Malte Ebner von Eschenbach, Ortfried Schäffter (Hrsg.): Denken in wechselseitiger Beziehung
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 23.01.2024

Malte Ebner von Eschenbach, Ortfried Schäffter (Hrsg.): Denken in wechselseitiger Beziehung. Das Spectaculum relationaler Ansätze in der Erziehungswissenschaft. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2021. 357 Seiten. ISBN 978-3-95832-245-5. D: 39,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Viel ist in erziehungswissenschaftlichen Diskursen von Beziehungen und Wechselwirkungen die Rede. Es geht etwa um Komplementarität und Korrelation, um Differenz oder Relationalität. Schon Johann Friedrich Herbart forderte in seinem „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie“, eine „Methode der Beziehungen“ zu entwickeln. Wenn Relationen philosophisch und erkenntnistheoretisch bedeutsam sind, muss auch darüber diskutiert werden, was daraus für die pädagogische Arbeit folgt. Der vorliegende Band aus der Andragogik sammelt relationale Ansätze innerhalb der Erziehungswissenschaft, diskutiert diese erkenntnistheoretisch und fragen nach deren pädagogischer Bedeutung.
Herausgeber
Malte Ebner von Eschenbach ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Erwachsenenbildung/​Weiterbildung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ortfried Schäffter ist Professor emeritus für Theorie der Weiterbildung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Kontext
Der vorliegende Titel ist im Verlagsprogramm weiteren Bänden zugeordnet, die sich mit relationaler Sozialtheorie oder relationaler Bildungsforschung beschäftigen. Von einem der Herausgeber, Ebner von Eschenbach, liegt bei Velbrück Wissenschaft bereits ein Band mit dem Titel „Relational Reframe. Einsatz einer relationalen Perspektive auf Migration in der Erwachsenenbildungsforschung“ (Weilerswist 2019).
Der zur Besprechung anstehende Band wurde durch Mittel des Arbeitsbereichs Erwachsenenbildung/​Weiterbildung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unterstützt. Das Lektorat hat Laura Rosinger vorgenommen.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Hauptteile:
I. Einleitung
Die Einleitung aus der Feder der beiden Herausgeber stellt sowohl das wissenschaftliche Anliegen des Bandes als auch die Kerngedanken der einzelnen Beiträge vor.
II. Denken in wechselseitiger Beziehung
Teil II will in Form eines „Spectaculums“ verschiedene Ansätze relationaler Bildungsforschung vorstellen. Genannt werden pragmatistische (Heiko Löwenstein), netzwerk- (Iris Clemens), transformationstheoretische (Kerstin Meißner), konstruktivistische (Björn Kraus) oder zeittheoretische (Christoph von Wolzogen) sowie transdisziplinäre (Ortfried Schäffter) Konzepte. Ferner geht es um Fragen der Gegenwendigkeit (Malte Ebner von Eschenbach), Vermittlung (Carolin Alexander), Resonanz (Tobias Künkler), Ethik (Annedore Prengel), Korrelation (Norbert Meder) oder Dialektik (Christian Swertz) in der Weiter- und Medienbildung.
Den einzelnen Beiträgen ist jeweils eine kurze Hinführung vorgeschaltet. Im weiteren Verlauf der Besprechung sollen vier Beiträge näher vorgestellt und diskutiert werden.
III. Wechselseitig „In-Beziehung-Setzen“: Ein Spannungsfeld von Ansätzen und Positionierungen
Am Ende schlagen die beiden Herausgeber auf Basis der zu Gehör gebrachten Polyphonie relationaler Ansätze von Weiterbildungsforschung eine genealogisch orientierte Heuristik vor, die für die zukünftige Arbeit mit diesen weiter auszuarbeiten wäre.
Ein Autorenspiegel beschließt den Band.
