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Verena Wetzstein: Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 13.12.2005

Cover Verena Wetzstein: Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz ISBN 978-3-593-37884-8

Verena Wetzstein: Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz. Campus Verlag (Frankfurt) 2005. 272 Seiten. ISBN 978-3-593-37884-8. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 52,20 sFr.
Reihe: Kultur der Medizin - 16.

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Zur Thematik des Buches

Die Pflege und Betreuung Demenzkranker wird gegenwärtig in Deutschland auf der Ebene der Theorie und Konzeptbildung durch zutiefst kontroverse Einstellungen bezüglich der normativen Bewertung der Handlungen bestimmt.  Sind intuitive  Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien die Mittel der Wahl oder bloße Konzepte des "Lügens und Betrügens",  wie Vertreter der so genannten Personenzentrierten Ansätze (Feil, Kitwood u. a.) unterstellen? Darf  für einen demenzkranken Heimbewohner das Grundrecht auf Freizügigkeit gelten, selbst wenn die Gefahr eines tödlichen Unfalls im Straßenverkehr besteht?  Dürfen in Speisen versteckte Medikamente den Betroffenen zugeführt werden? Diese Fragen und noch einige mehr werden augenblicklich in Stile von Glaubensfragen mit entsprechender Entschiedenheit, Schärfe und Emotionalität  erörtert. Ausgrenzungen und teils schon Diffamierungen bestimmen das Diskussionsniveau, so dass von einem sachlichen Diskurs unter Fachleuten schon bereits seit langem nicht mehr gesprochen werden kann.  Es kann somit konstatiert werden, dass die Gesellschaft in Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht in der Lage ist, allgemeinverbindlich einen Konsens darüber herzustellen, wann bei einem Demenzkranken neben den Freiheitsrechten auch die Schutzrechte  (z. B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit) Geltung besitzen sollten. In der Regel werden in solchen Fällen so genannte "Ethik-Kommissionen" zusammengestellt, die derartige Themenstellungen grundsätzlich im Sinne von Empfehlungen klären sollen.

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und von der Literatur her aktualisierte Dissertation einer Theologin an der Universität Freiburg im Breisgau.

Inhalt

Die Publikation ist, sieht man von Einführung und Ausblick  einmal ab, in drei Kapitel unterteilt.

  • Im Kapitel 2 (Ad fontes: Das medizinische Demenz-Konzept: Seite 23 -  94) wird zu Beginn ein kurzer historischer Abriss über das Verständnis der Demenz dargestellt. Hieran schließt die Erläuterung über die Einstufung der Demenz in den Klassifizierungssystemen Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der US-amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (APA) und die International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an. Des Weiteren referiert die Autorin den gegenwärtigen Stand der Forschung: Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese, Diagnostik, Symptomatik und Verlauf und zuletzt die Therapie.
  • Kapitel 3 (Kernpunkte des Konzeptes: Implikationen und Konsequenzen: Seite 95 - 175) enthält die Vorstellungen der Autorin über Demenzen im gesellschaftlichen Kontext, die von drei Kritikpunkten getragen werden: die "Pathologisierung" der Demenz, die Dominanz des "kognitiven Paradigmas" und der "Vernachlässigung der zweiten Hälfte des Demenz-Prozesses".  Auf diesen Annahmen eines verkürzten und einseitigen Demenz-Konzeptes fußend entfaltet die Autorin u. a. Szenarien möglicher Ausgrenzungs- und Dehumanisierungsprozesse  dergestalt, dass den Demenzkranken die Gefahr der Aberkennung der Menschenrechte droht. Belegt wird diese These mit der ausführlichen Darstellung verschiedener philosophischer Konstrukte, die den Personenstatus einschließlich der damit verbundenen Menschenrechte an das Vorhandensein geistiger Kompetenzen wie Bewusstsein, Denken und Wahrnehmungsfähigkeit knüpfen.
  • Im Kapitel 4 (Integrative Demenz-Ethik: Grundlagen eines Modells: Seite 177 - 210) entwickelt die Autorin auf der Grundlage ihrer kritischen Einschätzung des bestehenden Demenz-Konzeptes ihr Modell der "integrativen Demenz-Ethik", das sich vom Reduktionismus des medizinischen Konzeptes u. a. durch Ganzheitlichkeit abhebt. Sie postuliert die Einheit oder Gleichheit von Mensch und Person im Kontext der Zuweisung der Menschenrechte. Das impliziert u. a. den Schutz der Menschenwürde unabhängig von körperlichen und geistigen Gebrechen. Theologisch fundiert wird diese Forderung mit dem Verweis auf die "Gottesebenbildlichkeit des Menschen" (Seite 184).

