln werden sieben Phasen des Traumaberatungsprozesses abgebildet. Die Phasen bauen in Richtung einer zunehmenden Stabilisierung und Stressreduzierung der Ratsuchenden aufeinander auf: 1. Klärung der Arbeitsbeziehung, 2. Sicherheit als Basis, 3. Diagnostische Brille und Psychoedukation, 4. Stabilisierung und Selbstwirksamkeit, 5. Systemrelevante Muster erkennen, 6. Sinn, 7. Bilanzierung, Zukunftsstrategie und Abschluss.
Inhalt
Phase 1: Arbeitsbeziehung
Zu Beginn des Beratungsprozesses geht es um Transparenz in der Arbeitsbeziehung und um die Klärung der Erwartungen. So kann eine Vertrauensbeziehung ermöglicht werden. Orientierung und Joining (kooperatives Arbeitsbündnis) mit anschließendem Contracting (vorläufige Auftragsklärung) bilden hier die Ausgangsbasis für den anschließenden Prozess.
Phase 2: Sicherheit als Basis
Der Verlust des Sicherheitsgefühls prägt die Intensität des traumatischen Erlebens. In der zweiten Phase kann deshalb die subjektive Ausprägung beim vom Trauma betroffenen Menschen durch traumasensible Kommunikation erkundet werden. Beratende sichern dabei das Vertrauen, indem sie auch intensive Emotionen und impulsive Affekte empathisch aufnehmen und aushalten können. Ihre neugierige, nichtwissende Haltung ist ein wichtiger Baustein bei der Entfaltung der Interaktion und festigt die Beziehung. Einen Punkt widmet Hoch der Situation, dass jemand nicht aus eigenen Stücken in die Beratung kommt, sondern dorthin überwiesen wird (Fremdbestimmte Kontexte). Er zeigt auf, wie auch in diesem Fall eine gute Arbeitsbeziehung entwickelt werden kann.
Die Phase wird abgerundet durch die Klärung, inwieweit der/die Klient*in eine Veränderung erreichen möchte.
Phase 3: Diagnostische Brille und Psychoedukation
Im systemischen Rahmen wird angestrebt, möglichst ohne Diagnosen auszukommen, geht es doch gerade darum, bewusste und unbewusste Konstruktionen zu hinterfragen und keine neuen zu manifestieren. Hoch sieht in der Traumaberatung eine Ausnahme und vermeidet dennoch die Krankheitszuschreibung. Vielmehr wird der gesamte Kontext des Traumatisierungsgeschehens einbezogen.
Psychoedukation als einfühlsame Erklärung von seelischen Zuständen und Reaktionen hat sich als wertvolle Hilfe in der Traumaberatung erwiesen. Traumatische Reaktionen können auf diese Weise gut von Menschen mit traumatischen Erfahrungen eingeordnet und verstanden werden.
Hoch erläutert deshalb den seelisch-körperlichen Prozess der traumatischen Erinnerung und der Reaktionen nach Traumata.
Wissen über die Neuroplastizität als Fähigkeit des Gehirns, sich kontinuierlich zu verändern und an Reize anzupassen, bildet den Ausgangspunkt für eine Änderung im Erleben. Das Konzept des Inneren Teams mit seinen Überlebensanteilen ordnet, welche inneren Stimmen gestärkt werden können und welche nicht. Auch die Polyvagal-Theorie wird als Erklärungsansatz für die eigenen Reaktionen und Verhaltensmuster im Zusammenhang mit dem autonomen Nervensystem hinzugezogen.
Ziel der Psychoedukation ist die Compliance, d.h. das informierte Einverständnis, das Mitgehen im Veränderungsprozess.
Phase 4: Stabilisierung und Selbstwirksamkeit
Diese Phase nimmt in besonderem Maße ganzheitlich alle Wirkebenen in den Blick: die psychische, die körperliche und die soziale.
Seelische Stärkung kann verstehend erreicht werden durch Ressourcenaktivierung, über die Methode der zirkulären Fragen (um die Welt anderer mit einzubeziehen), durch Externalisierung, Selbstfürsorge, Trigger-Identifikation und Aufspüren von Glaubenssätzen sowie weitere Übungen zur Stabilisierung.
Körperlich hilft zur Stabilisierung und Beruhigung in besonderem Maße, Ernährung, Atmung, Körperpflege und Sport in den Fokus zu nehmen.
Auf sozialer Ebene ist besonders bedeutsam, unterstützende Beziehungen und Netzwerke, interpersonelle Ressourcen und Verbindlichkeiten als haltgebend aufzuspüren.
