Willibald J. Stronegger, Johann Platzer (Hrsg.): Technisierung der Pflege
Rezensiert von Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann, 22.02.2023

Willibald J. Stronegger, Johann Platzer (Hrsg.): Technisierung der Pflege. 4. Goldegger Dialogforum Mensch und Endlichkeit.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2022.
185 Seiten.
ISBN 978-3-8487-8492-9.
39,00 EUR.
Reihe: Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft - Band 15.
Thema
Pflegeroboter, Plüschrobbe mit Klimperaugen, elektronische Wunddokumentation per Tablet – technische und digitale Elemente werden in der Pflege schon einige Zeit diskutiert. Aber werden sie auch angewendet und zeigen Nutzen für den pflegebedürftigen Menschen und die Mitarbeitenden? Dieses Buch dokumentiert das vierte interdisziplinäre Dialogforum „Mensch und Endlichkeit“ im September 2021 in Goldegg, Österreich, mit dem Themenschwerpunkt „Technisierung der Begleitung und Pflege am Lebensende“. Das Dialogforum will theoretische Zugänge und Erfahrungen sowie Modelle aus der Praxis in den Austausch bringen.
Herausgeber
Prof. Dr. Willibald Stronegger ist Universitätsprofessor im Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Medizinischen Universität Graz. Gemeinsam mit Mag. Dr. Johann Platzer vom Institut für Moraltheologie der Karl-Franzens-Universität Graz hat er diesen Sammelband herausgegeben. Zu diesem Buch haben zehn weitere Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Disziplinen beigetragen.
Aufbau
Auf 183 Seiten verteilen sich in drei Abschnitten insgesamt acht Kapitel. Den drei Teilen ist eine medizinsoziologische Hinführung vorangestellt.
- Teil I: Spannungsfeld Simulation und Authentizität
- Teil II: Spannungsfeld Freiheit, Sicherheit und Recht
- Teil III: Spannungsfeld Personenwürde und digitalisierte Pflege
Inhalt
Digitalisierung und Technisierung haben das Potential, Pflege und Alter in naher Zukunft tiefgreifend zu verändern. Wie die Lebensumgebung dann aussehen wird, hängt maßgeblich davon ab, ob die Transformation von technisch-ökonomischen Kräften getrieben wird oder der Diskurs sich an rechtlichen, sozialen und ethischen Standards orientiert.
Die medizinsoziologische Hinführung zeigt zunächst die Rolle der Medizin in einer säkularen Gesellschaft. Dabei wird auf den Wandel des Naturbegriffs und die Durchsetzung der Naturwissenschaften als Fundament von Biomedizin und Health Care Management eingegangen. Dazu werden das Wissenschafts-Narrativ des Techniszientismus und das Lebens-Sicherheits-Metanarrativ herangezogen. Es wird die Sorge beschrieben, dass im Namen einer optimierten Bevölkerungsgesundheit eine Kollektivierung der Gesundheit und des Lebens erfolgt, die mit selbstbestimmter Gesundheit und Menschenwürde schwer zu vereinbaren ist.
Teil I zum Spannungsfeld Simulation und Authentizität beinhaltet drei Beiträge. Im ersten erhalten Lesende einen Einblick in den alltäglichen Einsatz des Assistenzroboters „Lio“ in der Altenpflege. „Lio“ basiert auf künstlicher Intelligenz und kann lernen, autonom navigieren und mit Menschen interagieren. Er hat Funktionen für die direkte Interaktion mit Bewohnerinnen und Bewohnern und Funktionen, die dem Personal Arbeit abnehmen. Bei den Nutzergruppen zeigen sich entgegengesetzte Erwartungen und auch technische Einschränkungen kamen vor. Das Autorenteam konstatiert, dass der verstärkte Einsatz von Robotern dem Arbeitskräftemangel im Pflege- und Gesundheitswesen begegnen kann, skizziert aber auch die Hürden wie Sicherheit, Datenschutz und Akzeptanz. Der zweite Beitrag fragt nach Faktoren, die bei der Programmierung von Pflegerobotern berücksichtigt werden sollen, damit diese ein höfliches Auftreten erhalten. Menschen als soziale Wesen halten zwischenmenschliche Höflichkeitsformen ein – kann ein Roboter das auch? Und wenn ja, wie bringt man ihm Status, Zugehörigkeit, nichtverbalen Ausdruck, angemessene Wortwahl und Rederechtsvergabe, Blickrichtung und Körperhaltung bei, die das Konzept der Höflichkeit mitbestimmen? Hierzu gibt der Beitrag wertvolle Hinweise. Die Abbildung einer solch komplexen sozialen Verhaltensweise kann nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erreicht werden. Der dritte Beitrag hält am Thema Pflegeroboter fest und nimmt die Kommunikation in den Blick. Sollen Pflegeroboter immer die Wahrheit sagen? Es geht um Wahrheit und Lüge und dessen Verortung in einer gelingenden Kommunikation, insbesondere mit Kranken, Hochbetagten und Sterbenden.
