Ulrike Scheuermann, Ingeborg Schürmann: Krisenintervention lernen
Rezensiert von PD Dr. Christiane Wempe, 24.05.2023

Ulrike Scheuermann, Ingeborg Schürmann: Krisenintervention lernen. 12 Fälle aus der psychosozialen Praxis.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
4. Auflage.
273 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6921-1.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Edition Sozial.
Thema
Bei dem Buch handelt es sich um die vierte überarbeitete Neuauflage eines bekannten Buchs der Autorinnen über den Ansatz der Krisenintervention. Die Neuerung besteht im Wesentlichen darin, dass der Aufbau des Buches nun auf Falldarstellungen basiert. Diese sind jeweils verschiedenen Krisensituationen gewidmet, denen Menschen typischerweise im Leben ausgesetzt sind. Das Spektrum der hier ausgewählten Krisen ist dabei recht breit und reicht von Trennung, Arbeitslosigkeit über Entwicklungskrise bis hin zu häuslicher Gewalt und Missbrauch. Ziel ist es, den Horizont der Leserschaft zu erweitern und eine intensive Auseinandersetzung mit diesem speziellen Interventionsansatz anzuregen.
Aufbau
Die einzelnen Kapitel folgen einem festen Aufbau, der einleitend anschaulich erläutert wird. In jedem der zwölf Kapitel wird jeweils ein Fallbeispiel und dessen Reflexion durch die Berater:in vorgestellt. Weiterhin werden die einzelnen Schritte der Intervention beschrieben, die sich für diese Problemlage als hilfreich erwiesen haben. Jedes Kapitel endet mit einem Literaturexkurs, der weiterführende theoretische Anregungen liefert. Die Fallskizzen verstehen sich als Prototypen, die aus verschiedenen realen Patient:innen kombiniert wurden, um deren Anonymität zu gewährleisten. Sie dienen als Modelle erfolgreicher Krisenintervention. Die Kapitel sind eingerahmt von einer kurzen Einleitung und einem abschließenden Teil, in welchem grundlegende Konzepte erörtert werden.
Autorinnen
Es handelt sich um zwei der ursprünglich drei Autorinnen, die vor ihrem persönlichen beruflichen Hintergrund (praktische und wissenschaftliche Tätigkeitsschwerpunkte) jeweils ihre unterschiedlichen Kompetenzen einbringen. Dies führt zu einer gelungenen Verknüpfung praktischer und theoretischer Aspekte, ganz im Sinne eines Lernbuchs. Eine psychotherapeutische Zuordnung der Interventionsmethoden erfolgt nicht.
Inhalt
Das Buch thematisiert in den einzelnen Kapiteln verschiedene kritische Lebensereignisse bzw. chronische Belastungslagen. Das Altersspektrum ist sehr breit, von der Kindheit (Kap.5.) bis ins höhere Erwachsenenalter (Kap. 8.), wobei der Fokus auf dem Erwachsenenalter liegt. Allen voran steht bei Krisen das hier im zweiten Kapitel behandelte Thema akute Suizidalität, das für viele Menschen in helfenden Berufen den Inbegriff einer Krisensituation darstellt und sehr belastend sein kann. Diesbezüglich werden hilfreiche Anregungen gegeben, wie akut gefährdete Menschen ein Stück aufgefangen und begleitet werden können. Weitere typische kritische Lebensereignisse sind Arbeitslosigkeit bzw. Überschuldung (Kap. 3) und Scheidung (Kap. 1), die die Betroffenen in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Ressourcen unterschiedlich gut verkraften. Im elften Kapitel geht es um die Diagnose einer chronischen Erkrankung, hier multiple Sklerose, die einen Familienvater völlig unvorbereitet trifft und aus der Bahn zu werden droht. Weitere Kapitel sind den Inhalten Depression (Kap. 8), Borderlinestörung (Kap. 9) und Psychose (Kap. 7) gewidmet, die ja eigentlich im engeren Sinne psychische Störungsbilder sind, allerdings mit krisenhaften Entwicklungen einhergehen können, wie hier deutlich gemacht wird.Welche Probleme diese jeweils nach sich ziehen können, wird anschaulich skizziert.
Ein weiteres Kapitel (Kap. 6) beschreibt den Fall einer Entwicklungskrise: der betroffene junge Mann fühlt sich sowohl beruflich als auch privat sehr überfordert und leidet wohl an sozialen Ängsten. Die Autorinnen beschreiben seine Gefühle mitten in einer Krise der Identitätssuche, auch scheint die Entwicklungsaufgabe der Ablösung von den Eltern von ihm nicht bewältigt. Die beiden Inhalte „häusliche Gewalt“ (Kap. 4) und „sexueller Missbrauch“ (Kap. 5) fallen schon eher in den Bereich traumatische Erfahrungen, die über ein erstes Auffangen hinaus weiterführende psychotherapeutische Maßnahmen erfordern.