Phase 5: Systemrelevante Muster erkennen
In diesem Kapitel führt Hoch hilfreiche Methoden auf, die dazu befähigen, Muster im Erleben und Verhalten zu erkennen, ein Schritt, der erst nach fortgeschrittener Stabilisierung gegangen werden kann. Als Methoden werden beschrieben: das Aufspüren der inneren Anteile anhand des Inneren Teams, die Genogrammarbeit, das mentalisierungsbasierte Arbeiten, das BASK-Modell, die kombinierte Timeline, die Stolpersteine und das Kleine und das Große Ich.
Phase 6: Sinn
Auch die Neudefinition von Sinn gehört zur traumatischen Heilung, da meist die (bisherige) eigene Identitätswahrnehmung und die Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage gestellt werden. Zur Unterstützung dieses inneren Prozesses schlägt Hoch das Ikigai-Modell vor. Das japanische Wort bedeutet frei übersetzt „das, wozu es sich zu leben lohnt“. Werte und Wertintensitäten können hinterfragt und neu definiert werden.
Phase 7: Bilanzierung, Zukunftsstrategie und Abschluss
In dieser Phase soll das Erarbeitete gefestigt werden und ein Ausblick auf den weiteren Weg erfolgen. Bei der Frage, wie es nach der Traumaberatung weitergehen kann, sollen auch Rückfallstrategien gefunden und für alle Fälle eingeplant werden.
Diskussion
Der existenziellen Erschütterung im Trauma mit Pragmatik in Form von dieser Fülle an Methoden zu begegnen, ist zuerst irritierend. Wie kann das zusammen gehen? Schnell wird deutlich: Roman Hoch schreibt in empathischer Haltung. Er bleibt stets im Respekt vor dem Erlebten und seinen Auswirkungen. Zu jeder Zeit wird deutlich, wie genau er verschiedene Phasen des Traumatisierungsprozesses und die Beratungsprozesse mit traumatisierten Menschen kennt. Alles, was stabilisierend wirken kann, wird aufgeführt. Es wird auf körperlicher, seelischer und sozialer Ebene ganzheitlich eine enorme Vielfalt an Möglichkeiten eröffnet, mit denen ein individueller Beratungsweg entworfen werden kann.
Gleich zu Anfang weist Roman Hoch darauf hin, dass er dieses Manual für Beratungskontexte und nicht für Psychotherapie geschrieben hat. Beratung habe edukative und stabilisierende Funktion, Therapie konfrontative und integrative. Bei allen methodischen und praktischen Vorschlägen bleibt er immer in der Eindeutigkeit dieses Rahmens. Überhaupt fällt eine besondere Klarheit in allen seinen Vorschlägen auf. Hoch hält seine Absicht, einen Methodenfächer aufzumachen, genau ein. Es gibt bei aller Genauigkeit, die Hoch durchgehend einhält, keine überflüssigen Worte und er bleibt immer konzentriert. Er erklärt psychotraumatologische und methodische Hintergründe dort, wo sie zum Verständnis des beschriebenen Kontextes oder der Methode notwendig sind. Ansonsten werden sie als bekannt vorausgesetzt. Seine Absicht ist zu jeder Zeit, Stabilisierung und Stressreduktion zu erreichen.
Hoch liefert ein Kompendium und die praktischen Details gleich mit dazu. Beispiel dafür ist das Kapitel 6.2: Resonanz und Werte. Nach kurzer Erläuterung der Bedeutung von Werten und ihrem Zusammenhang mit der inneren Resonanz, stellt er mögliche Fragen, die die aktuelle Resonanzfähigkeit analysieren, um dann solche zu entwickeln, die auf Veränderung durch Fokussierung und anschließende Erweiterung der Resonanz zielen. Im Anschluss listet Hoch eine lange Reihe von Werten und Bedürfnissen auf: Sie gehören zu den vielen Serviceangeboten im Buch.
Im Beratungsprozess verschwimmen oftmals Werte und Bedürfnisse und Hoch hält sich nicht mit der Unterscheidung auf. Sie ist für den Beratungsprozess auch nicht wichtig. Mit seinem Tipp, sich erst einmal mit einer überschaubaren Zahl von Werten zu befassen, stabilisiert er auch Beratende. Der Prozess kann so effektiv gestaltet werden und nicht in einer Vielzahl von Werten ersticken.
