Thorsten Knauth, Rainer Möller et al. (Hrsg.): Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt
Rezensiert von Dr. Sungsoo Hong, 19.09.2022
Thorsten Knauth, Rainer Möller, Annebelle Pithan (Hrsg.): Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2020.
387 Seiten.
ISBN 978-3-8309-4186-6.
37,90 EUR.
Reihe: Religious diversity and education in Europe - volume 42.
Aktualität und Relevanz des Themas
In den letzten Jahren sind verstärkt Bemühungen zu beobachten, die Heterogenität von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen und zugleich eine inklusive Bildung zu ermöglichen. Das gesamte Bildungssystem und sämtliche Bildungspraktiken sollen so umstrukturiert werden, dass sie der Heterogenität der Lernenden gerecht werden, anstatt sie an das vorhandene System anzupassen. Dabei wurde ein Übergang von einem ‚engen‘ zu einem ‚weiten‘ Inklusionsverständnis deutlich: Man muss sich nicht allein auf die gemeinsame Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung fokussieren, sondern komplexe Facetten von Heterogenität gleichermaßen beachten. Dies ist eine Herausforderung und Aufgabe für den gesamten Bildungsbereich. An diesem Diskurs haben sich Theologie und Religionspädagogik jahrelang beteiligt.
HerausgeberInnen
Dr. Thorsten Knauth ist Professor für Religionspädagogik mit dem Schwerpunkt Didaktik der evangelischen Religion an der Universität Hamburg. Dr. Rainer Möller arbeitete von 2011 bis 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Comenius Institution im Arbeitsbereich Religionspädgogik, Religionsunterricht und Lehrendenbildung. Dr. Annebelle Pithan war von 1989 bis April 2021 als Wissenschaftlicher Mitarbeiterin am Comenius Institut im Arbeitsschwerpunkt Inklusion tätig. Mit ihnen haben 26 Autor*innen sowohl aus Wissenschaft als auch aus Bildungspraxis an diesem Sammelband mitgewirkt.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband „Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt“ (InReV) verdankt sich der bisherigen Forschungs- und Praxiserfahrungen sowie einem längeren Diskussionsprozess von Forschenden und Lehrenden. Die Herausgebenden verfolgen das Ziel, bislang getrennt verlaufende Diskurse über unterschiedliche Heterogenitätsdimensionen wie Dis/Ability, sozio-ökonomischen Status, kulturelle und religiöse Vielfalt, Gender sowie sexuelle Vielfalt unter einem großen Dach zusammenzuführen und in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu beleuchten. Der Band ermöglicht somit eine Übersicht über die bisherige Entwicklung und den jetzigen Standpunkt sowie einen Ausblick auf die Zukunft von Vielfalt und Inklusion in der Religionspädagogik.
Aufbau
Der Band umfasst neben Vorwort und Einleitung insgesamt 27 Beiträge, die sieben übergeordneten Teilen zugeordnet sind. Diese thematisch breit gefächerten Beiträge bieten nicht nur theoretische Vertiefung, sondern auch inhaltliche Bereiche, die in die (religions)pädagogische Praxis einbezogen werden können.
Inhalt
Im ersten teil versuchen die Herausgebenden den Ansatz einer inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt konzeptionell zu erarbeiten. Im Vordergrund steht Vielfalt als Grundbegriff, der die horizontale Dimension im Sinne von Unterschiedlichkeit und zugleich die vertikale Dimension im Sinne von Ungleichheit und Benachteiligung differenziert umfasst. Zudem rezeptieren sie neue Erkenntnisse des Intersektionalitätskonzepts, das die Überlappung und Überschneidung zwischen verschiedenen Heterogenitätsdimensionen bewusst macht. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die pädagogische Praxis, Lernprozesse und didaktische Strukturen. Jedoch sehen sie diesen Ansatz weniger als ein vollständiges, abgeschlossenes Modell an, vielmehr bedarf es einer weiteren Entwicklung bzw. Ergänzung. Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt versteht sich also als ein Konzept, das bisherige Forschungsergebnisse zusammenfasst und zugleich für weitere Entwicklungen offen ist.
Der zweite Teil befasst sich mit wichtigen Begrifflichkeiten. Im Einzelnen rücken Inklusion, Differenz, Diversität, Pluralismus/​Pluralität sowie Heterogenität in den Blick. Dabei werden zugrunde liegende Denktraditionen und aktuelle Bezugstheorien dargestellt, um daraus schließlich Konsequenzen für eine inklusive Religionspädagogik der Vielfalt zu ziehen. Unterschiedliche Begriffe bilden die Komplexität des Diskurses ab und setzen variierte Schwerpunkte. Sie stellen jeweils normative Werte, kritische Analyse sozialer Ungleichheits- und Machtverhältnisse, ambivalente Bedeutung der Verschiedenheit oder Bedeutung der Selbstreflexion in den Vordergrund.
Im dritten Teil werden verschiedene theologische Aspekte zu Vielfalt angeführt – theologische Begründungen zu Vielfalt, dialogische Theologie, Queer-Theologie sowie die Frage nach der Fragmentarität im Menschen- und Gottesverständnis. Sie teilen das gemeinsame Anliegen, jenseits eines Absolutheitsanspruchs vielfältige und plurale Deutungsmöglichkeiten der biblischen und theologischen Traditionen zu ermöglichen. ‚Polyphonie‘ gilt als ein zentrales Bild, um die Vereinheitlichung und dualistische Einteilung zu überwinden.
