Riccardo Bonfranchi, Renate Dünki et al.: Integration - Separation - Kooperation
Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 27.04.2023

Riccardo Bonfranchi, Renate Dünki, Eliane Perret: Integration - Separation - Kooperation. Ein heilpädagogischer Blick auf Bildungschancen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.
wbv
(Bielefeld) 2022.
104 Seiten.
ISBN 978-3-7639-7159-6.
24,90 EUR.
Reihe: Lehren und Lernen mit behinderten Menschen.
Thema
Der sozialpolitische Anspruch von Inklusion in Bildungseinrichtungen ist in der Praxis mit vielen Problemen verbunden. Diese sind nicht allein materieller Art, zum Beispiel die Schaffung notwendiger Infrastrukturen. Es erfordert auch theoretisches Wissen, praktisches Können und eine professionelle Haltung von Fachkräften, die bestenfalls in einem multiprofessionellen Team zusammenwirken. Wie dies gelingen kann, wird in zahlreichen Publikationen in aller Widersprüchlichkeit diskutiert. In der vorliegenden Abhandlung schauen die Autor:innen mit heilpädagogisch praxisorientiertem Fachblick auf das Pro und Kontra der Diskussionen über Inklusion respektive Separation in Regelschulen respektive Sonderschulen.
Autor:innen
Dr. Ricardo Bonfranchi ist Sonderschullehrer, Diplom-Pädagoge und hat einen Master-Abschluss in Philosophie und Angewandter Ethik. Er ist als Erwachsenenbildner und Supervisor tätig.
Renate Dünki hat als Grundschullehrerin und später als Sonderschullehrerin u.a. mit Kindern mit Entwicklungs- und Sprachverzögerungen gearbeitet.
Dr.in Eliane Perret ist Heilpädagogin sowie Psychologin und hat u.a. eine Sonderpädagogische Tagesschule für Kinder und Jugendliche mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten geleitet.
Von den Autor:innen liegen bereits relevante Publikationen zum Themenfeld vor. Hier nun untersuchen sie, welche Bildung jedem Kind in seiner Individualität entsprechen kann und ihm zusteht. Auf der Basis zahlreicher Fallbeispiele werden kreative Formen der Kooperation vorgestellt und auf ihre Sinnhaftigkeit in Bezug auf große Ziele, wie Autonomie, erörtert.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist nach einer Einleitung in zehn Kapitel unterteilt, in denen folgende Grundgedanken formuliert sind.
Kurzer Blick in die Geschichte:Der historische Blick verdeutlicht hier die Entstehung von Heilpädagogik als Hilfe des Einzelnen im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Die Anfänge des Helfens waren vom Integrationsgedanken geprägt, nicht wie es mitunter in der Fachliteratur dargestellt wird, vom Separationsgedanken.
Polarisierung von Sonderschulung und Integration/​Inklusion: Die Praxis der heilpädagogischen Arbeit ist anspruchsvoll und hochdifferenziert; sie kann nur geleistet werden, wenn und weil eine gemeinsam gepflegte Werthaltung gegenüber den Menschen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen die Grundlage bildet. Die gesetzlichen Grundlagen (UNESCO, OECD, UNO) haben von außen einen Druck auf die Schulsysteme ausgeübt. In den deutschsprachigen Ländern hat man aus diesen Konventionen abgeleitet, dass jedes Kind, unabhängig von seiner Behinderung, nach Möglichkeit integriert zu unterrichten sei. Integration sei dadurch zum „anerkannten, weitgehend nicht hinterfragten Modell“ geworden (22 f.). In der Praxis ging man jedoch auch andere Wege. Diese werden in dem Kapitel beschrieben.
Sonderschulung – Praxis und Theorie: Anhand von zwei verschiedenen Praxisbeispielen (Lesegruppe, Erlernen der Uhrzeit) zeigen die Autor:innen, welche Faktoren grundsätzlich wichtig sind, damit Voraussetzungen für einen gelingenden Förderprozess gegeben sind. Es folgen drei weitere Fallbeispiele, die Anforderungen aufzeigen, die ein Förderunterricht erfüllen muss (z.B. handlungsorientiertes Lernen).
Gleichberechtigte Teilhabe – Was heißt das in der Praxis? Im Blick steht hier die Beantwortung der Fragen: „Welche Bildung ist für welches Kind, welchen Jugendlichen die angemessene? Und in welchen Schulstrukturen wird diese Bildung ermöglicht?“.
Gemeinsam mit den Eltern die Chance nutzen: Die Überschrift des Kapitels ist für die Autor:innen eine grundlegende Arbeitsprämisse, denn in der Zusammenarbeit ergeben sich auf beiden Seiten realistische Ziele und Optimismus sowie Kraft, diese gemeinsam zu erreichen.
