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Simone Pülschen: Sexueller Kindesmissbrauch

Rezensiert von Gesa Bertels, 20.02.2024

Cover Simone Pülschen: Sexueller Kindesmissbrauch ISBN 978-3-17-038472-9

Simone Pülschen: Sexueller Kindesmissbrauch. Pädagogisches Handeln im Verdachtsfall. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 187 Seiten. ISBN 978-3-17-038472-9. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.
Reihe: Fallbuch Pädagogik.

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Thema

Der Umgang mit Verdachtsmomenten und Anhaltspunkten für sexuellen Kindesmissbrauch im Handlungsfeld Schule steht im Fokus dieser Publikation. Durch ihren umfassenden Zugang zu jungen Menschen nehmen Lehrkräfte potenziell eine zentrale Rolle beim Kinderschutz ein. Um in Verdachtsfällen besonnen und kompetent handeln zu können, benötigen sie jedoch entsprechendes Fachwissen. Illustriert durch drei authentische Fallvignetten vermittelt der Band schulischen Fachkräften Fachwissen zu Grenzverletzungen und sexueller Gewalt.

Autorin

Die Autorin Simone Pülschen ist Juniorprofessorin für Pädagogik und interdisziplinäre Kooperation im Kontext sexueller Gewalt am Institut für Sonderpädagogik, Abteilung Sonderpädagogische Psychologie, an der Europa-Universität Flensburg. Den Bezug zum Handlungsfeld Schule bringt sie bereits aus ihrer vorhergegangenen Tätigkeit als Förderschullehrerin mit. Dem Thema der sexualisierten Gewalt in diesem Handlungsfeld widmete sie sich zudem bereits in mehreren Forschungsprojekten. Sie war u.a. Verbundleitung des BMBF-geförderten Forschungsvorhabens „ViContact – Erstgespräche bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch – Professionalisierung von Lehramtsstudierenden durch Übung in virtuellen Szenen“ (2018-2021) sowie Leitung der BMBF-geförderten Nachwuchsforschungsgruppe Zusatzausbildung „Referenzperson für schulisches Handeln im Kontext sexuellen Kindesmissbrauchs (RPSKM)“.

Hintergrund

Die Schule sei der einzige Ort außerhalb der Familie, wo alle Kinder und Jugendlichen täglich gesehen und erreicht werden könnten, so die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus. Sie schlussfolgert daraus: „Die Bedeutung von Schule als Ort für den Kinder- und Jugendschutz kann daher nicht hoch genug bewertet werden“ (siehe „Schule gegen sexuelle Gewalt“). Im Jahr 2022 wurden in Deutschland laut der Polizeilichen Kriminalstatistik rund 15.500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Auch wenn die Zahl der angezeigten Fälle seit einigen Jahren stetig steigt, so werden nach wie vor die meisten Fälle gar nicht zur Anzeige gebracht und bilden sich somit auch nicht im Hellfeld ab. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge sind in Deutschland rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse von sexueller Gewalt durch Erwachsene betroffen. Dies unterstreicht die Relevanz des Themas gerade auch für das Handlungsfeld Schule. Umso erstaunlicher ist es daher, dass die notwendigen Fachkenntnisse bislang noch kein fester Bestandteil von Lehramtscurricula sind und Lehrkräfte sich überwiegend nicht ausreichend vorbereitet fühlen, entsprechenden Fragen und Situationen angemessen zu begegnen, wie in der Einleitung geschildert (S. 9 f.). In diesem Band der Reihe „Fallbuch Pädagogik“ trägt die Autorin Basiswissen zusammen, dass helfen kann, im schulischen Setting mit entsprechenden Verdachtsmomenten kompetent umzugehen.

Aufbau und Inhalt

Der schmale Band ist in insgesamt vier ausgewogene Kapitel gegliedert.

