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Heike Lorenz, Michael Brendt: Grenzen Los Erziehen

Rezensiert von Prof. Dr. em. Lutz Finkeldey, 07.11.2022

Cover Heike Lorenz, Michael Brendt: Grenzen Los Erziehen ISBN 978-3-96557-097-9

Heike Lorenz, Michael Brendt: Grenzen Los Erziehen. Erfolgreiche Jugendhilfe in Europa. ZIEL Verlag (Augsburg) 2022. 256 Seiten. ISBN 978-3-96557-097-9. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR.
Reihe: Edition Erlebnispädagogik.

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Thema

Das Buch „Grenzen Los Erziehen. Erfolgreiche Jugendhilfe in Europa“ befasst sich mit grenzüberschreitenden Hilfen für Jugendliche in der Individualpädagogik. Für Jugendliche stehen kulturelle Spezifika als Anstoß zu neuen Lernprozessen als positiv Fremdes im Zentrum. In Europa existieren nicht nur in diesem Arbeitsfeld kulturell bedingte pädagogische wie juristische Differenzen, sondern vor allem im administrativen Bereich werden sinnvolle Maßnahmen für Jugendliche unnötig erschwert. 

Autor*innen

Neben den Herausgeber*innen Heike Lorenz und Michel Brendt, die als Personal- und Organisationsentwicklerin und als Geschäftsführer für individualpädagogische Projekte tätig sind, haben sich in die Redaktionsgruppe Eva Felka, Monja Heinz, Michel Karkuth und Sven Riegler als Fachleute mit ihrer Expertise eingebracht. Neben den genannten Personen schrieben Jugendliche und fachspezifisch relevante Menschen weitere Beiträge in diesem Buch: Theresa, Felix, Harda Dück, Laurence, Norbert, Manon, Norbert Scheiwe, Reimund Jäckel, Rolf Diener, Ann-Kathrin Eckardt, Marie-Luise Dreber mit Heike Lorenz, Holger Wendelin, Ulla Peters, Christof Theis mit Fabrice Mousel und Christopher Göpel, Rüdiger Mey, Thomas Heckner, Ulla Peters, Joachim Klein mit Michael Macsenaere und Reinhard Wiesner.

Aufbau

Nach Vorwort und Einleitung kommen in Teil 1 Jugendliche, Eltern, Begleitpersonen und themenspezifisch zu verortende Fachleute zu Wort, um die Grundlagen für persönliche Betroffenheit, pädagogische, soziale, jugendamtliche und juristische Belange zu legen.

In Teil 2 steht die multifaktorielle Qualität der Rahmenbedingungen für „Grenzen Los Erziehen“ im deutsch-europäischen Kontext im Vordergrund: Chancengerechtigkeit, Reflexionen zu anderen pädagogischen Angeboten im Arbeitsfeld, fachliche Rahmung im In- und Ausland, jugendpsychiatrische Aspekte, Perspektive für ein Landesjungendamt in Deutschland, Schulabschlüsse, Sinnhaftigkeit individualpädagogischer Ansätze sowie vergleichende Qualität Sozialer Arbeit zum Ausland.

Der Teil 3 enthält explizit die juristischen Hürden in den Rechtssystemen der EU. Zunächst aber stehen Aufenthalte für Jugendliche insgesamt als Sinnfrage im Fokus. Ein ausführliches rechtliches Gutachten von Wiesner analysiert anschließend en Detail rechtliche Hürden. Die Voraussetzungen und das Wesentliche aus deutscher Sicht finden zudem Eingang in das Kapitel.

Resümee und Ausblick schließen das Vorhaben.

Mit diesem Herangehen an eine sozialpädagogisch sehr wertvolle Arbeit folgt die Redaktionsgruppe bis auf in Teil 1 einem nahezu klassischen Vorgehen. In Teil 1 fehlt eine Untergliederung von Artikeln Betroffener, zu Kommentierungen mittelbar Beteiligter und wissenschaftlich orientierten Beiträgen. Das Voranstellen der Betroffenenberichte baut eine Spannung bei Lesenden auf, die im „trockeneren“ Theoretischen nicht zu halten ist. Stilistisch fehlt den Berichten der Jugendlichen ein wenig die Authentizität, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach sprachlich geglättet worden sind (s. Vorwort). Aus formaler Sicht fehlt bei Teil 3 die Einleitung (nur in Teil 1 und 2 ausgewiesen) und im Resümée gibt es Bemerkungen zu allen Kapiteln, obwohl es bei Kapitel 3 direkt angehängt ist.