Inhalt
Kerstin Meißner, die eine Juniorprofessorin für Interkulturelle Pädagogik an der Technischen Universität Chemnitz vertritt, verbindet in ihren Überlegungen Zugänge der Netzwerk-, System- und Kritischen Theorie miteinander. Ihr Beitrag dreht sich im Kern um das Selbst-Welt-Verhältnis. Unter Berufung auf das Paradigma des „New Materialism“ geht es der Autorin weniger um subjektbezogene Habitusveränderungen als vielmehr um die Veränderung von Interaktionen. Deutlich wird eine Abkehr von einer – traditionell vorherrschenden – subjektbezogenen Blickrichtung der Weiterbildungsforschung gefordert. Vom Subjekt zu sprechen, setze bereits Beziehungen und Verschränkungen voraus. Mit anderen Worten: Die Relation ist immer schon vorgängig; das Subjekt könne nicht einfach „für sich“, sondern nur im „Mit-Sein“ gedacht werden.
Das Transformationspotenzial pädagogischer Arbeit liegt für die Chemnitzer Pädagogin nicht primär beim Subjekt, etwa individuellen Krisenerfahrungen, sondern in der Veränderung, Aktualisierung, Reduktion oder Erweiterung von Netzwerken und Systemen, in die ein Subjekt eingewoben sei. Ein Weg beispielsweise könne sein, neue Narrative zu implementieren. Wie ein solcher Ansatz der Weiterbildungsforschung praktisch genutzt werden kann, verdeutlicht die Autorin am Beispiel rassismuskritischer Pädagogik, etwa über den Weg, Vorstellungen, Kategorien und Begriffe zu prägen, sodass schließlich aus einer Benennungsmacht eine Gestaltungsmacht wird, also eine anders geprägte und veränderte soziale Wirklichkeit.
Für Björn Kraus, Professor für Wissenschaft Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Freiburg, hat die Rezeption konstruktivistischer Theorien in der Bildungsarbeit eine entlastende Funktion für die dort tätigen Fachkräfte: Die Verantwortung verbleibt beim Subjekt. Die Kehrseite sieht der Autor allerdings in der Gefahr kognitiver Selbstreferentialtität. Das sich bildende Subjekt könnte so gedacht werden, als kreise es am Ende nur um sich selbst: eine falsche und verkürzende Sichtweise, wie Kraus meint. Sein Anliegen ist es, Weiterbildung konstruktivistisch zu denken, ohne aber die Prozesse zwischenmenschlicher Verständigung und Begründung dabei aus dem Blick zu verlieren.
Kognitive (Lern-) Prozesse seien umfassend unter Berücksichtigung ihrer relationalen Beziehungen zu denken, wobei nicht allein an soziale Beziehungen zu denken sei. Umfassend in den Blick zu nehmen seien das Subjekt, dessen Umwelt und die vielfältigen, auch materiellen oder intrasystemischen, Relationen. Der konstruktivistische Zugang mache dabei deutlich, dass Lebenswelten und Lebenslagen als relationale Konstruktionen zu denken seien. Pädagogisch sei mit dem Einzelnen darüber ins Gespräch zu kommen, wie dieser seine Lebenslage wahrnehme. Der Ansatz will sowohl einen einseitigen Primat des Sozialen als auch des Individuums vermeiden. Das wahrnehmende, handelnde und sich emanzipierende Subjekt werde ernstgenommen, aber in seinen Relationen, seiner Lebenswelt und Lebenslage angesprochen.
Die zunächst einmal soziologisch bestimmte Resonanztheorie hat in der Pädagogik breite Rezeption erfahren. Die Weltverhältnisse sollen entschleunigt werden. Resonanz erfüllt nicht allein eine deskriptive Funktion für die soziologische Erfassung von Relation, sondern zugleich eine normative: Resonanzverhältnisse werden als unverzichtbarer Bestandteil eines guten Lebens vorgestellt. Resonanz ermögliche Selbstwirksamkeitserfahrungen, beuge Entfremdungserfahrungen vor und wehre Instrumentalisierungsversuchen vor. Resonanz radikalisiere den Beziehungsgedanken und mache deutlich, dass Subjekt und Welt erst durch ihre gegenseitige Bezogenheit ihre jeweilige Form gewinnen könnten.
