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Nina Kölsch-Bunzen: Gut aufgestellt gegen Antisemitismus?

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 30.03.2023

Cover Nina Kölsch-Bunzen: Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? ISBN 978-3-7799-7074-3

Nina Kölsch-Bunzen: Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? Die Förderung von Antisemitismusprävention in Kindertagesstätten und Schulen durch Kinderbibeln, Kinderkorane und Schulbücher. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 230 Seiten. ISBN 978-3-7799-7074-3. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

„Seit Jahrzehnten weisen Wissenschaftler auf die Tradierung antisemitischer Stereotype in Schulbüchern hin“, so konstatierte bereits der erste Antisemitismusbericht des „Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“ im Jahr 2011 und verwies dabei auf die Untersuchungen der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission aus den 1980er Jahren. Dass sich daran bis heute wenig geändert hat, zeigt das Buch der Kindheitspädagogin Nina Kölsch-Bunzen.

Aufbau und Inhalt

Die Studie umfasst neben Einleitung und Schluss neun Kapitel, die in historisch-systematischer Perspektive Schulbuchwissen mit wissenschaftlich fundiertem Faktenwissen zur jüdischen Geschichte und zum Antisemitismus konfrontiert:

In der Einleitung bestimmt die Autorin mit Bezug auf die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance Antisemitismus als „bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“. Hervorzuheben sei allerdings, dass die „Grundform“ aller Antisemitismen im „religiösen Antijudaismus“ zu finden sei. Dessen Vernichtungsabsicht bleibe auch in den Formen des säkularisierten, modernen Antisemitismus erhalten: „[A]llen Formen und Mischformen der ‚Judenfeindschaft‘ [ist] ein religiöses bzw. pseudoreligiöses Grundelement zutiefst eingeschrieben, welches den Vernichtungswillen von Anfang in sich trägt“ (S. 13). Hierin – in der „den Juden“ zugeschriebenen teuflischen Macht der Zerstörung alles Guten, Schönen und Wahren und der daraus abgeleiteten Pflicht, sie zu vernichten – unterscheide sich der Antisemitismus von allen anderen Formen des Rassismus. Werde dieser Unterschied nivelliert, laufe pädagogische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus ins Leere. Das zeitgenössische Schulbuchwissen scheitere bereits an dieser Stelle auf ganzer Linie: „[K]eines der untersuchten Schulbücher [leistet] eine zufriedenstellende Definition und Erklärung des Antisemitismus“ (S. 14).

Im zweiten Kapitel werden zunächst die „antijudaistischen Aspekte neutestamentlicher Quellen historisch eingeordnet“ (S. 21). Geschichtliches Wissen und Kenntnisse des Judentums sind ein probates Mittel, um dem christlichen Antijudaismus, der das Neue Testament durchzieht, zu widerstehen. Die Autorin fordert deshalb, dieses Wissen bei der Gestaltung zeitgemäßer Kinderbibeln zu berücksichtigen. Dies sei bisher nur in Ausnahmen der Fall. Kaum eine Kinderbibel sei frei von antijudaistischen Stereotypen, die vom „Kindermörder Herodes“ über den „Verräter Judas“ bis hin zum „jüdischen Rachegott“ reichen.

Gleiches gilt für die Kinderkorane, denen sich die Autorin im dritten Kapitel zuwendet. Wie die Bibel sind auch der Koran und die Hadithen nicht frei von antijudaistischen Tendenzen. Wie in der christlichen Textrezeption liege es deshalb auch „in der Verantwortung aktueller islamischer Glaubenslehren und Textrezeptionspraxen, über Antijudaismen im Koran und in islamischen religiösen Schriften zu informieren, die entsprechenden Texte verantwortungsvoll zu bearbeiten“ (S. 49). Dies gelingt den untersuchten deutschsprachigen Kinderkoranen nur bedingt. Wie die Kinderbibeln lassen auch sie die Möglichkeit ungenutzt, „interreligiöse Brücken zu bauen“ (S. 51).