In den ersten knapp 50 Seiten des ersten Kapitels werden im Rahmen einer Einführung ins Thema Begrifflichkeiten und häufige Konstellationen erläutert sowie Risiko- und Schutzfaktoren benannt. Zudem wird auf Fragen nach Anzeichen und Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs eingegangen. Das zweite Kapitel zu fachlichen Grundlagen des professionellen pädagogischen Handelns nimmt vor allem die Grundlagen rechtskonformen Handelns und das Führen von Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen in den Blick. In diesem Zusammenhang wird neben Erkenntnissen über Offenbarungssituationen u.a. auch ergebnisoffene Gesprächsführung und die anschließende Dokumentation thematisiert. Diese beiden inhaltlichen Kapitel werden dann in einem dritten Abschnitt im Rahmen von drei Fallvignetten, die jeweils unterschiedliche fachliche Aspekte akzentuieren, zusammengeführt. Abschließend finden sich im vierten Kapitel Hinweise auf Ressourcen, die pädagogische Fachkräfte im Verdachtsfall oder auch davon losgelöst nutzen können, wie weitere Unterstützungsangebote, Kooperationsmöglichkeiten, Fortbildungen und Präventionsangebote.

Diskussion

Auffallend ist schon am Titel des Buches, was im ersten Kapitel zur Einführung ins Thema formuliert wird: Die Autorin entscheidet sich für die überwiegende Nutzung des Begriffs „sexueller Kindesmissbrauch“ anstelle der ebenfalls gebräuchlichen Formulierungen „sexuelle Gewalt“ oder auch „sexualisierte Gewalt“ und stützt sich dabei auf die recht allgemein gehaltene Definition des amerikanischen National Center for Diseases Control and Prevention. Dass diese Entscheidung nicht nur auf der sprachlichen Ebene liegt, sondern auch inhaltliche Setzungen mit sich bringt, kann man daran sehen, dass in der weiteren Darstellung zentraler Wissensbestände zunächst ein besonderer Fokus auf Straftatbeständen und rechtlichen Einordnungen liegt und weniger auf Grenzüberschreitungen bspw. unter Kindern und Jugendlichen, die unterhalb dieser Schwelle liegen, gerade im schulischen Kontext aber eine wesentliche Rolle spielen können. In einem darauffolgenden Abschnitt zu häufigen Konstellationen wird sexueller Missbrauch im sozialen Nahraum (insbesondere im Kontext Familie, Schule sowie durch Peers), und mittels digitaler Medien dargestellt. Diese Schwerpunktsetzung erscheint sehr berechtigt. In den meisten Fällen entstammen die Tatpersonen dem sozialen Nahraum. Auf die Bedeutung des familiären Kontextes weist derzeit u.a. die Bundeskampagne „Schieb den Gedanken nicht weg“ eindrücklich hin. Dem thematischen Fokus der Publikation entspricht der Blick auf die Schule sowie auf Übergriffe durch Gleichaltrige. Digitale Medien sind für junge Menschen wichtige Erfahrungsräume, die jedoch auch zunehmend Instrumente sexueller Gewalt sind. Ein weiterer Abschnitt wird Kindern und Jugendlichen mit Behinderung(en) gewidmet, die mit Blick auf dieses Thema besondere Vulnerabilitäten mitbringen. Die Unterkapitel zu Anzeichen und Folgen sexuellen Missbrauchs sind angenehm knappgehalten. Hier gibt es sicherlich immer die Herausforderung eines gewissen Spagats zwischen dem Bedürfnis vieler Fachkräfte, möglichst konkrete Anhaltspunkte vermittelt zu bekommen, die auf sexuelle Gewalterfahrungen hinweisen und der hier gut formulierten Positionierung: „Dass es möglich wäre, mit Hilfe einer Checkliste oder unterschiedlicher Anzeichen auf einen sexuellen Missbrauch zu schließen, ist schlicht falsch und sehr problematisch“ (S. 52).

Fachliche Grundlagen professionellen pädagogischen Handelns stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Hier geht es insbesondere um die Handlungsschritte der pädagogischen Fachkraft. Dazu wird zunächst der rechtliche Rahmen für ein rechtskonformes Handeln von pädagogischen Fachkräften im Verdachtsfall skizziert, mit einem besonderen, wichtigen Exkurs zur Frage der Strafanzeige, wo es in der Praxis immer wieder Unsicherheiten bei den Fachkräften oder Kooperationspartner:innen gibt. Wichtig ist aber auch der sich anschließende, eher kurze Abschnitt mit Hinweisen, wie man als Lehrkraft Offenbarungsprozesse unterstützen und sich als Vertrauensperson anbieten kann. Er wird ergänzt um ausführlichere Informationen dazu, wie man Gespräche mit potenziell betroffenen Kindern und Jugendlichen führen und diese dokumentieren kann. Weitere, kürzere Abschnitte gehen auf therapeutische/pädagogische Hilfen sowie Präventionsansätze und das schulische Schutzkonzept ein.