Inhalt

Im Vorwort schreiben Lorenz/​Brendt: „Es gibt ein gemeinsames Dach, aber kein Raum gleicht einem anderen, weil jeder Raum auf den individuellen Hilfebedarf des betreuten jungen Menschen zugeschnitten und ausgestattet sein muss“ (S. 6). Der ‚Mikrokosmos individualpädagogischer Hilfen‘ (Teil 1), der jungen Menschen eine Perspektive eröffnen soll, findet sich sehr beeindruckend wie überzeugend in den Beschreibungen der jungen Menschen, ihrer Mütter, Väter oder Begleiter*innen. Über das zunächst Fremde im europäischen Ausland (hier: Schweden, Polen, Griechenland, Frankreich) erleben sie die Chance, ihr Leben in einer neu zu erobernden Kultur anders zu regeln, denn erst die zunehmende Kenntnis einer gemeinsamen Sprache – zumindest der Alltagswelt – als sehr wichtige Teile von Kultur ermöglichen tatsächliches Verstehen und bilden den Beginn einer umfassenderen Aneignung der eigenen Ursprungskultur. Den Schlüssel für das Ankommen, ein erstes Erschließen des Unbekannten eröffnen insbesondere körperliche Aktivitäten in einer neuen Sinnumgebung, so dass sich ein physischer und psychischer Raum individuell nach und nach öffnet und erobert werden kann. Übertragen bedeutet das, dass Sinnfindung, Selbstwirksamkeit und Selbstbestätigung eine weitere sozialisatorische Komponente bekommen, die die alte relativ überschreiben.

Warum individualpädagogische Hilfen im Ausland wichtig sind und nicht wegen von außen herangetragener Urlaubsgeschichten verbrämt werden, ebenso die Sozialverwaltung sie wie andere Hilfen sehen sollte, nehmen die fachpraxisorientierten Beiträge auf. Das verwaltungsmäßig notwendige Prozedere für Auslandsaufenthalte und analytisch aufbereitete Erfahrungen aus Italien mit individualpädagogischen Maßnahmen sowie ein Interview mit einem Wissenschaftler zu Kindeswohlgefährdung beenden Teil 1.

Teil 2 befasst sich vorwiegend wissenschaftlich mit Geschichte und Rahmenbedingungen internationaler Jugendarbeit, insbesondere mit dem Blick auf individualpädagogische Hilfen zur Erziehung im Ausland. Konzeptionelle Reflexionen zu Gruppenkonzepten, Individualpädagogik in Vergangenheit und Aktualität, jugendpsychiatrische Einlassungen, Perspektive eines Landesjugendamtes, Schulabschlüsse (möglicherweise mit einer Fernschule) und Ausland, curriculare Sinnhaftigkeit sowie Fragen der Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit des Arbeitsfeldes umschließen Teil 2. Die Headline liegt darin, eine Unterfütterung des Arbeitsfeldes zu bieten, damit „Individualpädagogische Hilfen im Ausland (…) nicht länger Futter für ideologisch-populistische Diskussionen oder ‚Scheinfachdiskurse‘ (…)“ (Scheiwe, S. 52), sondern ‚sinnvolle und hochwertige Teile‘ (s. ebd.) erzieherischer wie Sozialer Arbeit sind.

Teil 3 beschäftigt sich mit dem Brückenbau Europas. Junge Menschen lernen europäische Länder kennen, wenn sie in deren Schulen gehen, soziale, kulturelle, ökologische FSJ werden angeboten, Schulen fördern Austauschprogramme, Städtepartnerschaften existieren, auch die Jugendarbeit fördert internationale Begegnungen. Im Bereich der Jugendsozialarbeit türmen sich in Vergangenheit und Gegenwart die meisten Hürden. Gegenüber anderen jungen Menschen steigern sich die Genehmigungsverfahren zu einer wabernden Chancenungleichheit, die abgebaut werden muss.

Um die Hürden in administrativer wie rechtlicher Hinsicht beurteilen zu können, ist ein umfängliches Gutachten von Reinhard Wiesner zum „Konsultationsverfahren bei grenzüberschreitender Unterbringung nach der VERORDNUNG (EU) 2019/1111 DES RATES VOM 25. Juni 2019“ abgedruckt. In diesem Gutachten werden alle kritischen Punkte grenzüberschreitender Unterbringung angegangen und beurteilt. Der Gutachter stellt letztendlich fest, dass viele Zuständigkeiten nicht hinreichend geregelt sind, so dass im Verfahren Unwägbarkeiten enthalten sind, die die Praxis erschweren.