Kritische Würdigung

Die vorliegende Arbeit ist vielschichtig und verwirrend zugleich. Folgende Kritikpunkte lassen sich herausarbeiten:

  • Das Scheinkonzept: Die Autorin erstellt ein gesellschaftlich verbindliches Demenzkonzept, das in dieser Gestalt nicht existiert, denn die konstatierte medizinisch-naturwissenschaftliche Sichtweise mit ihrer Reduktion auf  objektive hirnphysiologische Abbauprozesse ist nur Kernelement der Sichtweise über Demenz. Sie bildet jedoch nicht das komplexe Gefüge von Einstellungen, Werthaltungen und auch fachlichen Festlegungen in unserer Gesellschaft über Demenz ab. Eine implizit unterstellte Übernahme der Demenz durch die Medizin ist bisher nicht erfolgt, doch andererseits muss die Medizin diese Erkrankung begrifflich erfassen, um eine angemessene Diagnostik leisten zu können. Die Autorin stellt teils versteckt die Festlegung, dass es sich bei der Demenz um eine Krankheit handelt, in Frage, wenn sie in der "Pathologisierung" der Demenz ein Problemfeld sieht, ohne jedoch eine eigene Konzeption als Alternative zu entwickeln.
  • Der Scheinkonflikt: Zusätzlich konstruiert die Autorin ein Konfliktfeld, indem sie radikale und zugleich inhumane philosophische Konzepte über das Lebensrecht behinderter Menschen (der australische Philosoph Peter Singer ist der Hauptvertreter dieser Richtung) mit der Demenzthematik verknüpft, obwohl dieser Zusammenhang in Deutschland gegenwärtig weder explizit noch implizit in Fachkreisen zur Diskussion steht.
  • Die Scheinlösung:  Im Rahmen dieses Gefahrenfeldes, in dem den Demenzkranken Ungemach droht, denn sie sind nach den Ausführungen der Autorin von Menschenrechten bereits potentiell entblößt, bedarf es einer effektiven Lösung, die die Rechte und den Schutz für die Betroffenen wieder herstellt: die "integrative Demenz-Ethik".  Diese Ethik verlässt jedoch nicht die abstrakte Ebene der Menschenrechte und zeigt somit wenig demenzspezifische Gehalte. Die Autorin stellt sich in ihren Ausführungen auch nicht die Frage, ob es einer so genannten "Demenz-Ethik" überhaupt bedarf, ob nicht vielleicht die Menschenrechte als Schutz für die Betroffenen völlig ausreichen.

Fazit

Die Autorin ist mit dem Anspruch angetreten, einen grundlegenden Beitrag in "praktisch-ethischer Absicht" zu leisten (Seite 21). Dieses Ansinnen hat sie jedoch nach Einschätzung des Rezensenten in keiner Weise eingelöst. Vielleicht hat die Autorin auch nur den falschen Weg eingeschlagen, indem sie die einschlägige Fachliteratur über Demenz aufarbeitete. Vielleicht bedeutet in diesem Fall "ad fontes" (lateinisch "zurück zu den Quellen") konkret,  in ein Heim oder in einen Haushalt mit pflegenden Angehörigen zur Hospitation oder Mithilfe zu gehen. Dort hätte sie dann erfahren können, dass eine "Demenz-Ethik" im einfühlenden und sensiblen Umgang mit den Betroffenen bereits tagtäglich praktiziert wird.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 13.12.2005 zu: Verena Wetzstein: Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz. Campus Verlag (Frankfurt) 2005. ISBN 978-3-593-37884-8. Reihe: Kultur der Medizin - 16. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2968.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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