Lee Ann Fujii: Showtime
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Frindte, 22.02.2023

Lee Ann Fujii: Showtime. Formen und Folgen demonstrativer Gewalt. Hamburger Edition (Hamburg) 2022. 336 Seiten. ISBN 978-3-86854-362-9. D: 35,00 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
In der Silvesternacht 2022/23 kam es bundesweit zu schweren Unruhen und Straftaten. In Berlin und anderen deutschen Städten, so in Bochum, Bonn, Essen, Frankfurt am Main, Hamburg oder Leipzig wurden nicht nur Silvesterknaller gezündet und brennende Gegenstände auf Straßen geworfen, sondern Passanten mit Böllern attackiert, offenbar auch gezielt Feuerwehrleute und Polizisten mit Schreckschusspistolen angegriffen und Rettungsfahrzeuge behindert. Retter wurden mit Pyrotechnik beschossen, Einsatzfahrzeuge geplündert und Rettungskräfte verletzt. In Berlin wurden mehr als 100 Menschen festgenommen. In manchen Medienberichten wurde geschrieben, es seien überwiegend junge Männer mit Migrationshintergrund (z.B. Welt.de, 2023). Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einem großen Problem mit „bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund“ (Tagesspiegel.de, 2023). Für den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz liegt das Problem, also die Gewalt in der Silvesternacht, bei den „kleinen Paschas“, den „Jugendlichen aus dem arabischen Raum, die nicht bereit sind, sich hier in Deutschland an die Regeln zu halten, die Spaß daran haben, diesen Staat herauszufordern“ (ZDF.de, 2023). Der vom Rezensenten geschätzte Sozialpsychologe Andreas Zick hingegen warnte davor, für die Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte Menschen mit Migrationshintergrund verantwortlich zu machen. Vielmehr müsse man sich generell mit dem Anstieg von vorurteilsbasierten Hass-Taten in Deutschland und der Gruppendynamik gewalttätigen Handelns beschäftigen (RND, 2023). Natürlich ist in diesem Falle die Analyse von Gruppendynamiken ebenso wichtig wie die Frage nach den Gelegenheitsstrukturen, also die diversen, situativen und politischen Bedingungen, die, wie in der Silvesternacht, Gewalthandlungen möglich machen. Angesichts der geringen Größe der Tätergruppen läuft auch eine Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen (Migrantinnen und Migranten) in die falsche, schädliche Richtung. Falsch wäre es aber auch, den soziodemographischen Hintergrund der Gewalttäter unerwähnt zu lassen. Man kann nicht einfach nur die Taten sehen, um die Täter zu beurteilen, wie die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Reem Alabali-Radovan meinte (Stern.de, 2023). Man muss auch die Täter, ihre Herkunft, soziale Einbettung und ihre Einstellungen zu Demokratie etc. analysieren. Das hat nichts mit einem „Generalverdacht“ oder Rassismus zu tun. Das gehört zum Handwerk sozialwissenschaftlicher Analytik. Aber, und dieses „aber“ ist an dieser Stelle mehr als angebracht: Die Analysen der Gruppendynamik, der Gelegenheitsstrukturen oder der Tat- und Täterbesonderheiten reichen nicht aus, um zu erklären, warum die Gewalttäter ihre Taten öffentlich und spektakulär (wie in den Berichterstattungen über die Silvesternacht zu sehen) zur Schau stellen. Bei demonstrativer Gewalt geht es immer auch darum, Einfluss auf potentielle Mittäter, auf ein zunächst unbeteiligtes Publikum, auf die Nachbarn oder diverse Bevölkerungsgruppen auszuüben. Und da kommt das vorliegende Buch ins Spiel. Lee Ann Fujii analysiert Formen und Folgen demonstrativer Gewalt und nimmt die Performativität aller Beteiligter in den Blick. Sicher, die Fälle von kollektiver Gewalt, die Lee Ann Fujii analysiert, sind in ihrer Brutalität nicht mit den Silvesterunruhen zu vergleichen. Die theoretischen und praktischen Konsequenzen, die sie ihren Analysen entnimmt, sind es schon.
