Jennifer Otte: Kreativbuch für meine Trauer
Rezensiert von Dr. Mechthild Herberhold, 13.01.2023

Jennifer Otte: Kreativbuch für meine Trauer. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2022. 240 Seiten. ISBN 978-3-497-03143-6. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Das „Kreativbuch für meine Trauer“ will Trauernde unterstützen, den eigenen Trauerprozess individuell zu gestalten. „Mach dieses Buch zu deinem“ (8), lädt die Autorin Jennifer Otte die Leser:innen ein. Dafür hat sie aus ihren persönlichen Erfahrungen und aus ihren Begegnungen mit Trauernden vielfältige Anregungen zum Nachdenken, Schreiben, Zeichnen und Gestalten zusammengestellt.
In erster Linie richtet sie sich damit an Jugendliche und junge Erwachsene, die nach dem Tod eines nahestehenden Menschen trauern. Die Autorin ermutigt dazu, den Trauerweg individuell zu gehen und selbst auszuwählen, was in einer konkreten Situation passt: „Es gibt keine Regeln, kein Richtig und kein Falsch.“ (8)
Autorin
Jennifer Otte schreibt vor dem Hintergrund eigener Trauererfahrungen als Kind und junge Erwachsene. Ihre Mutter starb, als sie sechs Jahre alt war; beim Tod ihres Vaters war sie siebzehn. Angeregt durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer hat sie sich auch mit Tod und Trauer überhaupt beschäftigt. Sie lebt in Trier und arbeitet als selbstständige Trauerbegleiterin insbesondere mit jungen Erwachsenen, deren Eltern gestorben sind. Zudem unterstützt sie bei Trauersituationen in Schulen und Kitas die dortigen Kinder und Mitarbeiter:innen und sie trägt u.a. mit ihrem Podcast „Zwischen Trauer und Leben“ dazu bei, dass in der Gesellschaft immer offener über Tod und Trauer gesprochen werden kann.
Aufbau und Inhalt
Das „Kreativbuch für meine Trauer“ enthält fünf Hauptkapitel zu unterschiedlichen Aspekten im Trauerprozess: Fühlen, Nachdenken, Erinnern und Bewahren, Vermeiden sowie Überleben und Weiterleben. Zu jedem Thema hat Jennifer Otte Impulstexte, Übungen und „Seiten für Notizen, Kritzeleien und Co.“ zusammengestellt.
Vorweg erläutert die Trauerbegleiterin ihre Idee für das Buch und spricht die Leser:innen als Expert:innen für ihre eigene Trauer an. „Du darfst deinen eigenen Weg finden und ich wünsche dir die Kraft und den Mut, diesen dann auch zu gehen. Ganz egal, wie die anderen es machen oder was sie vermeintlich von dir erwarten. Dieses Buch begleitet dich dabei, wann immer du es möchtest.“ (16)
Im Kapitel „Fühlen“ (17-54) sind alle Gefühlsnuancen willkommen (13). Die Autorin beschreibt beispielsweise den Unterschied zwischen Trauer und Traurigkeit, sie geht auf Wut und Freude ein und schlägt in den Übungen vor, eine Trauerplaylist zu erstellen, ein Wutblatt zu zerknüllen oder ein Tränenmosaik zu gestalten.
Die Ausführungen zum „Nachdenken“ (55-118) wollen beim Sortieren helfen und bieten Reflexionsanregungen (14). So befasst sich etwa ein Impulstext mit der Dauer von Trauer, ein anderer damit, wie Menschen in Trauer mit Ratschlägen von anderen umgehen können. Unter anderem regt Jennifer Otte in diesem Kapitel an, ein Symbol für die eigene Trauer auszuwählen oder die gerade aktuelle Trauerweise anhand der Jahreszeiten zu verstehen.
Unter dem Titel „Erinnern und Bewahren“ (119-158) ermutigt die Trauerbegleiterin, „einen Blick darauf zu werfen, wer die Person für dich ist, was von ihr bleibt und welche Spuren sie in dir und deinem Leben hinterlässt.“ (14) Der/die Leser:in kann sich beispielsweise mit dem Namen und Lieblingsdingen der verstorbenen Person befassen, einzelne Erinnerungen in einem Einmachglas aufbewahren oder eine Erinnerungsfeier gestalten.