In seiner pragmatischen Ausrichtung formuliert er konkrete Fragen, die genau so übernommen werden können. Es ist ein Feuerwerk an Vorschlägen. So sind auch exakte Ernährungslisten aufgeführt, es gibt einen Wochenplanvorschlag für Bewegung. Sogar der gezielte Einsatz von Mimik, Gestik und Körperhaltung ist Thema. In der ebook-Version, die mit dem Kauf des Buches abrufbar ist, sind weitere Übungen mit Abbildungen zur Praxis der Polyvagaltheorie hinzugefügt. Hoch bezeichnet den Einsatz dieser Methode als State of the Art in der Traumaberatung und widmet der Darstellung dieser Theorie einige Seiten. Auf die wissenschaftliche Diskussion, die die Theorie in Frage stellt, geht er nicht ein. Aber das ist auch nicht sein Anliegen. Wichtig ist die Grundaussage, dass traumatisierte Menschen oftmals über das autonome Nervensystem zu falscher Einschätzung von Situationen als Gefahr kommen. Diese Wahrnehmungen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen können durch entsprechende Übungen beeinflusst und korrigiert werden.
Hoch belässt es nicht bei der Auflistung von Methoden. Er geht tief in ihre Anwendung und bettet sie mit den vorgeschlagenen Phasen in einen dramaturgischen Ablauf ein. Aus der Kenntnis verschiedener Beratungssituationen spielt er durch, welche Reaktionen sich bei der Anwendung einer Methode ereignen können, um dann wiederum Vorschläge für den Umgang im weiteren Prozess zu machen. Dazu gehört eine Fülle von Fragen, die sich dafür eignen, Einschätzungen anhand von Gefühlen und Gedanken zu überprüfen und damit den tatsächlichen Stand der Entwicklung zu erkennen. Gerade daran zeigt sich die Empathie, die dieses Buch ebenso auszeichnet wie seine Praxisbezogenheit.
Sehr ermutigend wirkt die konsequent ressourcenorientierte Haltung. Das Buch öffnet die Zuversicht, unterstützen zu können, indem die Stabilisierung der überlebenden und der lebensbejahenden Anteile in den Vordergrund gestellt werden. Entwicklung geschieht aus der Erweiterung der Selbstbestimmung, die in ausweglos erscheinender Situation handlungsfähig macht. Ganz nebenbei bezieht Hoch die Festigung der Beratenden mit ein und macht Vorschläge für potenziell entgleitende Situationen: Was mache ich bei starken Gefühlen? Wie gehe ich mit starrem Problemerleben um?
Hoch bedient sich Methoden unterschiedlichster Herkunft. Ihre Nützlichkeit orientiert sich dabei immer an den wesentlichen Wirkfaktoren des systemischen Ansatzes, nämlich des Konstruktivismus und der Mehrpersonenperspektive. Der systemischen Fragetechnik und dem hypothesengeleiteten Arbeiten wird deshalb viel Raum gegeben. So erhält man gleichzeitig einen guten Einblick in die Prinzipien der systemischen Beratung.
Der Autor setzt sich, indem er seinen Karteikasten öffnet, mit großer Gewissenhaftigkeit und gleichzeitig mit Herzblut für einen gelingenden Beratungsprozess ein. Darin liegt einiges an Ansteckungspotenzial.
Die geschlechtersensible Sprache löst Roman Hoch in seinem Buch so, dass er grundsätzlich das Femininum verwendet, um damit Lesegewohnheiten zu unterbrechen. Wie wir es von der männlichen Form kennen, geht er damit davon aus, dass alle – männlich, weiblich, divers – mitgemeint sind. Die üblichen Alternativen mit Genderstern, Binnen-I etc. wollte er wegen der schlechten Lesbarkeit nicht verwenden. Es ist ein Versuch. Das Mitmeinen war früher, die neue Praxis ist noch nicht richtig gut. Pragmatisch entscheidet Hoch das Gelernte umzudrehen.
Fazit
Das Buch ist ein echtes Gebrauchswerk mit einer Fülle von Methoden, Tipps und unterstützenden Hinweisen für die Prozessbegleitung und für konkrete Situationen in der Traumaberatung. Davon profitieren können Berater*innen und Fachkräfte in Ausbildung. Fundierte Kenntnisse der Psychotraumatologie sowie Beratungserfahrungen sollten aber bereits vorhanden sein.
Rezension von
Astrid Konter
Dipl.-Sozialarbeiterin (FH)
Musikwissenschaft, Pädagogik und Psychologie (M.A.)
Seminare in professionsbezogener Selbstreflexion und prekäre Lebenslagen
Traumaberaterin
TZI-Coach (Themenzentrierte Interaktion)
Langjährig tätig in der sozialen Arbeit mit Menschen in prekären Lebenslagen
Leiterin einer Einrichtung für Menschen mit seelischer Behinderung
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Es gibt 3 Rezensionen von Astrid Konter.
Zitiervorschlag
Astrid Konter. Rezension vom 25.08.2023 zu:
Roman Hoch: Systemische Traumaberatung. Mit E-Book inside. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2022.
ISBN 978-3-621-28927-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29664.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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