Autorin und weitere Verfasser*innen
Die Autorin des Buches ist Lee Ann Fujii (1962 – 2018). Sie war bis zu ihrem frühen Tod Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Toronto, Kanada. Sie forschte zu kollektiver Gewalt, insbesondere mit dem Genozid in Ruanda und befasste sich mit methodologischen Fragen der Feldforschung. „Showtime“ ist ihr letztes Buch und wurde 2021 posthum veröffentlicht.
Thomas Hoebel, Laura Wolters und Stefan Malthaner, die ein hilfreiches Vorwort verfasst haben, arbeiten als Wissenschaftler*innen in der Forschungsgruppe „Makrogewalt“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Thomas Hoebel promovierte 2019 an der Universität Bielefeld zur Mikrosoziologie organisierter Gewalt, Laura Wolters schloss ihre Promotion zur Soziologie von Gruppenvergewaltigungen 2021 an der Universität Siegen ab und Stefan Malthaner promovierte 2010 an der Universität Augsburg zu militanten islamistischen Gruppen. Er ist Gastprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg.
Von Martha Finnemore stammt die Einführung in den Text von Lee Ann Fujii. Martha Finnemore ist Professorin für Politische Wissenschaft an der George-Washington-University in Washington.
Ein Nachwort liefert Elisabeth Jean Wood. Sie arbeitet als Professorin für Politikwissenschaft an der Yale Universität in New Haven.
Inhalt
In ihrem Buch fragt Lee Ann Fujii, warum manche Gewalttäter, ob bei Lynchmorden oder in Völkermorden, ihre schrecklichen Gewalttaten öffentlich und übertrieben zur Schau stellen.
Der von Lee Ann Fujii selbst verfasste Text ist in sieben Kapitel nebst einer Einleitung gegliedert. Vorgeschaltet sind das Vorwort von Thomas Hoebel, Laura Wolters und Stefan Malthaner sowie die Einführung von Martha Finnemore. In einem Nachwort fasst Elisabeth Jean Wood die wesentlichen Inhalte des Texts zusammen und macht auf mögliche Anschlussforschungen aufmerksam.
Im Vorwort („Demonstrative Gewalt, performative Forschung“) verweisen Thomas Hoebel, Laura Wolters und Stefan Malthaner, um die Aktualität des Buches zu illustrieren, u.a. auf Eskalationen von Gruppengewalt in der Kölner Innenstadt im Januar 2016. Während eines gemeinsamen „gewaltfreien Spaziergangs“ machten einige Hundert Menschen Jagd auf Personen, deren Hautfarbe den „Spaziergängern“ nicht passte. Auch die Stürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 oder die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 lassen sich mithilfe des methodischen und theoretischen Instrumentariums, dass Lee Ann Fujii in ihrem Buch ausbreitet, aus einem neuen Licht betrachten und erklären. „Showtime“ sei ein im positiven und produktiven Sinne unbequemes Buch. Das liege nicht nur daran, dass Lee Ann Fujii ihren Leserinnen und Leser in detaillierter Weise schildert, „[…] wie Menschen einander drangsalieren, quälen, töten und über den Tod hinaus herabwürdigen“ (S. 11). Lee Ann Fujii zeige auch sehr eindringlich, wie vermeintlich pazifizierte Gesellschaften bis heute in die gewaltsame Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse verstrickt sind. Sie verknüpfe mikro- und makroskopische Perspektiven miteinander, „[…] zwischen denen sonst für gewöhnlich argumentative und theoretische Lücken klaffen“ (S. 14).
Die Einführung von Martha Finnemore ist hilfreich, um den Arbeitsprozess von Lee Ann Fujii zu verstehen sowie die editorischen Mühen der Herausgeber*innen nachzuvollziehen.
In Einleitung zu ihrer Studie erläutert Lee Ann Fujii ihre Forschungsfelder, das Konzept ihrer Studie, die Forschungsfragen, die sie umtreiben; sie formuliert die theoretischen Stränge, mit denen sie die Inszenierung von Gewalt, das Kernkonzept ihrer Studie, verknüpft; und sie legt ihren methodischen Zugang sowie die Quellen ihrer Studie offen. Gesellschaftliche und politische Hintergründe ihrer Studie sind zum einen die nationalistischen Kriege, die mit dem Zerfall Jugoslawiens einhergingen, zum zweiten die Vernichtungsfeldzüge in Ruanda im Jahre 1994 und zum dritten die US-amerikanischen Südstaaten in den 1930er Jahren, in denen die Weißen ihre Vormachtstellung mit Gewalt zu verteidigen suchten. In all diesen Fällen wurde Gewalt zur Schau gestellt, kollektiv so inszeniert, „[…] dass die Menschen sie sehen, wahrnehmen und verinnerlichen“ (S. 22). Lee Ann Fujii greift auf den Inszenierungsbegriff (englisch: staging) aus der Welt des Theaters zurück.
