Philipp von Wussow: Expertokratie
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 25.01.2023
Philipp von Wussow: Expertokratie. Über das schwierige Verhältnis von Wissen und Macht.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2022.
90 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0459-9.
D: 12,50 EUR,
A: 12,90 EUR.
Reihe: update gesellschaft.
Thema
Expertokratie ist seit Jahren ein Buzzword, das negative wie positive Assoziationen auslöst. Was aber meint Expertokratie konkret? Das ist nicht immer klar. Es geht irgendwie um Expert:innen und um Expert:innenwissen, aber irgendwie ist da noch mehr. Oder? Das ist nicht klar zu beantworten, denn in der Diskussion um das Wesen der Expertokratie verschwimmen die Konturen. Manche Menschen plädieren dafür, Expert:innen in sämtlichen gesellschaftlichen Belangen Deutungshoheit und Entscheidungsgewalt zu übertragen. Sie seien dafür am besten qualifiziert. Andere hingegen warnen vor den gesellschaftlichen Folgen dessen, wenn eine von der Mehrheitsgesellschaft entfernten, Wissenselite regiert. Überdies stellt sich die Frage, was von Expert:innenwissen zu halten ist, wenn die Expert:innen sich, wie in der Wissenschaftlich nicht unüblich, häufig widersprechen. Wem soll man da glauben? Wer ist wirklich Expert:in? Wem wird aufgrund der Expertise Macht übertragen? Und wie lässt sich umgehen mit damit, dass Expert:innen gerade aufgrund ihrer hohen Bedeutung eben auch steigender Hass – sowie in manchen Teilen der Gesellschaft eine generelle Wissenschaftsfeindlichkeit – entgegenschlägt. Was sagt das über unsere Demokratie aus? Diese Fragen werden im Text von Philipp von Wussow anhand diverser Beispiele aufgegriffen und reflektiert.
Aufbau und Inhalt
Der Essay ist in 16 Kapitel unterteilt, die alle nur wenige Seiten lang sind. Auf insgesamt 96 Seiten befasst sich der Autor mit zahlreichen Themenkomplexen und Fragestellungen, die Expertokratie, deren Entwicklungsgeschichte und deren politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen kreisen. Von Wussow legt den Blick zunächst auf die Entwicklungsgeschichte der Expertokratie, verstanden als der Herrschaft von Expertise. Er schildert, was diese von der Epistokratie, der Herrschaft der Wissenden, unterscheidet und macht deutlich, warum der Expertokratie in der Gegenwart solche Resonanz erzeugt, die von Zustimmung über Skepsis bis zu Hass reicht. Von Wussow nimmt sich somit eines Zeitgeistphänomens an, das anknüpft an das Wort des Jahres 2022: Die »Zeitenwende«.
Eine Zeitenwende wird proklamiert aufgrund der gewaltigen globalen Umbrüche und Unsicherheiten, die wir erleben, sei es bezüglich der Corona-Epidemie, im Hinblick auf den Klimawandel, in Anbetracht des Ukraine-Krieges oder allgemein durch die schöpferische Zerstörung, welche die digitalisierte Plattform-Ökonomie hervorbringt. Um adäquat auf die Zeitenwende reagieren und nötige Schritte antizipieren zu können, bedarf es Expertise. Und wie immer man dazu auch stehen mag, sei eines nicht zu leugnen, macht der Autor deutlich: Expert:innen sind allgegenwärtig. „Wir haben es mit Virologen zu tun, die in der Corona-Pandemie weit über ihre fachlichen Verhältnisse gelebt haben. Wir haben es mit Klima-Experten zu tun, die einen ökologischen Umbau der Gesellschaft legitimieren, für den es kaum parlamentarische Mehrheiten gäbe. Und wir haben es mit verhaltensökonomischen Experten zu tun, die unsere alltäglichen Präferenzen ändern wollen“, schildert von Wussow (S. 9 f.)