Im Resümée, das dem Teil 3 zugeordnet ist, sind alle Beiträge noch einmal erwähnt. Lorenz wählt dazu u.a. die Metapher „Glashaus“, um zu verdeutlichen, dass Transparenz mit diesem Buch über Jugendhilfe in Europa geschaffen wird, deren unbestreitbare Stärken – wegen des komplexen internationalen Verfahrens (s. Wiesner) auch administrative Schwächen – deutlich werden. Grenzüberschreitende Hilfen stehen in einer relativen Tradition seit Beginn der 1990er Jahre, so dass der dargelegte Ansatz bereits mit viel Leben gefüllt ist. Noch schwierige Verwaltungsakte behindern über diesen Ansatz zahlreichere Persönlichkeitsentwicklungen von jungen Menschen, die vom bisherigen System von Schule und Jugendhilfe nicht erreicht werden konnten. Notwendige Fort- und Weiterbildungen der beteiligten Mitarbeiter*innen und Fachkräfte finden laut Lorenz‘ Zusammenfassung – neben den anderen Hürden – zu wenig Unterstützung. „Für alle Beteiligten gilt gleichermaßen: Offen bleiben für kleinschrittige und flexible Anpassung der Hilfe-Settings, damit es individuell, auf den Punkt und passend und damit optimal bleibt.“ (Lorenz 2022, 243)

Diskussion

Die grenzüberschreitenden individuellen Hilfen für Jugendliche reichen bis zu Beginn der 1990er Jahre zurück. Seitdem wird diese Hilfeform als Urlaub oder Freizeitvergnügen im Ausland für Jugendliche und ihre (temporären) Begleiter*innen kolportiert. Dieser defaitistische Gedanke zeugt von oberflächlicher Betrachtung, großer Unkenntnis und beschämender Ignoranz. Diese „Urteile“ sind der Vorurteilsphäre zu zurechnen. Das Fremde wird in zweierlei Hinsicht virulent: Bei Außenstehenden entsteht über Unwissenheit ein Gefühl von Neid, sie verstehen nicht, dass Jugendliche mit schiefgelaufenen Sozialisationsprozessen, die deutlich gesellschaftlich fundiert sind, gerade über das ferne Fremde eine weitere Chance erhalten („Ich habe es doch auch allein geschafft!“). Ein sich bewegen in scheinbaren Endlosschleifen von subjektiv erfahrenen Missverhältnissen von Familie, Schule, Jugendhilfe, auch allgemein Gesellschaft benötigt eine Reflexion für und von betroffene/n Jugendliche/n, die über fremde Lebensverhältnisse – wie die Autor*innen sinngemäß schreiben – nachhaltig angestoßen werden können. Die Puzzleteile (Umgehen mit Krisen etc.), die vorher immer an ähnlichen Stellen schiefe Bilder boten, so dass eine passgenaue Zusammensetzung nahezu unmöglich schien, werden fremd und müssen neu besetzt werden. Dieser Prozess der Aufnahme des Alten (niemand kann der eigenen Geschichte entfliehen) und eine Neubewertung durch das Fremde als bisher unbekannte Reflexionsebene, hebt verschollen geglaubte andere Persönlichkeitsmerkmale in das Bewusstsein, so dass ehemals flottierende Puzzleteile zueinander finden. Es gibt Lebenswege von Jugendlichen, denen über „Grenzen Los Erziehen“ eine hervorragende Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht werden kann, so dass sie ihren eigenen Regiestuhl besetzen können. Insofern wäre es sinnvoll, eigentlich unabdingbar, eine problemlose internationale Hilfeplanung zu etablieren.

Der Ansatz sozialpädagogischer Angebote im Rahmen individueller Hilfen ist nicht nur sehr wichtig, sondern auch wegen der Idee und Praxis EU sehr bedeutend. Ein sehr gut konzipierter Ansatz aus Deutschland bekommt Grenzen über differente Nationalstaatlichkeiten mit deren Rechtssystemen (oder umgekehrt). Ein Teil von ihnen mag nachvollziehbar sein, doch bleibt anzumerken, dass das Menschliche erst auf das Sächliche folgt. Hier liegt auch eine leichte Schwäche des Buches, denn die Gesellschaft bleibt außer gegenüber den Jugendlichen thematisch nahezu exkludiert. „Sie ist so und kann nicht verändert werden“ schimmert durch. Über die Kinder- und Menschenrechte, die Grundpfeiler der Europäischen Union sind, müsste das Wohl von Menschen vor egoistischen staatlichen, auch kameralistischen Interessen stehen.

Fazit

 „Grenzen Los erziehen“ von Lorenz und Brendt sollte für alle, die sich mit Jugendlichen in den Feldern der Jugendhilfe bewegen, ein Anstoß sein, über Internationales nicht nur für Schüler*innen, Sportbegeisterte im internationalen Rahmen nachzudenken. Zum Lesen kann ich das Buch aus fachlicher Sicht sehr empfehlen, denn es enthält über das gewählte Thema hinaus viele Aspekte Sozialer Arbeit mit Jugendlichen.

Rezension von
Prof. Dr. em. Lutz Finkeldey
Professor für „Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit - Jugendhilfe“, Verstehenssoziologe, Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit an der „Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst“ (HAWK) - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen, Standort Hildesheim
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Es gibt 22 Rezensionen von Lutz Finkeldey.

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ISSN 2190-9245