Die Möglichkeiten zur Inszenierung, zur öffentlichen Aufführung von Gewalt sind vielfältig: Opfer werden aufgefordert, pornografische Szenen darzustellen, wie im Gefängnis von Abu Ghraib; Menschen werden vor laufender Kamera enthauptet; Souvenirs von einem Gewaltakt werden zur Schau gestellt. „Wenn Akteure Gewalt zur Schau stellen, erzeugen sie eine bestimmte »Atmosphäre«, die sämtliche Sinne der betrachteten Personen anspricht: Sehen, Hören, Tasten, Riechen“ (S. 25). Warum? Lee Ann Fujii antwortet: Indem Akteure Gewalt zur Schau stellen, wollen sie anderen sagen, wer sie sind (S. 28). In dem Prozess der Inszenierung von Gewalt übernehmen die Akteure Rollen und die Rollen finden die Akteure. Es gibt Haupt- und Nebenrollen, Statist*innen, Zuschauende. „In ihrer Gesamtheit geben diese Rollen der Aufführung Form, Inhalt und Bedeutung“ (S. 36).
Zur Begründung ihres theoretischen Ansatzes nutzt Lee Ann Fujii drei Episoden, zeitlich begrenzte Akte organisierter Gewalt, aus den o.g. drei gesellschaftlichen Kontexten: die Ermordung einer bekannten Familie im Verlaufe des Genozids in Ruanda, die Ermordung von muslimischen Männern durch serbische Soldaten im Juli 1992 und den Lynchmord an einem 22-jährigen schwarzen Landarbeiter am Eastern Shore in Maryland im Oktober 1933. Um diese Episoden ausführlich beschreiben und auf den theoretischen Ansatz beziehen zu können, greift Lee Ann Fujii auf Interviews, auf Gespräche mit Journalist*innen und Forschenden aus den jeweiligen Regionen zurück. Sie nutzt Zeitungsberichte, Niederschriften von Zeitzeugen, Tonbandaufnahmen, Berichte von Menschenrechtsorganisationen und umfangreiche Sekundärliteratur.
Kapitel 1: Bemühungen um Stabilität
In diesem Kapitel blickt Lee Ann Fujii quasi aus einer makroskopischen Perspektive auf die gesellschaftlichen Kontexte, in die Episoden organisierter Gewalt eingebunden sind. Vornehmlich geht es ihr um die Konstruktion der sozialen Kategorien, mit denen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen sich selbst, die vermeintlich anderen und die Hierarchien zwischen sich und den anderen definieren. Diese Kategorien sind nicht beständig; staatliche Institutionen versuchen einheitliche Kategorien herzustellen; diese bleiben aber variabel und mehrdeutig (S. 49 f.). Das zeigt sich besonders in Ruanda, dort, wo 1994 Angehörige der Hutu-Mehrheit mehr als 75 Prozent der Tutsi-Minderheit töteten. Bevor Ruanda durch die Deutschen und später die Belgier kolonialisiert wurde, unterschieden sich die Bezeichnungen Hutu und Tutsi von Region zu Region, waren also variabel. Erst die belgischen Kolonialherren führten eine „Rassentheorie“ ein, mit der diese Variabilität aufgehoben und eine starre Kategorisierung in Hutu und Tutsi festgeschrieben werden sollte. Auch nach der Unabhängigkeit im Jahre 1962 blieb diese starre Kategorisierung bestehen und wurde in den nachfolgenden Jahren durch verantwortliche Politiker aus machtpolitischen Interessen weiter festgeschrieben.