Die meisten Kommentatoren gingen davon aus, dass die Probleme mit der Expertokratie vor allem im Rahmen des Wissenstransfers in die Politik auftreten, gibt der Autor zu bedenken. Das sei allerdings nur die halbe Wahrheit. „In dem Moment, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse in die Öffentlichkeit treten und mit einem politischen Anspruch verknüpft werden, steht zugleich das Wissen selbst unter Verdacht. Es setzt sich der Kritik aus, nur Pseudowissen zu sein“ (S. 11), schreibt von Wussow. Diese Kritik werde von Menschen geäußert, die den Experten:innen auf deren Fachgebiet zumeist unterlegen seien, mache die Kritik aber nicht per se falsch. Nicht-Expert:innen fänden nur eben weit weniger Gehör in der Öffentlichkeit. Letztlich scheitere Expertokratie daran, dass ihre Vertreter:innen keinen klaren Begriff von Wahr und Falsch hätten, ist von Wussow überzeugt (S. 12).
Ein zentrales Gegenwartsproblem der Expertokratie zeige sich in der populistischen, antiexpertokratischen Stimmung, die unter einem Teil der Bevölkerung grassiere und „gegen Besserwisser in jeder Form gerichtet“ sei. Und das „nicht nur gegen Wissenschaftler, sondern ganz allgemein gegen »Eliten«“ (S. 13). Die Expertise-Verachtung kumuliere in Wutbürger:innen, Querdenker:innen, Corona-Leugner:innen und Reichsbürger:innen ebenso wie in der Zero-Covid-Fraktion und umfasse auch manche Vertreter:innen der »Letzten Generation«, „die sich auf Autobahnen oder an Gemälden festkleben (oder z.B. ein Dorf besetzen, um zu verhindern, dass es für den Braunkohleabbau weichen muss) (S. 14). Ohne Expertise komme keine Gesellschaft aus, Expertokratie sei indes undemokratisch, da sie politische Fragen administrativ bearbeite, ihnen also ihren politischen Charakter nehme, reflektiert der Autor.
Heutzutage werde man in westlichen Gesellschaften zwar nicht mehr zum Tode verurteilt, wenn man gegen den Konsens der Mehrheitsmeinungen verstößt, wir können aber „sozial ausgegrenzt werden, unseren Job verlieren, unsere Social-Media-Accounts könnten blockiert werden, wenn wir uns bei bestimmten Themen gegen die Expertenmeinungen wenden“ (S. 22). Wer diverse Selbstinszenierungen auf Twitter verfolgt, weiß, was gemeint ist. Menschen werden dort schnell »gecancelled«, wenn sie sich nicht genehm äußern. Kurzum hat der Zwang, sich sozial erwünscht zu äußern – was in der Regel heißt, Expert:innen das Wort zu reden –, in den letzten 20 Jahren massiv zugenommen. Freilich gibt es auch das gegenteilige Phänomen: Das Expert:innenwissen bisweilen heftig kritisiert wird. Faktisch sei es aber so, gibt von Wussow zu bedenken, dass wir aufgrund der hohen Komplexität der Welt kaum umhinkämen, den Sachverstand von Expert:innen einzuholen.
Das zeige sich überall. „In vielen Bereichen greifen wir auf das Wissen von Experten zurück und schenken ihnen Vertrauen. Experten, denen wir tendenziell vertrauen, sind beispielsweise Ärzte, Astronomen, Piloten und Hundezüchter, vielleicht auch Versicherungsanalysten (im Unterschied zu Versicherungsvertretern) und Notare.“ Gleichsam gäbe es Expert:innen, denen wir nicht vertrauen, darunter u.a. „Finanzberater, Gesundheitsmanager und Demoskopen“ (S. 23). Auch Bürokratie greife ständig auf das Wissen von Expert:innen zurück, denn Bürokrat:innen seien in der Regel „keine Experten, sondern namen- und oftmals ahnungslose Administratoren“. Sie begründeten ihre Macht gerade „nicht durch Wissen, sondern durch ihr bloßes Amt. Und sie vertreten ihre Positionen nicht auf dem Marktplatz der öffentlichen Meinung, sondern bleiben unsichtbar hinter der Apparatur“ (S. 24).