Mit dem vierten Kapitel beginnt der Vergleich von Schulbuchwissen und Faktenwissen. Jüdisches Leben im Mittelalter wird in den meisten deutschsprachigen Schulbüchern entweder nicht oder falsch dargestellt. So wird in nicht wenigen Schulbüchern die Feindschaft gegen Juden aus einer angeblichen „jüdischen Wucherpraxis“ erklärt. Da es ein kirchliches Zinsverbot für Christen gegeben habe, Juden hingegen im Geldverleih ihre hauptsächliche Betätigung gefunden hätten, hätten sie den Hass der von Verschuldung betroffenen, nichtjüdischen Bevölkerung auf sich gezogen. Mit den historischen Fakten hat diese „Erklärung“ der Judenfeindschaft nichts zu tun. Denn faktisch gab es Christen wie auch Juden, die im Zinsgeschäft tätig waren, und es gab Christen wie auch Juden, die in anderen Berufen tätig waren. Die Vorstellung eines spezifisch „jüdischen Wuchers“ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als tiefverwurzeltes antisemitisches Stereotyp, das in Schulbüchern bis heute reproduziert wird.

Im 18. und 19. Jahrhundert transformiert sich der religiöse Antijudaismus in den modernen Antisemitismus. Er resultiert aus missglückter bürgerlicher Emanzipation, in der die Grenzen der Aufklärung sichtbar werden. Auch diese für ein Verständnis der Spezifik des modernen Antisemitismus so wichtige historische Phase wird in den deutschsprachigen Geschichtsbüchern, wenn überhaupt, nur sehr verkürzt dargestellt (Kapitel 5).

Gleiches gilt für die Amalgamierung des Antisemitismus mit dem modernen Rassismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der antimodernen Weltanschauung der sich nun „Antisemiten“ nennenden Judenfeinde wird eine jüdische „Gegenrasse“ imaginiert, der das Prinzip der Zerstörung aller anderen „Rassen“ innewohne. Statt den Schüler:innen „Empathie-Übungen“ (S. 93) für bekennende Antisemiten abzuverlangen, wie dies – man mag es nicht glauben – in einigen Schulbüchern der Fall ist, sei – so das Fazit des sechsten Kapitels – über den pathisch-projektiven Mechanismus des modernen Antisemitismus ebenso aufzuklären wie der biologistische Mythos der „Rassen“-Ideologie zu dekonstruieren.

Versagen die Schulbücher durch unzulässige Verkürzungen und Vereinfachungen bei der Darstellung sowohl der Entwicklung der Judenfeindschaft in der Weimarer Republik (Kapitel 7) als auch der kumulativen Radikalisierung bis hin zum staatlichen Vernichtungsantisemitismus im Nationalsozialismus (Kapitel 8), so fehlt die Entwicklung des Antisemitismus nach 1945 in der Regel ganz. Der Antisemitismus nach Auschwitz ist bekanntlich nicht identisch mit dem Antisemitismus vor Auschwitz. Zwischen ihnen liegt die geschichtliche Tatsache der Shoah und die Gründung des Staates Israel. In den Begriffen „Post-Shoah-Antisemitismus“ (Kapitel 9) und „israelbezogener Antisemitismus“ (Kapitel 10) kommt die Differenz zum Ausdruck. Wie diese aktuellen Formen des Antisemitismus funktionieren, wird in den Schulbüchern nicht oder falsch dargestellt. In manchen Fällen wird der israelbezogene Antisemitismus sogar reproduziert.

Angesichts dieser desaströsen Befunde fällt das Fazit entsprechend kritisch aus. „In Schulbüchern“, so hatte die Autorin einleitend zu der Relevanz schulisch vermittelter Wissensbestände notiert, „bringt eine Gesellschaft zum Ausdruck, was sie an Wissen, Werten, Traditionsbeständen für derart wichtig erachtet, dass es an die nächste Generation weitergegeben werden sollte“ (S. 20). In einem Land, das jenes präzedenzlose Verbrechen, für das der Eigenname Auschwitz steht, zu verantworten hat, wäre deshalb zu erwarten, dass die Aufklärung über Antisemitismus, die Erklärung seiner Ursachen und Formen wie auch die Vermittlung wirksamer Gegenstrategien höchste Priorität haben und eine zentrale Rolle in dem an die nachwachsenden Generationen weitergegebenen Wissen einnehmen. Dies ist aber nicht der Fall. Den Schulbüchern mangelt es durchweg an faktengestütztem Wissen zu allen Phasen sowohl der Geschichte des Judentums wie auch der Geschichte der Judenfeindschaft. Statt gründliche Informationen zu vermitteln, die die Schüler:innen in die Lage versetzen, Falschaussagen zu erkennen, enthalten die Schulbücher in vielen Fällen verkürzte und verzerrte Darstellungen, die antisemitischen Einstellungen Vorschub leisten.