Auch in Bosnien waren die Grenzen zwischen den sozialen Kategorien der Bosnier, Kroaten und Serben, zwischen Muslim*innen und Christ*innen zunächst fluide. Das änderte sich im Verlaufe des nationalistischen Krieges. Durch die Propaganda, maßgeblich betrieben von Radovan Karadžić, 1992 bis 1996 Präsident der Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina, und von Franjo Tuđman, damals kroatischer Präsident, wurde ein Hass zwischen Kroaten, Muslimen und Serben konstruiert und angeheizt.
In den USA wurde die „Rassentrennung“ eingeführt, „[…] um die Gesellschaft entsprechend den von vielen Weißen verfochtenen Lehren der »Rassenwirtschaft« umzubauen“ (S. 67). Lee Ann Fujii schildert detailreich, wie vage und ambivalent die sozialen Kategorien in den drei Regionen in teils ähnlicher Weise zunächst waren, wie neue Grenzen zwischen den Kategorien konstruiert und von den Beteiligten erfahren und erlebt wurden. Sie zeigt aber auch, dass die Ursprünge „rassistischer“ oder „ethnischer“ Gewalt nicht zu erklären sind, wenn von der Annahme ausgegangen wird, „Rassen“ und „ethnische“ Gruppen seien naturgegebene Entitäten. Es handelt sich vielmehr um fiktionale und mehrdeutige soziale Konstruktionen. „Niemand weiß das besser als Nationalisten, die versuchen, eine Gesellschaft neu zu ordnen, indem sie die Trennlinien von »Ethnie« und »Hautfarbe« durch Gewaltanwendung neu ziehen“ (S. 90).
Kapitel 2: Generalprobe
Nicht die Gewalt gegen jene, die nicht zur eigenen sozialen Kategorie gezählt werden, ist der Beginn der öffentlichen Aufführung organisierter Gewalt. Am Anfang der Inszenierung steht erstens die Zerstörung des „[…] normalen Umgangs mit Nachbar:innen, Freund:innen, Arbeitskolleg:innen und Bekannten“ (S. 92). An die Stelle der alten Gewohnheiten, gemeinsam zu tratschen, Bars zu besuchen oder zu feiern usw., werden zweitens neue Gewohnheiten installiert und zur Aneignung bereitgestellt: z.B. Kontakt meiden, Eigentum der „anderen“ zerstören oder Gewalt gegen die früheren Bekannten und Freunde ausüben. Und drittens werden neue Rollen etabliert und angeeignet, Rollen, die Macht, Autorität und Zugehörigkeit versprechen. Diese drei Aspekte werden von Lee Ann Fujii ebenfalls – bezogen auf die drei Regionen (Bosnien, Ruanda, Eastern Shore) – sehr detailliert geschildert. Dabei spielen der Vormarsch der Nationalisten in Bosnien und die Machtübernahme in der bosnischen Krajina eine wichtige Rolle. Nichtserben wurden aus ihren Arbeitsplätzen gedrängt, sie wurden vertrieben, misshandelt und massenhaft ermordet. Am Beispiel der serbischen Gemeinde Selo illustriert Lee Ann Fujii, wie zwei Männer, ein Serbe und ein Muslim den Kriegshintergrund nutzten, um in der Öffentlichkeit muslimische (und nichtmuslimische) Nachbarn zu überfallen.
In Ruanda stand am Anfang eine wirtschaftliche und politische Krise, die nicht zuletzt durch die Ermordung führender Politiker (Melchior Ndadaye, ein Hutu, und der burundische Präsident Juvénal Habyarimana, ebenfalls ein Hutu) in eine Gewaltspirale überging. Der Bürgerkrieg eskalierte und gab einzelnen Männern die Möglichkeit, in ihren Gemeinden neue Rollen zu übernehmen und zu Anführern gewalttätiger Aufführungen zu werden.