Dass Bürokratie fundamental für das Gelingen eines jeden Staates ist, haben u.a. Max Weber und Niklas Luhmann umfangreich analysiert. Bürokratie ist essenziell, aber für sich genommen keine Expertokratie, sondern nurmehr eine Vorstufe dafür, nämlich die Instanz, welche die Expert:innen zu den jeweils relevanten Fachthemen in Gremien und Ausschüssen anhören oder im Kontext der Vorbereitung von Gesetzesänderungen Stellungnahmen und Fachexpertisen von diversen Expert:innen einfordern. Wer aber ist wirklich ein Experte? Und was ist, wenn sich die Expert:innen widersprechen? Wem kann man glauben? Dies ist nicht klar zu beantworten. Konkludent meint von Wussow: „Es scheint, als wäre das Misstrauen gegenüber Experten und Bürokraten ebenso gerechtfertigt wie das Vertrauen. Wir müssen herausfinden, welche Experten unser Vertrauen verdienen“ (S. 25).
Die mangelnde demokratische Legitimität von Expertokratie sei ein Aspekt, der Kritik erfahre. Ein anderer seien mögliche Zweifel an der tatsächlichen Überlegenheit des Wissens der vermeintlichen Epert:innen. „Experten könnten sich als Scharlatane erweisen. Man sollte diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen. Ob Experten wahre oder falsche Experten sind, lässt sich nicht generell beantworten“ (S. 26). Expert:innen seien oftmals auch inkonsistent in ihrer Beurteilung, was eine Positionierung der Nicht-Expert:innen, wie sie zur (angeblichen) Expertise stehen solle, nicht leichter macht. Mitunter werde „die Inkonsistenz allzu offen sichtbar, wenn sie ihre Expertise an eine politische Agenda anzupassen suchen“ (S. 27).
Mit der Corona-Pandemie habe sich für medizinische Expert:innen die unverhoffte Möglichkeit geboten, „die Virologie zur neuen gesellschaftlichen Leitdisziplin mit hoher politischer Steuerungswirkung zu erheben“ (S. 30). Problematisch sei es indes, wenn Virolog:innen – und andere Expert:innen – die fachlichen Abgrenzungen nicht immer allzu genau nehmen und ihre Expertise auf andere Bereiche als die übertragen, in denen sich eine solche haben. Das sei etwa der Fall, wenn Virolog:innen selbst politische Forderung aussprechen und postulierten, diese ergäben sich aus wissenschaftlichen Befunden. Die Forderung, einfach der Wissenschaft zu folgen, sei unwissenschaftlich, ist von Wussow überzeugt, „denn es gäbe eben nicht die eineWissenschaft und nur die eine Position. Wissenschaft sei vielmehr „ein fortwährender Prozess der Umwälzung von Wissen, bei dem nicht zuletzt der Umgang mit dem eigenen Nichtwissen eingeübt wird“ (S. 33).
Insbesondere wenn aus der Expertise ein politisches Handeln legitimiert werden soll, täten Expert:innen gut daran, die vermeintliche Überlegenheit ihres Wissens besser zu begründen und kommunizieren, schreibt der Autor. „Viele sind stattdessen bemüht, an entscheidenden Stellen ihr eigenes Nichtwissen zu überspielen“ (S. 37). Anders als oft gemutmaßt, sei es auch nicht korrekt, dass nur gering gebildete Menschen besonders wissenschaftskritisch seien. Es sei zwar korrekt, dass bei Gebildeten die Impfskepsis besonders niedrig ist, das gelte aber gerade nicht für einen gewissen Teil diejenigen Gebildeten, die gemeinhin als Wissenselite bezeichnet werden. Denn bei „Menschen mit Doktortitel war sie [die Impfskepsis] mit 23,9 Prozent am höchsten“, erklärt von Wussow (S. 38). Den Eindruck zu erwecken, es gäbe einen linearen Anstieg der Impfbereitschaft proportional zum höheren Bildungsgrad, sei also nicht korrekt.