Diskussion

Wer das Buch „Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen“ (2014) von Martin Liepach und Wolfgang Geiger (das übrigens im Literaturverzeichnis fehlt) gelesen und die „Deutsch-Israelischen Schulbuchempfehlungen“ (2015) des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung zur Kenntnis genommen hat, wird in dem Buch von Kölsch-Bunzen nicht viel Neues finden. Besonders an der Perspektive der Kindheitspädagogin ist aber, dass sie den pädagogischen Elementarbereich in die Antisemitismusprävention miteinbezieht. Aus der Rassismusforschung ist seit langem bekannt, dass schon Kinder unter sechs Jahren negative Vorstellungen gegenüber gesellschaftlich rassifizierten Minderheiten reproduzieren. „[F]orschungsbasierte, pädagogisch fundierte Empfehlungen zum angemessenen Umgang mit dem Phänomen ‚Antisemitismus‘“ fehlen aber bislang, sodass Kölsch-Bunzen zu Recht konstatiert: „Hier tut sich eine Forschungslücke auf, die dringend bearbeitet werden sollte“ (S. 18). Ihr Buch schließt diese Forschungslücke zwar nicht, richtet den Blick aber auf einen wichtigen Bereich: die religiöse und interreligiöse frühkindliche Bildung und hier insbesondere die Kinderbibeln und Kinderkorane. Dass hier „die Potenziale zur Prävention gegenüber antisemitischen Verschwörungsphantasmagorien […] noch nicht ausgeschöpft“ (S. 19) sind, ist noch beschönigend ausgedrückt. Die Autorin zeigt vielmehr, dass der tiefverankerte religiöse Antijudaismus in den meisten der sich aktuell im Umlauf befindenden deutschsprachigen Kinderbibeln wie auch Kinderkoranen tradiert wird.

Eine Anmerkung zur formalen Textqualität ist leider nötig: Der Text wimmelt nur so vor Schreibfehlern und Lapsus Linguae, die teilweise auch die Inhalte beeinträchtigen – so ist, um nur ein Beispiel zu geben, der Versailler Vertrag keineswegs im Jahr 2019 geschlossen worden, wie auf Seite 97 des Buches behauptet wird.

Ein gutes Schulbuch macht noch keine gute Schule. Aber ein Schulbuch, das faktenbasiertes Wissen und fundierte Informationen bietet, stellt eine Voraussetzung dar, um im Schulunterricht antisemitischen Phantasmen entgegenzuwirken. Umso beunruhigender ist, dass die von Nina Kölsch-Bunzen untersuchten Bildungsmaterialien für den Geschichts-, Politik- und Religionsunterricht mit nur wenigen Ausnahmen die Inhalte in einer Weise verkürzen und verzerren, die antisemitischer Vorurteilsbildung Vorschub leistet.

Fazit

Das Buch bestätigt damit, was der Sache nach schon lange bekannt ist. Dass dennoch die Weichen bis heute nicht in Richtung einer qualitativen Antisemitismusprävention, wie sie die Deutsch-Israelische Schulbuchkommission bereits vor 40 Jahren gefordert hat, gestellt sind, verweist auf ein institutionelles Versagen, für das viele – Kultusministerien, Schulpolitik, Schulbuchverlage inklusive ihrer Autor:innen wie auch das Schulpersonal selbst – die Verantwortung tragen.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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Zitiervorschlag
Wolfram Stender. Rezension vom 30.03.2023 zu: Nina Kölsch-Bunzen: Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? Die Förderung von Antisemitismusprävention in Kindertagesstätten und Schulen durch Kinderbibeln, Kinderkorane und Schulbücher. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-7074-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29680.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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