Im US-amerikanischen Eastern Shore der 1930er Jahre waren die gesellschaftlichen Kontexte andere, aber auch dort lassen sich, wie Lee Ann Fujii zeigt, die Elemente der Inszenierung öffentlicher Gewalt nachweisen. Sie analysiert dafür zunächst den Lynchmord an dem jungen Schwarzen Matthew Williams im Dezember 1931 in Salisbury im US-Bundestaat Maryland. Er soll seinen Chef erschossen haben und wurde dabei selbst verletzt, so eine der Versionen, die man sich im Ort erzählte. Nachdem Matthew Williams in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, drang eine Gruppe weißer Männer dort ein und warfen ihn aus dem Fenster. Ein Mob schleppte ihn durch die Straßen, hängte ihn mehrmals mit einem Strick an einen Baum, bis er starb. Seine Leiche wurde durch den Ort geschleppt, mit Treibstoff angezündet, verbrannt und schließlich am Rande eines schwarzen Ortsteils an einem Baum aufgehangen. All das muss mehrere Stunden gedauert haben und geschah vor den Augen zahlreicher Bewohner, von denen viele sich lauthals am Geschehen beteiligten. Dieser Lynchmord war sozusagen das Training für ein schreckliches Stück auf offener Bühne, das im Oktober 1933 - wiederum als Lynchmord – seine Premiere, die Hauptattraktion, erleben sollte.
Kapitel 3: Die Hauptattraktion
Dieses Kapitel ist der „Hauptattraktion“ in den drei Episoden gewidmet. Es geht um die Frage, wie und warum sich Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund an der Zurschaustellung von Gewalt beteiligen (S. 132). Die Folie oder das Erklärungskonzept, das Lee Ann Fujii nutzt, um Antworten auf diese Frage zu finden, ist eine „Theorie der Rollenbesetzung“ (im Original: Theory of Casting), die sie bereits an frühere Stelle vorgestellt hat (Fujii, 2017): In der Zurschaustellung von Gewalt geht es nicht nur um die spektakuläre Gewaltperformance. Sondern an der Inszenierung sind die Akteure und Sympathisant*innen der Gewaltakte, die die Opfer, die Beobachter*innen ebenso beteiligt. Es gibt Hauptrollen, Nebenrollen, Statist*innen und Zuschauende. Die Rollenbesetzung ist ein fortlaufender, aber auch kontingenter Prozess, an dem nicht nur die Eifrigsten und Bereitwilligsten beteiligt sind, sondern auch unbeteiligte und unwillige Zuschauende hineingezogen werden (S. 135). Lee Ann Fujii beschreibt das, in teils schwer auszuhaltenden, dichten Darstellungen schrecklicher Geschehnisse. Nach einem Mord am Eastern Shore in Maryland wird im Oktober 1933 der 22-jähriger Schwarze George Armwood als vermeintlicher Täter von einem weißen Mob gefangen genommen, in aller Öffentlichkeit schrecklich malträtiert und gelyncht. Es gab scheinbar widerwillige Zuschauer*innen, Rädelsführer, Mitmacher*innen, die Armwood schlugen, ihm ein Ohr abschnitten, ihn durch die Straßen schleiften, ein Seil um seinen Hals legten, ihn an einem Baum aufhängten, seinen toten Körper mit Benzin übergossen und verbrannten und schließlich – gemeinsam mit dem Publikum in Freudentänzen ausbrachen. Im bosnischen Dorf Selo ermordete 1992 ein Trupp serbischen Soldaten über 100 muslimische Männer. Auch hier gab es unterschiedliche Rollenverteilungen, einen Anführer, der zum Star des Massakers wurde, Soldaten in scheinbaren Nebenrollen, die zum Teil ihre muslimischen Opfer kannten, Militärpolizisten, die nicht aus der Gegend kamen.
Die Ermordung von Kindern aus einer angesehenen Familie im ruandischen Ngali ist das dritte Ereignis, das Lee Ann Fujii analysiert, um die Inszenierung von Gewalt im öffentlichen Raum zu beschreiben.
Mit den spektakulären Gewaltaufführungen werden – in allen drei Fällen – neue politische und soziale Ordnungen sowie neue soziale Kategorien etabliert, mit denen allen Teilnehmenden sichtbar gemacht wird, was es bedeutet, als „Weiße“ Gerechtigkeit gegenüber den „Schwarzen“ herzustellen, ein „echter“ Serbe in Bosnien zu sein oder wer in Ruanda leben durfte oder sterben musste (S. 170).