Gebildete seien dabei aber mitnichten naiv wissenschaftsungläubig, es sei eher so, dass sie nicht einfach den Mainstream-Expert:innen folgten, sondern ggf. anderen. Das Problem sei rekursiv, ist der Autor überzeugt. Expert:innen seien sich in diversen Fragen uneins. Das sei normal in der Wissenschaft, wo wir es nicht mit absoluten Wahrheiten, sondern lediglich mit dem aktuellen, (noch) nicht falsifizierten Stand einer Forschung zu tun hätten, wo eben keine objektiven Wahrheiten erkannt würden, sondern wo Daten subjektiv interpretiert werden. Die Krux mit der Expertise sei, so meint von Wussow, dass wir, um herauszufinden, welchen Expert:innen wir folgen sollten, selbst eine gewisse Expertise benötigten.
Plakativ gesagt: Man muss wissen, was man nicht weiß und daher erfragen will. Diese Grund-Expertise können wir aber nicht von den Expert:innen bekommen. Expert:innen würden oftmals „als geheime Herrscher präsentiert in einem Land, dessen gewählte Politiker den Anschein erwecken, sie würden das Ganze bloß moderieren. Zugleich scheint es oft, als würden die Experten lediglich die bereits von der Politik gefassten Beschlüsse mit dem Siegel der wissenschaftlichen Alternativlosigkeit versehen“, schreibt von Wussow (S. 41).
Beide Auffassungen griffen aber zu kurz, denn Expertokratie funktioniere gerade durch die enge „Verquickung von Wissenschaft und Politik, bei der die Experten in unterschiedlichen Phasen der Einführung von Maßnahmen auftreten und die politischen Maßnahmen epistemisch absichern“ (ebd.). Grundsätzlich wäre eine enge Verflechtung von Wissenschaft und Politik zu begrüßen, ist der Autor überzeugt. Expert:innen könnten bei politischen Entscheidungsfindungsprozessen wertvolle sachliche Inputs geben, wozu verschiedene Expert:innen verschiedene Expertisen präsentieren müssten. Ein mögliches Problem ergäbe sich aber bei der Auswahl der Expert:innen. Bei der Frage, wer sie nach welchen Kriterien auswählt, täten sich Schwierigkeiten sowohl legitimatorischer wie auch fachlicher Art auf. Die Expertise brauche den Mut, das eigene Nichtwissen in der Öffentlichkeit zu kommunizieren.
„Wenn Wissenschaft die Vorläufigkeit und Bedingtheit des Wissens offensiv vertreten würde, so wäre dadurch das gesellschaftliche Vertrauen in Wissenschaft weitaus mehr gestärkt als durch allzu forsche Aussagen über einen Konsens, der in der Sache nicht existiert“, schildert der Autor (S. 44). Das wiederum könne aber auch wieder problematisch sein, da so manchen Menschen die Unsicherheit nicht gut aushalten und sich Klarheit und Eindeutigkeit wünschen. Konkludent gäbe es ebenfalls Stimmen in der Gesellschaft, welche die „die Pluralität der Expertenmeinungen negativ bewerten“ (S. 43). Um Vertrauen in ihre epistemische Überlegenheit herzustellen, müssten Expert:innen „öffentlich darlegen, weshalb sie falsch lagen, was an ihren Urteilen falsch war und wie sie es beim nächsten Mal besser machen“ wollen, heißt es im Text. Das sei leichter gefordert als getan, denn viele Expert:innen täten sich schwer damit, eigene Fehler und eigenes Nicht-Wissen zuzugeben.