Tobias Künkler, Professor für Interdisziplinäre Grundlagen der Sozialen Arbeit an der CVJM-Hochschule Kassel, greift auf diese Grundannahmen der Resonanztheorie nach Hartmut Rosa zurück und erweitert diese um eine Unterscheidung zwischen Verwobenheit und Bezogenheit, die – so der Autor – die Resonanztheorie trennschärfer werden lasse. Der Einzelne sei einerseits in vielfältige Beziehungen verwoben und mit anderen verbunden, er bleibe aber auch allein und sei als ein Allein-Seiender auf andere bezogen.
Künkler konstatiert, dass es Rosa durchaus gelungen sei, relationale Theorien für Fragen des guten Lebens fruchtbar zu machen, womit er zugleich einen Nerv der Zeit treffe. Allerdings schieße er mit seiner Resonanztheorie über das Ziel hinaus, indem er alle anderen Kategorien wie Responsivität, Begegnung oder Intersubjektivität eingemeinde und Resonanz als neue Metakategorie setze. Unschärfen und Widersprüche seien die Folge. Künkler schlägt vor, die Resonanztheorie allein auf die Qualität menschlicher Weltbeziehungen und deren ethische Beurteilung zu begrenzen.
Annedore Prengel geht es um die die Bedeutung relationaler Theorien für die pädagogische Ethik: Während erstere danach fragten, wie Beziehungen erkannt werden könnten, gehe es letzterer um deren verantwortliche Gestaltung. Die Seniorprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt zeigt auf, in welcher Form relationale Beziehungen für das pädagogische Denken eine Rolle spielen, beispielsweise in Form der Generationenbeziehung, der Peerbeziehung oder der didaktisch vermittelten Beziehung zwischen Person und Sachstruktur.
Pädagogisch dürfe es nicht primär um direkte Einwirkung auf den Heranwachsenden gehen, sondern um die ethisch qualifizierte, bedürfnisgerechte und konstruktive Gestaltung der Beziehungen, die für das pädagogische Handeln und das Lernen relevant sind. Der entscheidende Maßstab ist für Prengel dabei die Ausgestaltung pädagogischer Kontexte unter dem ethischen Anspruch der Anerkennung. Dieser werde beispielsweise konkret in der Gestaltung inklusiver Umgebungen, in der professionellen Qualifizierung von Teams und Fachkräften oder in einer diskriminierungsfreien Leistungsbeurteilung. Die Autorin bündelt ihre Überlegungen in sieben Prinzipien einer relational begründeten Pädagogikethik; dies sind: Selbstsorge, Nicht-Schaden, Wohltun, entwicklungsangemessene Autonomie, advokatorische Verantwortung, Gerechtigkeit und fürsorgliche Gemeinschaft. Prengel wörtlich: „Die einzelnen Prinzipien sind aufeinander bezogen und setzen relationale Kreisläufe ethisch begründeten Handelns in Gang“ (S. 276).
In ihrer Zusammenschau am Ende des Bandes weisen die beiden Herausgeber darauf hin, dass einzelne Beiträge bei Vorstellung der relationalen Ansätze explizit auch deren Grenzen ansprechen: „Relation“ dürfe nicht überzogen werden. Pädagogisch wichtig bleibe die Auseinandersetzung mit Fragen der Relationalität, also die kritische Reflexion über Relation. Möglicherweise, so klingt der Band aus, kündige sich ein epistemischer Umbruch an: Relationale Ansätze machten in ihrer Widersprüchlichkeit und Unterschiedlichkeit auf die Grenzen eigener Erkenntnis aufmerksam. Die aporetische Situation, die damit entstehe, sei pädagogisch ernstzunehmen: nicht als Anlass, sich lähmen zu lassen, sondern als Herausforderung zu einer produktiven, proaktiven Auseinandersetzung, die neue Entwicklungsverläufe ermögliche.