Im dritten Kapitel wird ein Teil der vorab geschilderten Handlungsempfehlungen an drei Vignetten konkretisiert. Zwei Fälle sind im Grundschulkontext angesiedelt, ein dritter an einer weiterführenden Schule. Bei der Darstellung der Fallbeispiele liegt der Schwerpunkt auf dem pädagogischen Handeln beim ersten Aufkommen eines Verdachts, dem Umgang mit dem beteiligten Kind sowie dessen Erziehungsberechtigten. Auf eine Einführung in den Fall folgt eine Schilderung des Gesprächsverlaufs bzw. der folgenden Handlungen der pädagogischen Fachkraft. Teilweise werden dabei Variationen geschildert, beim ersten Fall bspw. zunächst ein exemplarischer, eher ungünstiger Gesprächsverlauf. Dieser wird anschließend diskutiert, wobei Empfehlungen zu verschiedenen Aspekten (Zeitrahmen, Geheimniswahrung, Elterninformation, Dokumentation etc.) gegeben werden. In einer zweiten Variante wird zum gleichen Fall ein günstigerer Gesprächsverlauf und ein angemesseneres pädagogisches Handeln geschildert. Deutlich wird in den Beispielen u.a., wie wichtig es ist, einerseits an die Möglichkeit sexualisierter Gewalt zu denken, zugleich aber auch Gegenhypothesen nicht außer Acht zu lassen.

Nicht nur, aber auch für Fachkräfte an Schulen gilt: Niemand löst einen (Verdachts-)Fall sexualisierter Gewalt allein. Folgerichtig sind im letzten Kapitel Ressourcen benannt, zu denen Netzwerkpartner:innen (insoweit erfahrene Fachkräfte, Jugendämter und spezialisierte Beratungsstellen) sowie Fortbildungsangebote und weiterführende Materialien gehören. Im Abschnitt zum Jugendamt werden dessen Handlungsspektrum sowie Möglichkeiten der Zusammenarbeit beschrieben. Ein Hinweis auf die Verpflichtung des Jugendamts zur Rückmeldung wäre hier noch eine denkbare Ergänzung gewesen, stärkt dies doch bestenfalls die Kooperation. Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) wurde in § 4 Abs. 4 KKG für Jugendämter die Pflicht eingeführt, sogenannten Berufsgeheimnisträger:innen, die das Amt über gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung informiert haben, eine Rückmeldung darüber zu geben, ob das Jugendamt diese Anhaltspunkte bestätigt sie und zum Schutz des Kindes tätig geworden ist und noch tätig ist. Im Abschnitt zu den Beratungsstellen werden einige zentrale Träger vorgestellt. Ergänzend hätte vielleicht auch auf überregionale Orientierungsangebote wie die Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF) oder das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch hingewiesen werden können, wo man jeweils Informationen zu Anlaufstellen vor Ort oder auch Online-Beratungsmöglichkeiten finden kann. Sehr umfassend ist der Abschnitt über bestehende Fortbildungsangebote. Hilfreich erscheinen auch die Empfehlungen weiterführender Literatur.

Fazit

Der klare Bezug dieses Fachbuchs zum Handlungsfeld Schule wird im (Unter-)Titel meines Erachtens nicht ausreichend deutlich. Greifen Lehrkräfte dennoch zu diesem Buch, so bekommen sie hier in kompakter Form Basiswissen zum Thema sexueller Kindesmissbrauch vermittelt. Die Fallbeispiele unterstreichen den Praxisbezug und veranschaulichen deutlich die Relevanz des Themas auch für den schulischen Kontext. Durch die bundesweit zunehmende Verpflichtung von Schulen, Konzepte zum Schutz vor Gewalt zu entwickeln sowie die Einbindung auch von Schulen in übergeordnete Netzwerke zum Thema Kinderschutz hat das Buch zudem eine hohe aktuelle Relevanz.

Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), München
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Es gibt 19 Rezensionen von Gesa Bertels.

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Zitiervorschlag
Gesa Bertels. Rezension vom 20.02.2024 zu: Simone Pülschen: Sexueller Kindesmissbrauch. Pädagogisches Handeln im Verdachtsfall. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-17-038472-9. Reihe: Fallbuch Pädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29690.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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