Ethische Gesichtspunkte sind für die heilpädagogische Arbeit ein Muss: Eine angemessene Haltung liefert den Handlungsrahmen für komplexe Entscheidungen im Berufsalltag, so in Bezug auf Autonomie, Gerechtigkeit oder Handlungsalternativen. Diese bedarf einer regelmäßigen Reflexion aller beteiligten Fachkräfte.
Auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben: Das primäre Ziel von Autonomie, also den Jugendlichen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, verlangt klare Antworten auf solche Fragen, wie „Was bedeutet das nun für den einzelnen Menschen mit seiner je individuellen Einschränkung?“ oder „In welchem sozialen Umfeld wird das möglich sein?“. An weiteren Fallbeispielen wird hier gezeigt, wie Adressat:innnen und wie Fachkräfte diese Selbstbestimmung verstehen.
Kooperation statt Inklusion: Die Zusammenführung von Kindern durch Teilintegration bzw. Kooperation wird von den Autor:innen anhand von zwei Praxisbeispielen (Projektwoche Zirkus, Theateraufführung) aufgezeigt und diskutiert.
Kinder mit Verhaltens- oder Lernproblemen besser verstehen: Aus dem Blickwinkel von Kindern, die als Störenfriede gelten, werden zwei Fälle skizziert. Als Lösungsvorschlag bieten die Autor:innen sodann die Kooperation von zwei Schulen unter einem Dach an, einer Regelschule und einer Sonderschule.
Zusammenfassung oder was zu sagen bleibt: Als Fazit schlussfolgern die Autor:innen grundlegende Prinzipien heilpädagogischer Arbeit, z.B. „Vertrauensvolle Beziehung, Fachwissen und spezifische Methodik“ oder „Pflästerli-Pädagogik statt Nachhaltigkeit“.
Diskussion
Die Literaturlage zum Themenfeld Inklusion ist inzwischen immens angewachsen und kategorisch schwer zuzuordnen. In Hinsicht auf Bildungsinstitutionen gehen die Positionierungen von Autor:innen zudem weit auseinander. Während auf der einen Seite die bislang entwickelten differenzierten Förderangebote (Separation) nach wie vor gelobt werden, stellen andere Meinungen diese in Hinsicht auf Inklusion komplett in Frage.
Daneben gibt es Versuche, diese beiden Positionen zu relativieren. Der Band von Bonfranchi, Dünki und Perret ist ein solcher Versuch. Das Buch gibt einen Einstieg in die oben genannten Diskussionen aus der Geschichte und den theoretischen Kontexten heraus. Anhand zahlreicher Praxisbeispiele diskutieren die Autor:innen dann gelungene und weniger erfolgreiche Wege, individuelle Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu erfassen und zu fördern. Hierbei zeigen sie die Breite der anspruchsvollen heilpädagogischen Arbeit auf und zeichnen ein realistisches Bild der alltäglichen Herausforderungen im Kontext von Wissen, Können und Haltung. Ihre klare Aussage ist hierbei: Das Engagement von Fachkräften ist im Alltag ebenso gefragt wie kreative Zugangsweisen. Denn oft sind bei den Adressat:innen versteckte Ressourcen vorhanden, die entdeckt werden müssen (vgl. 49).
Für den institutionellen Diskurs erörtern die Autor:innen ihren eigenen Ansatz, der bereits im Titel steckt: Kooperation (bzw. Teilintegration). Gemeint ist die Zusammenführung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne dauerhafte Behinderung, z.B. durch Projektarbeit: „Mögliche Projekte ergeben sich aus der jeweiligen Lebenswelt der Kinder. Das bietet die Gewähr, dass sie auf die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kinder zugeschnitten sind“ (82).
Anhand ihrer Praxiserfahrungen und der im Buch präsentierten Beispiele relativieren die Autor:innen theoretische Positionierungen anderer Fachliteratur und konkretisieren ihren eigenen Ansatz. Damit geben sie Interessierten (Studierenden, Fachkräften) einen lesenswerten Einstieg in den Inklusionsdiskurs, der Stimulus für weitere methodische Diskussionen – z.B. in der sozial-, sonder- und heilpädagogischen Ausbildung bieten kann.
Fazit
Das Buch ist sowohl für Studierende der Heilpädagogik als auch der Sozialen Arbeit im weitesten Sinne empfehlenswert. Hier finden sie Impulse für methodische und ethische Diskussionen über die Machbarkeit von Inklusion bzw. Kooperation.
Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
Mailformular
Es gibt 44 Rezensionen von René Börrnert.