„Vermeiden muss nichts Schlechtes sein“ ist der erste Impulstext im Kapitel „Vermeiden“ (159-198) überschrieben. Jeder Trauerprozess braucht Pausen (14) – im Buch und im Erleben. Hier finden sich z.B. Mandalas, Konzentrationsübungen und die Anregung, sich einen trauerfreien Raum im wörtlichen Sinne auszumalen.
Das letzte Kapitel „Überleben und Weiterleben“ (199-235) will an schweren Tagen unterstützen und eine Neuorientierung ermöglichen (14). Jennifer Otte greift „Kontrollverlust und Hilflosigkeit“ (212) auf, regt einen Erste-Hilfe-Koffer für schlechte Tage an und schlägt vor, Steine mit belastenden Aspekten zu beschriften und zu versenken. Mit dem Impulstext „Neuorientierung“ (218) ermutigt sie, zu gegebener Zeit und Schritt für Schritt den Blick in die Zukunft zu richten.
Gute Wünsche der Autorin für die trauernden Leser:innen und eine Literaturliste schließen das Buch ab.
Diskussion
Jennifer Otte lässt beim Lesen viel Freiraum. Durchgehend spürbar ist ihre hohe Wertschätzung für das, was im einzelnen Trauerprozess auftaucht: „Du bist ExpertIn für deine Trauer“ (16). Es geht der Trauerbegleiterin nicht in erster Linie um Wissensvermittlung, sondern um Unterstützung im individuellen Prozess. Die Impulse erklären, was bei Trauer passieren kann. Dabei bezieht die Autorin Traueraspekte und Trauerreaktionen immer auf die trauernden Leser:innen, um dann zur eigenen Herangehensweise zu ermutigen. Behutsam gibt sie Anstöße zum Weiterdenken. Ein Beispiel: An den Impulstext „Wer bin ich ohne dich?“ (80) schließt sich eine Übung an mit der Eingangsfrage „Wer bin ich durch dich und dank dir?“ (81)
Das Buch ist bunt gedruckt, jedes Kapitel in einer anderen Farbe. Es lädt zum Blättern ein und dazu, einzelne Aspekte an den für den/die Leser:in passenden Stellen zu vertiefen. Mit ihren eigenen Anregungen geht die Trauerbegleiterin unprätentiös um: „Nimm für dich mit, was dir guttut und dir hilft. Alles andere darfst du lassen, wo es ist.“ (12) Es gibt Impulstexte, Reflexionsfragen, Übungen, viel Platz für Notizen oder Zeichnungen, dazu Vorlagen zum Ausmalen, Ausfüllen oder Weiterentwickeln. Ein Teil der Vorlagen kann auf der Verlagshomepage heruntergeladen werden.
Grundsätzlich spricht Jennifer Otte die Leser:innen mit Du an. An manchen Stellen meint sie mit dem Du auch die verstorbene Person (z.B. „Ein Steckbrief über dich“). Diese doppelte Ausrichtung ist beim ersten Lesen etwas irritierend.
Besonders gefällt mir, dass sie mit dem „Erinnern und Bewahren“ den immer noch verbreiteten Ratschlägen à la „Du musst loslassen“ etwas entgegensetzt und dass sie das „Vermeiden“ als Trauerbewältigungsstrategie wertschätzt.
Fazit
Die Trauerbegleiterin deckt mit ihren Impulsen ein breites Spektrum ab. Die Inhalte bauen zwar nicht aufeinander auf, sind aber thematisch geordnet. Trauernde können sich intuitiv das heraussuchen, was sie gerade brauchen.
In erster Linie richtet sie sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die nach einem Todesfall trauern. Viele Vorschläge passen zudem auch bei anderen Traueranlässen und auch für nicht mehr so junge Erwachsene. Und schließlich können Menschen, die mit (jungen) Erwachsenen in Trauersituationen zu tun haben, sich für die Begleitung inspirieren lassen.
Rezension von
Dr. Mechthild Herberhold
Ethik konkret, Altena (Westf.).
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