Kapitel 4: Zwischenspiel
In diesem Kapitel untersucht Lee Ann Fujii unterdrückende Narrative (silencing narratives), Erzählungen also, die in Umlauf gebracht werden, um andere Darstellungen der Gewaltakte aus den öffentlichen Diskussionen auszuschließen. Dazu reiste sie in den 2000er Jahren erneut nach Bosnien, Ruanda und in den Eastern Shore. In Bosnien existierten auch nach dem Abkommen von Dayton im Jahre 1995 Narrative, mit denen Serben sich als Opfer stilisierten. Am Eastern Shore in Maryland scheint auch Jahrzehnte nach dem Lynchmord eine Erzählung zu existieren, in der nicht weiße Einheimische, sondern Fremde, Außenstehende verantwortlich für den Gewaltakt gewesen seien. Und in Ruanda werden konkurrierende Narrative über den Völkermord von der Regierung unterdrückt.
„In allen drei Kontexten beseitigen die unterdrückenden Narrative pauschal alle Schuld – und jegliche Verantwortung – für vergangene Gewaltakte“ (S. 201).
Kapitel 5: Nebenprogramm
Lee Ann Fujii erweiterte in diesem Kapitel ihre Perspektive, um, wie sie schreibt „extraletale Gewalt“ zu untersuchen. Darunter versteht sie direkt gegen eine Person gerichtete körperliche Aggressionen, die gegen die gemeinsamen Normen und Überzeugungen von der angemessenen Behandlung sowohl lebender als auch toter Menschen verstoßen (S. 202). In Bosnien untersucht sie verschiedene Formen extraletaler Gewalt im berüchtigten Internierungslager Omarska. Sie stützt sich dabei u.a. auf Zeugenaussagen in den nachfolgenden Kriegsverbrecherprozessen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Im besagten Lager mussten nichtserbische Gefangene nicht nur serbische Lieder singen, sie wurden auch gezwungen, sich wechselseitig in schrecklicher Weise zu foltern. In Ruanda untersucht Lee Ann Fujii extraletale Gewalttaten, die regionale Beamte und glühende Anhänger des Genozids verübten.
Extraletale Gewalt ist keine Folge individueller Entscheidungen abnormer Personen oder chaotischer Entwicklungen. Vielmehr ist sie das Ergebnis der Zusammenarbeit aller Akteure, die sich bereitwillig an den Gewaltakten beteiligten. Die Täter erzeugen in dieser Dynamik eine Atmosphäre von Vergnügen, Frivolität und sportlichen Wettkämpfen, eine Atmosphäre, die auch der zuschauenden Menge gefiel. Und schließlich folgten die Gewaltszenen einer ästhetischen Logik, in dem die Täter ihre Gewalthandlungen sorgfältig in Szene setzten (S. 232 f.).
Kapitel 6: Zugabe
Mit dem Tod der Opfer ist die Inszenierung der Gewalt, ob in Bosnien, in Ruanda oder am Eastern Shore nicht zu Ende. Mit der Beseitigung der Leichen oder ihrer Zurschaustellung geht die Aufführung weiter. In Ruanda wurden Tote ausgegraben, zur Schau gestellt, erneut begraben, um sie neuen sozialen Kategorien zuzuordnen. Dabei wurden durch die RPF (Ruandische Patriotische Front) auch tote Vollstrecker des Genozids zu „Tutsi-Genozidopfern“ gemacht. Auch am Eastern Shore gab es Zugaben. Schaulustige kamen in den Ort, wollten Armwoods Leiche sehen, die Geschichten hören oder irgendwelche Artefakte erhaschen. „In beiden Fällen haben die Leichen keinerlei Bedeutung als sterbliche Überreste der Menschen, die sie einst waren“. Stattdessen dienen sie als schockierende Requisiten für die Narrative, die diese Akteure erzählen möchten; als solche repräsentieren sie ganze Kategorien von Menschen, nämlich »schwarze Bestien« am Eastern Shore und »Tutsi-Opfer des Genozids« in Ruanda (S. 276).