Nach einem kurzen Rekurs auf die Rolle der Expertokratie in der Wirtschaft widmet sich der Autor im weiteren Verlauf des Buches verstärkt der Ideengeschichtlichen Entwicklung der Expertokratie von ihren Anfängen bei Platon bis zum Nudging in der Gegenwart, wo expertokratives kleines Anstupsen, das ein sozial erwünschtes Verhalten der angestupsten Personen wahrscheinlich machen soll, von immer mehr Akteur:innen in Gesundheitspolitik und Wirtschaft genutzt werde. Dieser »libertäre Paternalismus« werde von manchen Leute begrüßt, von anderen aber als illegitime, manipulative Beeinflussung diskreditiert. Die Gefahr sei, so die Kritiker:innen, dass sich ein immer aufdringlicherer Gebrauch des Nudging durchsetze. „Dadurch verfestige sich schließlich eine expertokratische Bürokratie. Man sollte demnach mit Nudging gar nicht erst anfangen und die Experten nicht mit der entsprechenden Macht ausstatten“, fasst von Wusso die Meinung der Kritiker:innen zusammen.
Problematisch sei auch, dass die (vermeintlichen) Nudging-Expert:innen ahnungslos im Hinblick auf das eigene Nichtwissen seien (S. 91 f.). „Sie wissen, dass es besser ist, gesund zu essen, als ungesund zu essen. Aber sie wissen nichts über die letztendlichen Ziele des Menschen. Stattdessen sind sie stark auf die Mittel zur Erreichung bezogen. Die Experten haben im Grunde keinen Plan davon, was der Sinn des Ganzen ist, sie besitzen lediglich die richtigen Mittel. Diese Aufgabe kann mit ihrem Wissen nicht gelöst werden“, mahnt von Wussow (ebd.). Dies ließe sich auf diverse Bereiche wie Ökonomie, Klima oder Sicherheitspolitik übertragen. „Auch die Corona-Experten mögen die besten Methoden der Pandemiebekämpfung kennen, aber sie sind ganz ungeeignet zur Abwägung, inwieweit die Pandemiebekämpfung der Maßstab des gesellschaftlichen Lebens sein soll. Ihre Methoden sind dazu ersonnen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen – etwa die »Zahlen« niedrig zu halten –, aber sie verraten uns nichts darüber, welche letztendlichen Ziele es überhaupt wert sind, verfolgt zu werden“ (ebd.).
Die Diskussion darüber, was es wert ist, verfolgt, entschieden und umgesetzt zu werden, sei etwas, was in einer Demokratie nicht allein den Expert:innen überlassen werden sollte, da diese nicht für alle Menschen sprechen könnten und keine demokratische Legitimität gegeben sei, wenn lediglich einige Wissende maßgeblich Einfluss darauf nehmen, wie sich die Welt im Nachgang der Zeitenwende entwickelt. Es könne aber auch kein erstrebenswertes Ziel sein, auf Expert:innen ganz zu verzichten. Mit »alternativen Fakten«, die oft schlicht unwissenschaftlicher Unsinn sind, sei der Gesellschaft auch nicht gedient. „Wir brauchen nicht weniger, sondern bessere Expertise. Doch woher bekommen wir bessere Expertise?“ (S. 93). Dieses Problem zu lösen sei eine ubiquitäre Herausforderung. Expertise ist sinnvoll, Expertokratie aber potenziell problematisch, ließe sich zusammenfassen. Es gäbe „gute Gründe anzunehmen, dass Expertokratie auch über Corona hinaus ein gesellschaftlich brisantes Thema bleiben wird“, reflektiert von Wussow zum Abschluss (S. 94).
Diskussion
Was lässt sich zu dem hier rezensierten Werk nun sagen? Für wen ist es geschrieben? Wie ist es geschrieben und wer profitiert von der Lektüre? Dazu kann der Rezensent folgendes festhalten: Was die Formalia angeht, handelt es sich beim Text um einen Essay und nicht um ein wissenschaftliches Fachbuch. Der Text kommt daher ganz ohne Fußzeilen und Schaubilder aus. Er ist vom Sprachstil her so geschrieben, wie man es von längeren Feuilleton-Artikel z.B. aus der FAZ kennt. Das erleichtert es, das Werk problemlos in 1 ½ bis 2 Stunden durchzulesen. Der Text ist für politisch interessierte Menschen auch ganz ohne Vorwissen gut verständlich. „Expertokratie ist der sprichwörtliche Elefant im Raum, über den man besser nicht spricht, weil man nicht weiß, wie man darüber sprechen soll“, schreibt der Autor (S. 22). Er selbst schreibt ausführlich darüber und betrachtet die Expertise sowie deren Implikationen aus philosophischer und soziologischer Perspektive. Das tut er unaufgeregt sachlich.