Diskussion
Wenn die beiden Herausgeber davon sprechen, im Vordringen relationaler Ansätze sei so etwas wie eine Achsenzeit zu erkennen, gehen sie sehr weit. Die Frage, ob eine solche Perspektive plausibel sein könnte oder nicht, soll an dieser Stelle offenbleiben. Wenn dem aber so sein sollte, wäre pädagogische Grundlagenforschung notwendig. Und als solche ist der vorliegende Band zu verstehen. Es geht zunächst einmal um die Erarbeitung von Grundlagen für eine relational orientierte Erkenntnistheorie für die andragogische Forschung. Die Resonanztheorie, die auch im vorliegenden Band diskutiert wird, ist nur ein Beispiel, an dem sich zeigen lässt, wie verkürzend neue Paradigmen mitunter in der Bildungsforschung aufgegriffen werden. Am Ende ist alles und jedes Resonanz. Wo Zentralkategorien ohne hinreichende Grundlagenarbeit pädagogisch rezipiert werden, werden diese unscharf, banalisiert und am Ende für die pädagogische Reflexion unbrauchbar.
Es ist sympathisch, dass die Beiträge des vorliegenden Bandes auch kritische Anfragen an die Tragfähigkeit der vorgestellten Ansätze formulieren. Aus Perspektive einer Ethik wissenschaftlicher Theoriebildung sind immer auch kritische Anfragen an Moden oder Trends einer Disziplin zu stellen und sind die Kategorien des Faches mit den Methoden der eigenen Disziplin herzuleiten. Im Falle der Resonanztheorie gelingt dies überzeugend, im Falle der relationalen Transformation hingegen nicht. Allzu affirmativ werden hier transhumanistische Ansätze aufgegriffen, ohne zu fragen, welche Folgen damit für die Pädagogik und ihr Menschenbild verbunden sind. Den Ansprüchen Professionsethik wird ein solcher Zugang nicht gerecht, zumal im Falle einer Profession, bei der es entscheidend um humanpsychische Vorgänge und soziale Beziehungen geht.
Auch im Falle des vorgestellten Beispiels rassismuskritischer Pädagogik wird nicht gefragt, inwieweit sich die angezielte Gestaltung von Beziehungen und Kontextbedingungen möglicherweise in der Konsequenz übergriffig auf das Subjekt auswirkt. Der Beitrag hinterlässt den Eintrag, das reflektierende, wertende und möglicherweise widerständige Subjekt werde allzu schnell an den Rand geschoben. Doch kann Pädagogik, die der Freiheit und Personalität des Einzelnen entsprechen will, nicht erst beginnen, wenn das „ideale“ Subjekt geschaffen worden ist.
Für die Weiterbildungsforschung angemessener als transhumanistische Zugänge erscheinen die ethischen Leitlinien, die Prengel vorstellt. Allerdings wären die vielfach zunächst einmal pädagogikfremden Zugänge, die den genannten Leitlinien zugrundeliegen, stärker pädagogisch zu kontextualisieren. Anerkennungstheoretische Annahmen können auf pädagogische Beziehungen, etwa in der Weiterbildung, ausgelegt werden, deren pädagogische Qualität muss allerdings von der pädagogischen Disziplin nach den ihr eigenen Prinzipien bestimmt werden. Diese Kontextualisierungsleistung müsste von einer eigenständigen Professionsethik der Weiterbildung geleistet werden.
Fazit
„Denken in wechselseitiger Beziehung“ ist ein Werk andragogischer Grundlagenforschung, das für alle interessant ist, die sich mit der Bedeutung von Relationen, Relationalität und Beziehungen auseinandersetzen wollen. Dabei geht es um die Begründung pädagogischen Handelns, nicht dessen didaktische Ausgestaltung. Wie ein relationale Didaktik für die Weiterbildung aussehen müsste, ist eine Frage, die über das vorliegende Werk hinausführt.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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