Teil II nimmt das Spannungsfeld Freiheit, Sicherheit und Recht in den Fokus und arbeitet dies in zwei Beiträgen auf. Zunächst betrachtet Klaushofer die Frage nach möglichen Grundrechten künstlicher Systeme und deren Konsequenzen im Wechselspiel zwischen menschenrechtlichen Garantien und gesellschaftlichen Veränderungen. Daran schließt sich Reinmüller mit ihrem Beitrag zu Pflege in Zeiten von Corona an. Freiheit, Sicherheit und Recht waren im Umgang mit vulnerablen Gruppen im Kontext der Coronapandemie zugunsten eines Vorrangs der Sicherheit untergeordnet. Die bereits bestehende Pflegekrise verschärfte sich durch die Coronakrise. Die Autorin fächert Freiheit und Sicherheit als Rechtsbegriffe auf.
Teil III betrachtet das Spannungsfeld Personenwürde und digitalisierte Pflege. Zunächst greift Haslinger-Baumann die Frage nach der Rolle und Zukunft assistiver Technologien in der Gesundheits- und Krankenpflege auf und zieht ökonomische sowie ethische Überlegungen heran. An das Thema Ethik schließt sich auch der dritte Beitrag an. Im vierten Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob Roboter Pflegekräfte ersetzen können. Schmidhuber zeichnet hierzu Szenarien nach, die die Chancen und Barrieren aufzeigen. Für eine adäquate Entwicklung ist es nötig, möglichst alle Betroffenen in die Entwicklung und Forschung einzubeziehen.
Diskussion
Dieser Sammelband hält einen umfangreichen Blick in die Technisierung der Pflege bereit. Anwendungsmöglichkeiten, aber auch die Grenzen von Technik, Robotik und Digitalem werden deutlich. Die Lesenden können den Diskurs des Dialogforums und das große Spektrum der Themenfelder in dieser verschriftlichten Form gut nachvollziehen.
Die medizinsoziologische Einführung wirkt etwas losgelöst zum danach bearbeiteten Themenfeld Pflege – sicher gibt es hier einige theoretische Parallelen, aber eine pflegewissenschaftliche Einordnung hätte gegebenenfalls deutlichere Bezüge hergestellt. Der Sprung nach rund 40 Seiten abstrakt-theoretischer Abhandlung in die einzelnen Beiträge mit hohem Praxisbezug ist recht hart, aber mit ein wenig Übung in soziologischen Texten verstehbar.
Das Buch stammt in den meisten Beiträgen aus dem österreichischen Kontext, was unter anderem an Ausdrücken wie Spital erkennbar ist. Die Übertragbarkeit in andere Gesundheitssysteme und deren Rahmenbedingungen ist für die betreffenden Beiträge zu prüfen (zum Beispiel zu den Rahmenbedingungen beruflicher Ausbildung).
Die Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit und der Einbezug von Pflege(wissenschaft) in Digitalisierungsprojekt wird in fast jedem Beitrag ausgesprochen. Hier gilt es anzusetzen, in Österreich wie in Deutschland
Fazit
Der Mensch ist und wird auch in Zukunft in der Pflege nicht durch digitale Elemente, Technik und Robotik ersetzbar sein – aber bestimmte Elemente können Unterstützung und Entlastung schaffen, damit Mitarbeitenden (wieder) mehr Zeit für das Kerngeschäft von Pflege zur Verfügung steht. Dieser Sammelband als Dokumentation des Dialogforums „Mensch und Endlichkeit“ 2020 in Goldegg zeigt den aktuellen Diskurs mit den unterschiedlichen Facetten.
Rezension von
Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann
Hochschule Hannover Fakultät V - Diakonie, Gesundheit und Soziales
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Zitiervorschlag
Nina Fleischmann. Rezension vom 22.02.2023 zu:
Willibald J. Stronegger, Johann Platzer (Hrsg.): Technisierung der Pflege. 4. Goldegger Dialogforum Mensch und Endlichkeit. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2022.
ISBN 978-3-8487-8492-9.
Reihe: Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft - Band 15.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29682.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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