Im Hinblick auf die präsentierten Inhalte gelingt es dem Autor gut, deutlich zu machen, wie kontrovers – und teils auch leidenschaftlich bis gar dramatisierend – die Debatte um Expertokratie geführt wird. Das Thema betrifft und berührt eben viele Menschen, und zwar in unterschiedlichsten Bereichen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der derzeitige, medial stark verbreitete, Kampf um den Abriss des Weilers Lützerath, der dem Braunkohleabbau weichen soll. Befürworter:innen und Gegner:innen dieses Vorhabens führen jeweils eigene Expert:innen ins Feld, die für oder wider den Abriss argumentiere und ihre eigene Argumentation als vermeintlich logisch darstellen. Ähnliches war z.B. auch bei der Debatte um den Ausstieg aus der Kernenergie zu beobachten. Die Herausforderung, die sich nicht nur für Nicht-Expert:innen ergibt, ist die Frage, wem warum was (nicht) geglaubt werden soll.
Wer hat »wirklich« Expertise. Von Wussow macht anhand diverser Beispiel deutlich, dass das nie objektiv beantwortet werden kann, da die Ziele, die mit einem bestimmten Handeln einhergehen, von Menschen mit divergenten Motiven und sich unterscheidenden Wertvorstellungen unterschiedlich beurteilt wird. Das betrifft nicht nur Lützerath, es kommt in sämtlichen gesellschaftlichen Belangen vor, von Fragen des Umgangs mit dem Klimawandel über die Frage, was gute Wirtschafts- und Sozialpolitik auszeichnet bis zur Debatte darum, schweres Kriegsgerät an die Ukraine zu liefern. Immer finden sich Expert:innen, die Pro- und Contral-Argumente liefern. Was bleibt da dann? Es bleibt, darüber nachzudenken, ob die Argumente der Expert:innen logisch sind, ob sie ggf. ein nicht-Fachexpertise-bedingtes persönliches Interesse an bestimmten Entwicklungen haben und ob ihre Meinungen vom Gros anderer Expert:innen geteilt wird.
Man kommt nicht umhin, sich mit Expertise zu befassen – jedenfalls dann nicht, wenn man mitreden und Grundlagen verstehen will. Das bedarf nicht nur gewisser intellektueller Fähigkeit, sondern auch Ambiguitätstoleranz. Man muss es aushalten können, dass objektive Wahrheiten nicht zu erreichen sind. Manchen Menschen fällt das ausgesprochen schwer. Einerseits ist es sinnvoll, bei komplexen Themen vor Entscheidungen Expertise einzuholen, macht von Wussow deutlich. Die dunkle Seite der Expertokratie zeigt sich allerdings darin, dass demokratische Debatten mitunter unterbleiben. Es wird im Gusto einer „Es-ist-alternativlos“-Begründung undemokratisch entschieden, wenn allein auf Expert:innen gehört wird. Das jedenfalls ist die Wahrnehmung nicht weniger Menschen. Das ist nicht nur für die Demokratie problematisch, sondern auch für die exponierten Expert:innen, denen mitunter mit Hass begegnet wird.