Im vierten Teil schließt sich ein Rückblick auf die Konzeptionen und Ansätze der Religionspädagogik seit 1945 an. Bedeutsame religionspädagogische Konzepte – wie Evangelische Unterweisung, Hermeneutischer Religionsunterricht, Problemorientierter Religionsunterricht, Korrelationsdidaktik, Symboldidaktik, Performative Religionspädagogik, Elementarisierungsansatz, Kinder- und Jugendtheologie – werden neu beleuchtet und daraufhin befragt, inwiefern man sie als implizite Vorläufer einer inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt sehen kann. Es ist ein sinnvolles Anliegen, verschiedene religionspädagogische Konzepte aus einer neuen Perspektive zu rekonstruieren.
Im fünften Teil werden wichtige Differenzlinien wie Dis/Ability, Gender, sozioökonomische Dimension, sexuelle Vielfalt sowie religiöse Vielfalt im Einzelnen erarbeitet, ohne deren wechselseitige Interdependenz auszuklammern.
Im sechsten Teil werden bedeutsame Themen exemplarisch erarbeitet – wie Armut und Reichtum, Gewalt, Anerkennung, Gerechtigkeit, Scham und Schuld, Frieden, Körper, Heil und Heilung sowie Fremdheit. Hier werden inhaltliche Impulse dafür gegeben, wie die jeweiligen Themen in der pädagogischen Praxis umgesetzt werden können. Manche Themen wie z.B. Gewalt, Scham und Körper können für Jugendliche starke Emotionalität und negative Erfahrungen hervorrufen und sollten deshalb im Unterricht sehr sensibel behandelt werden.
Der siebte Teil enthält zwei Beträge, die einen Reflexionsraum für das pädagogische Handlungsfeld eröffnen. Der vorletzte Beitrag bietet ein methodisches Instrument. Für pädagogisch Tätige ist es überfordernd und oftmals gar nicht möglich, alle Heterogenitätsdimensionen gleichzeitig wahrzunehmen. Die Methode „Zoomen“ hilft bei der Fokussierung auf die wichtigste Dimension in der jeweiligen Situation, ohne deren Verwobenheit mit anderen im Gesamtgewebe außer Acht zu lassen. Abschließend macht der letzte Beitrag auf eine enge Verzahnung des pädagogischen Handelns mit Macht aufmerksam und gibt Anregungen zur Selbstreflexion.
Diskussion
Im Gesamteindruck scheint der Sammelband anspruchsvoll und zugleich anregend zu sein – u.a. in folgenden zwei Hinsichten: Erstens bringt der Band Themenbereiche, die innerhalb der wissenschaftlichen Religionspädagogik lange Zeit marginalisiert wurden, neu ans Licht. Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, mit einem ungünstigen sozio-ökonomischen Hintergrund oder mit Migrationshintergrund wurden z.B. bisher nur in speziellen Themenbereichen behandelt. Doch die Herausgebenden heben hervor, dass diese Thematik kein Sonderthema ist, sondern die allgemeine Religionspädagogik und Bildung betrifft. Zweitens sind die hier vorgestellten neuen Ansätze grundsätzlich durch die Radikalität geprägt, mit der etablierte Positionen hinterfragt und gestört werden. Gerade darin liegt sowohl der Ertrag als auch die Herausforderung des Bandes. Die radikale Neuausrichtung könnte nicht leicht zu akzeptieren sein und nicht selten Überforderung oder Widerstand hervorrufen. Sie fordert von den Lesenden eine Bereitschaft zu Irritation und Neulernen ein. Manche Beiträge stellen bekannte Bibelstellen unter radikal anderen Gesichtspunkten dar und überraschen somit die Lesenden. Dadurch wird an bisherige theologische und religionspädagogische Traditionen neu herangegangen und es werden neue Aspekte beleuchtet, die von der traditionellen Theologie und Religionspädagogik wenig thematisiert wurden.
Fazit
Der Band scheint mir insgesamt eine gelungene Zwischenbilanz über bisherige Forschungen und Diskursen zu ziehen. Insbesondere geeignet ist die Lektüre für diejenigen, die bisherige verschiedene Ansätze strukturieren und in einem großen Zusammenhang sehen möchten. Der Band spricht sowohl Forschende als auch pädagogisch Tätige an und lädt sie zu einem gemeinsamen Nachdenken über weitere Entwicklung ein. Letztendlich ist es wünschenswert, dass der Band eine Rezeption nicht nur in der Theologie und Religionspädagogik, sondern auch in der Erziehungswissenschaft findet. Der intensive Austausch unter beiden Disziplinen verspricht eine gegenseitige Bereicherung.
Rezension von
Dr. Sungsoo Hong
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungszentrum für Religion und Bildung (FZRB), Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 2 Rezensionen von Sungsoo Hong.
Zitiervorschlag
Sungsoo Hong. Rezension vom 19.09.2022 zu:
Thorsten Knauth, Rainer Möller, Annebelle Pithan (Hrsg.): Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2020.
ISBN 978-3-8309-4186-6.
Reihe: Religious diversity and education in Europe - volume 42.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29675.php, Datum des Zugriffs 14.10.2024.
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