Kapitel 7: Fiktionen
Ist die Zurschaustellung von Gewalt tatsächlich ein wirksames Mittel, um eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, und deren Hierarchien neu zu ordnen? Diese Frage stellt Lee Ann Fujii in den Mittelpunkt des letzten Kapitels. Die gewalttätigen Projekte in Bosnien, Ruanda oder am Eastern Shore haben zwar für eine gewisse Zeit die Grenzen zwischen den beteiligten Gruppierungen stabilisiert und neue soziale Kategorien etabliert. Trotzdem verstießen Menschen auch in den gefährlichen Situationen gegen diese Grenzen und wehrten sich gegen die neuen Vorschriften und Kategorien. Für Lee Ann Fujii sind das Hinweise für die Fragilität von „Rasse“ oder „Ethnie“. Und so lauten die optimistischen Schlusssätze ihres Buches: „Doch selbst während des umfassendsten Terrors können Gewalt und ihre Zurschaustellung nicht alle Menschen jederzeit auf der Seite derer halten, welche Gewalt anwenden […]. Das Social Engineering mittels Gewalt wird nie Erfolg haben, weil sich die persönlichen Impulse der Menschen weiterhin gegen politische Ideologien und Vorgaben durchsetzen können“ (S. 307).
Nachwort
Elisabeth Jean Wood schreibt in ihrem Nachwort über das Buch von Lee Ann Fujii u.a., ihre Studie ordne sich in die Literatur über die „Black Box“ von Organisationen ein, „[…] die Gewalt praktizieren, darunter Regierungsarmeen, Rebellenorganisationen, örtliche Milizen, kriminelle Banden und Bürgerwehren“ (S. 313). Gleichzeitig gehe die Studie über die bereits vorliegenden Arbeiten zum Thema hinaus, weil sie sich auf die Dynamik der Zurschaustellung von Gewalt konzentriere. Und doch bleiben, nach Elisabeth Jean Wood, einige Fragen offen, so zum Beispiel: Inwieweit „verwandelt“ die Inszenierung von Gewalt die Beteiligten und Zuschauenden dauerhaft? Hat die Inszenierung von realer Gewalt andere Wirkungen als die Zurschaustellung von Gewalt in den Medien? Oder: Inwieweit ist die Theorie der Gewaltinszenierung geeignet, das „Rätsel“ der extraletalen Gewalt zu lösen? Da sind Fragen, die andere Rezensenten ebenfalls beschäftigen (vgl. zum Beispiel: Coenen, 2022).
Diskussion
Der vom Rezensenten geschätzte Paul K. Feyerabend hat bereits vor seinem Werk „Wider den Methodenzwang“ (Feyerabend, 1983; englisches Original: 1975) auf die wichtige Rolle alternativer Theorien in den Wissenschaften aufmerksam gemacht. Sie seien der einzig zuverlässige Weg, um herkömmliche Theorien widerlegen zu können; zumindest können die alternativen Theorien die Sicht auf die Problemräume erweitern (z.B. Feyerabend, 1963). Der Rezensent hat ebenfalls eine Vorliebe für alternative Theorien im Allgemeinen und für den Begriff der Inszenierung im Besonderen (Frindte & Hausecker, 2010, S. 33 ff.). Inszenierung ist einer der Kernbegriffe, mit denen Lee Ann Fujii arbeitet. Das ist zu betonen und bedarf einer kurzen Erklärung: Der Begriff der Inszenierung ist zumindest im Alltagssprachgebrauchzumeist mit negativen Konnotationen besetzt. Als Synonyme werden Trug, Schein oder Simulation angeführt, die nach normativer Tradition die Gegenbegriffe zu Sein, Wahrheit und Authentizität darstellen. In populärwissenschaftlichen Äußerungen, journalistischen Texten oder auch politischen Auseinandersetzungen erscheint der Inszenierungsbegriff eher als Mittel, um latente Diskreditierungen zu transportieren. Der Inszenierungsbegriff aus der Theaterwelt bedeutet indes mehr und etwas Anderes: In-Szene-setzen (Fischer-Lichte, 1998), etwas in besonderer Weise absichtsvoll zum Erscheinen bringen, damit es seine Wirkung beim Publikum entfalten kann (vgl. auch: Schicha & Ontrup, 1999, S. 80).
Und auf dieses absichtsvolle In-Szene-setzen, um Wirkungen bei allen Beteiligten zu erzielen, richtet Lee Ann Fujii ihren Fokus. Damit präsentiert sie einen neuen, eben alternativen Rahmen, um organisierte Gruppengewalt zu erklären. Man kann über den Erklärungswert dieses alternativen Rahmens streiten oder ob es nicht auch andere theoretische Frames gibt, mit denen die schrecklichen Ereignisse, die Lee Ann Fujii für ihre Studie ausgewählt hat, erklärt werden können. Streiten lässt sich auch darüber, inwieweit die schrecklichen Ereignisse überhaupt vergleichbar, wie verlässlich ihre Forschungsmethoden und die Feldzugänge sind.