In einem eigenen Kapitel (Kap. 10) wird die Belastung von Angehörigen thematisiert, die bisher in der Literatur nur wenig Beachtung fand: es werden die Sorgen und Nöte der Ehefrau eines alkoholabhängigen Mannes geschildert, sowie Möglichkeiten der Abgrenzung und Entlastung diskutiert. Positiv hervorzuheben ist schließlich, dass – angesichts der Aktualität der Problematik – das letzte Kapitel sich mit dem Aspekt gesellschaftliche Krisen befasst. Am Beispiel einer jungen Frau wird beschrieben, wie diese mit den Folgen der Coronapandemie und des Ukrainekrieges zu kämpfen hat. Der Umgang mit Unsicherheiten ist dabei ein zentraler Aspekt, der zukünftig mehr Beachtung verdient. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass globale Krisenerfahrungen auch vor den helfenden Berufen nicht Halt machen und diese in besonderem Maße herausfordern.
Der abschließende Teil (nicht als Kapitel beziffert) über „Theorien und Konzepte der Krisenintervention“ klappt etwas hinterher. Darin wird die historische Entwicklung der Krisenintervention skizziert. Außerdem werden begriffliche Erläuterungen vorgenommen, die vielleicht schon am Anfang hilfreich gewesen wären. Wie lässt sich der Krisenbegriff von den Begriffen kritisches Lebensereignis, Entwicklungsaufgabe und traumatisches Erlebnis abgrenzen? Manche zentrale Fachbegriffe finden sich etwas über die Kapitel verstreut: das sehr populäre Resilienzkonzept wird in dem Kapitel über Suizidalität näher ausgeführt, der Copingbegriff im Kapitel über Arbeitslosigkeit. An dieser Stelle werden diese Begriffe mit Querverweisen dann nur gestreift. Schließlich findet sich hier ein kurzer Hinweis darauf, dass kritische Lebensereignisse auch positiver Natur sein können, wie etwa die Geburt eines Kindes. Nicht zuletzt wird am Ende die Bedeutung einer ressourcenorientierten Haltung der Helfenden in der Krisenbegleitung stets betont und auch in den Kapiteln konsequent verfolgt.
Diskussion
Insgesamt liefert das Buch anhand der sehr unterschiedlichen Lernfälle einen Einblick in das subjektive Erleben und die Bewältigungsmuster von Menschen, die Schicksalsschläge und Entwicklungsherausforderungen bewältigen müssen. Daher scheint das Buch für die genannte Zielgruppe gut geeignet: MitarbeiterInnen psychosozialer und psychiatrischer Einrichtungen, aber auch Studierende Sozialer Berufe, die Menschen in Krisen begleiten. Lediglich für fachfremde Berufsgruppen, die in assoziierten Berufsfeldern tätig sind, (z.B. Feuerwehr, Polizei), sind manche Fachbegriffe (z.B. Gegenübertragung) nicht ohne weiteres verständlich, sodass eine Erklärung hilfreich gewesen wäre. Eine gute Anregung ist, dass die Autorinnen immer die Beziehungsebene Klient:in – Berater:in im Auge haben: wie erleben die Berater:innen die Menschen, die mit ihren jeweiligen Herausforderungen und Lebenskrisen zu ihnen kommen und wie geht es ihnen selbst damit? Dabei wird auch die Bedeutung von Supervision betont.
Leider wird der Krisenbegriff in der Literatur allgemein oft unklar benutzt, sowohl für die Auslöser- als auch für die Reaktionsseite, was sich teilweise auch in dem Buch niederschlägt. Meist werden Krisen als Auslöser von psychischen Erkrankungen diskutiert, insbesondere bei Depressionen: In dem hier vorgestellten Fallbeispiel führt die Betroffene ihre depressive Entwicklung auf den Verlust ihres Arbeitsplatzes zurück. Umgekehrt gehen psychische Erkrankungen mit krisenhaften Entwicklungen einher, wie hier das Kapitel 7 verdeutlicht. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass kritische Lebensereignisse oft nicht singulär, sondern kumuliert auftreten. Auch bei den beschriebenen Fällen handelt es sich teilweise um komplexe Problemkonstellationen.
Schließlich wäre ein Hinweis auf die Problematik, dass Betroffene in der Regel nicht sofort Unterstützung finden, zu ergänzen, denn die Aussage, jemand solle einen Termin in einer psychiatrischen Praxis für den nächsten Tag machen (S. 163), weckt falsche Erwartungen angesichts mehrmonatiger Wartezeiten in solchen Praxen. Leider ist Deutschland in vielen Teilen noch weit von der Möglichkeit einer kurzfristigen Inanspruchnahme einer Krisenintervention entfernt, was für Betroffene sehr schwierig ist.
Fazit
Insgesamt ist der Spagat zwischen dem Anspruch, ein gewisses Spektrum an Krisensituationen abzudecken, und dem Ziel, die Leserschaft eingehender über Interventionsmöglichkeiten in den einzelnen Krisenkonstellationen zu informieren, den beiden Autorinnen gut gelungen. Ihr Vorgehen ist sehr anschaulich und praxisnah, die Fallbeispiele sind leserfreundlich. Positiv anzumerken ist, dass auch die Grenzen der Kriseninterventionen verdeutlicht werden.
Rezension von
PD Dr. Christiane Wempe
Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eigener Praxis in Ludwigshafen, Dozentin und Supervisorin.
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