Für die Demokratie gefährlich werden kann es, wenn die Expertise nicht erklärt wird und wenn der Eindruck entsteht, sie werde interessengeleitet zum Vorteil einer kleinen Elite eingesetzt. Noch viel stärker als in Deutschland lässt sich die Abwehrhaltung gegenüber mancher Expertise in den USA beobachten, wo seitens der Alt-Right-Bewegung Todesdrohungen gehen den führenden Corona-Experten des Landes, Dr. Anthony Fauci, geäußert werden. Die Hinwendung zu »alternativen Fakten« liegt nicht (nur) an Dummheit und Ignoranz. Es hat auch damit zu tun, dass die Expertokratie als arrogant, abgehoben und realitätsfern betrachtet wird, weil sie zu wenig erklärt und zu sehr den Menschen aufgezwungen wird. Je mehr Expertise-bedingte politischen Entscheidungen eine unmittelbare Auswirkung haben auf die eigene Freiheit und das eigene Wohlbefinden, wie es in der Corona-Pandemie durch Lockdowns und die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Maske zum Ausdruck kam, desto größer ist in manchen Teilen der Gesellschaft die Verachtung der Expert:innen.
Deren Expertise verliert an Glaubwürdigkeit, wird als illegitime Macht ausgelegt und statt ihrer werden solche »Fakten« bevorzugt, die mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen. Kurzum kann es fatal für das Teilhabegefühl vieler Menschen werden, wenn den Expert:innen immer mehr Macht übertragen wird und Nicht-Expert:innen an gesellschaftlich wichtigen Debatten gar nicht mehr beteiligt werden. Das macht von Wussow in seinem Essay gut deutlich. Von einer Wissensdiktatur zu sprechen wäre in Folge dessen, dass wir demokratisch legitimierte Politiker:innen habe, die sich Expertise bedienen, sicher überzogen. Manche Menschen empfinden es allerdings dennoch so. „Die da oben“ – das waren früher Reiche und Politiker:innen. Sie hatten Macht. Heute sind es u.a. auch Wissenschaftler:innen und Militärexpert:innen, die Macht insofern haben, als sie mit ihren Darlegungen Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen. Die Corona-Epidemie und der Ukraine-Krieg sind Themenfelder, zu denen sich publikumswirksam in den Medien, in Wissenschaft und Wirtschaft vor allem Expert:innen und solche Leute äußern, die dafür gehalten werden. Man kommt nicht umhin, sich dieser zu bedienen, wenn es gilt, rationale Entscheidungen zu treffen, die über pure Meinung hinausgehen.
In Folge dessen, dass unsere VUKA-Gesellschaft sich immer schneller wandelt, da traditionelle Stützstrukturen wegbrechen und die schöpferische Zerstörung durch die Industrie 4.0 voll in Fahrt ist, ist es verständlich, dass (vermeintlichen) Expert:innen immer stärkere Bedeutung zugesprochen wird. Wer hat bei dieser Veränderungsgeschwindigkeit, bei der enormen Kompliziertheit und Komplexität vieler Themenkomplexe, zu denen ständig Entscheidungen getroffen werden müssen, noch den Durchblick? Auf wen kann man sich verlassen? Wer ist der oder diejenige, der/die uns aufzeigt, wie vorgegangen werden sollte? Das sind Fragen, die sich viele Menschen stellen. Sie sind nicht eindeutig zu beantworten. Die ambivalente Herausforderung des Nicht-wissen-Könnens-und-dennoch-entscheiden-Müssens, Implikationen daraus sowie die Schwierigkeit, auf Expertise zu setzen, ohne in demokratiefeindlicher Expertokratie zu münden, stellt der Autor überzeugend dar.
Fazit
Philipp von Wussow setzt sich in seinem Essay kritisch und unaufgeregt mit dem vielschichtigen Verhältnis von Wissen und Macht auseinander. Anschaulich und gut verständlich beleuchtet er die Facetten der Expertokratie, deren positiven Aspekte wie auch ihre Schattenseiten. Der Text ist informativen und kurzweilig, sodass die Lektüre auch »Nicht«-Expert:innen empfohlen werden kann.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Es gibt 58 Rezensionen von Christian Philipp Nixdorf.
Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 25.01.2023 zu:
Philipp von Wussow: Expertokratie. Über das schwierige Verhältnis von Wissen und Macht. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2022.
ISBN 978-3-8497-0459-9.
Reihe: update gesellschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29676.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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