Eine letzte Anmerkung: Der Rezensent musste sich in seiner Besprechung beschränken, Manches nur andeuten, Vieles weglassen, empfiehlt aber uneingeschränkt die Lektüre des Buches. Eine kritische Anmerkung kann er allerdings nicht verschweigen: Aufgeklärte Menschen wissen, dass das N-Wort ein rassistisches Schimpfwort ist. Wenn dieses Wort von Rassist*innen benutzt wird und sie damit wörtlich zitiert werden (z.B. S. 79, 127), dann sollte das Wort auch ausgeschrieben werden. Sie reden nicht von „N*“ und verstecken sich auch nicht hinter dem Kürzel, sondern sprechen aus, wen und was sie meinen. Nur wenn man die Rassist*innen beim Worte nimmt, können sie auch entlarvt werden.
Fazit
Lee Ann Fujii hat ein engagiertes, detailreiches und an vielen Stellen, wegen eben der detaillierten Schilderungen von öffentlicher Zurschaustellung von Gewalt, auch erschütterndes Buch geschrieben. Es bleibt zukünftiger Forschung überlassen zu prüfen, wie tragfähig der Ansatz ist, wie hilfreich die nicht sehr elaborierte Theorie der Rollenbesetzung ist, ob auch virtuelle Gewalt mit dem Inszenierungskonzept beschreibbar ist usw.
Literatur
Coenen, E. (2022). Vorhang auf. Rezension zu „Show Time. The Logic and Power of Violent Display“ von Lee Ann Fujii. https://www.soziopolis.de/vorhang-auf.html; aufgerufen: 29. Januar 2023.
Fischer-Lichte, E. (1998). Inszenierung und Theatralität. In H. Willems & M. Jurga (Hrsg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Feyerabend, P. K. (1963). How to be a good empiricist: a plea for tolerance in matters epistemological. In B. Baumrin (Hsrg.), Philosophy of Science: The Delaware Seminar Vol. II. London: Wiley & Sons.
Feyerabend, P. (1983; Original: 1975). Wider den Methodenzwang. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch.
Frindte, W. & Haußecker, N. (Hrsg.) (2010). Inszenierter Terrorismus. Wiesbaden: VS Verlag.
Fujii, L. A. (2017). “Talk of the Town”. Pathways to Participation in Violent Display. Journal of Peace Research, 54, 5, S. 661–673.
RND (2023). https://www.rnd.de/politik/randale-zu-silvester-sozialpsychologe-will-schuld-nicht-migranten-zuschieben-LT4Y2ZVOG5FXTFHRUBXXHVF5LM.html; aufgerufen: 29. Januar 2023.
Schicha, C., & Ontrup, R. (1999). Medieninszenierung im Wandel: Interdisziplinäre Zugänge. Münster u.a.: LIT-Verlag.
Stern.de (2023). https://www.stern.de/news/integrationsbeauftragte-warnt-nach-silvestergewalt-vor-verurteilung-von-migranten-33064656.html; aufgerufen: 29. Januar 2023.
Tagesspiegel.de (2023). https://www.tagesspiegel.de/politik/faeser-uber-die-silvester-randalen-wir-haben-ein-grosses-problem-mit-bestimmten-jungen-mannern-mit-migrationshintergrund-9128644.html; aufgerufen: 29. Januar 2023.
Welt.de (2023). https://www.welt.de/politik/deutschland/video242997303/Silvester-Angriffe-Harte-Strafen-gefordert-Viele-Taeter-mit-Migrationshintergrund.html; aufgerufen: 29. Januar 2023.
ZDF.de (2023). https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lanz-merz-silvesternacht-integration-100.html; aufgerufen: 29. Januar 2023.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Frindte
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Kommunikationswissenschaft - Abteilung Kommunikationspsychologie
Website
Mailformular
Es gibt 77 Rezensionen von Wolfgang Frindte.