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Fiona Kalkstein: "Geld lässt ruhiger schlafen, das hab´ ich erlebt"

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.08.2023

Cover Fiona Kalkstein: "Geld lässt ruhiger schlafen, das hab´ ich erlebt" ISBN 978-3-948731-06-9

Fiona Kalkstein: "Geld lässt ruhiger schlafen, das hab´ ich erlebt". Vereinbarkeit zwischen Mutterschaft und Beruf aus klassensensibler Perspektive. MARTA PRESS (Hamburg) 2021. 468 Seiten. ISBN 978-3-948731-06-9. D: 36,00 EUR, A: 38,00 EUR, CH: 40,00 sFr.

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Pecuia non olet?

In Sprichwörtern kommt zum Ausdruck, welche Macht Geld hat und welcher Ohnmacht diejenigen ausgesetzt sind, die keins oder zu wenig haben: „Geld regiert die Welt!“ – „Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles Nichts!“. Es sind kapitalistische, egozentristische Argumentationen und Einstellungen, und es sind kapitalismuskritische, anthropologische, solidarische, nachhaltige Anmahnungen, nicht das Haben über das Sein (Erich Fromm) zu stellen, die den kontroversen Diskurs bestimmen. Und es sind nicht zuletzt Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit im menschenwürdigen Verhältnis der Menschen zueinander und zur Welt (Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020).

Entstehungshintergrund und Autorin

Es sind emanzipatorische, existentielle Forderungen nach dem allgemeingültigen, nicht relativierbaren Menschenrecht, dass „alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind“, dass „jedes Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit“ hat, und dass „alle Menschen ohne Diskriminierung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ haben (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948). Die gesellschaftspolitischen, ideologischen Einteilungen der Menschen in Klassen und Schichten widersprechen zutiefst der Conditio Humana, vor allem wenn es um das klassensensible Verhältnis von Männern und Frauen, hier insbesondere um Fragen nach den strukturellen Ungleichheiten von Müttern mit Kindern im gesellschaftlichen Prozess geht. Die Diplom-Psychologin Fiona Kalkstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Else-Frenkel-Brunswik-Institut an der Universität Leipzig. Sie legt ihre von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Dissertation vor. Mit der Frage, ob Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Familie und Beruf plädiert sie für ein modernisiertes Leitbild von Familie: „Für viele Frauen stellt Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Problem dar, wenn es um dauerhafte, stabile finanzielle Eigenständigkeit geht“. In praxis- und alltagsbezogenen Analysen richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen aus den lohnabhängigen Klassen. Sie betrachtet und dokumentiert die Lebens- und Arbeitsbedingungen von sechs ausgewählten Fallbeispielen von Frauen und Müttern unterschiedlicher Generationen. Sie bezieht sich dabei auf die statistisch und wirklich nachgewiesenen Verhältnisse von Müttern in Deutschland, die oft in Teilzeit erwerbstätig sind und in vielen Fällen „der doppelten Belastung von Erwerbs- und Familienarbeit ausgesetzt“ sind.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung, in der die Autorin auf die Fakten der sozialen, gesellschaftlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit verweist, wird die Studie in die weiteren, folgenden Kapitel gegliedert:

  • „Kritische Psychologie: Perspektive und theoretischer Rahmen der Untersuchung“
  • „Klasse und Geschlecht als Vermittlungsebenen zwischen Individuum und Gesellschaft“
  • „Gegenstandsbestimmung und Forschungslage: (Un-)Vereinbarkeit – Wenn Klassenlage und Geschlecht ineinandergreifen“
  • „Methodologische und methodische Vorüberlegungen“
  • „Darstellung der Forschungspraxis“
  • „Vorstellung der Teilnehmerinnen“
  • „Subjektive Möglichkeitsräume: Praxen der (Un-)Vereinbarkeit. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“
  • „Strukturelle (Un-)Vereinbarkeit als abhängigkeitsfördernder Möglichkeitsraum. Umgangsweisen mit Widersprüchen zwischen Mutterschaft und Erwerbsleben“
  • „Wege in die Selbstbestimmung“.

Es ist das Konzept der „Kritischen Psychologie“, mit dem die Existenz und das individuelle und kollektive Handeln von Menschen thematisiert wird (Morus Markard, 2009), und zwar in kapitalistischen Gesellschaften, aus feministischen Positionen und mit intersektionalen, transkulturellen Zugängen. In der Kapitalismus- und Ökonomismus-Kritik wird der Begriff „Klasse“ als gesellschaftspolitischer, -soziologischer und -psychologischer Marker benutzt, um Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zu charakterisieren. Dabei drängt sich die geschlechtliche Ungleichheitssituation geradezu auf: Identität und Identifikation mit Geschlecht stellen sich als zwei, analyserelevante Perspektiven dar: „Einerseits als Frage der Identifikation mit geschlechtsspezifischen Normen und daraus subjektiv abgeleiteten Möglichkeiten und Hindernissen. Andererseits … als Form von Bewusstsein“. Mit dem Begriff „proletarische Frau“ fokussiert die Autorin ihre Aufmerksamkeit und Forschung, nämlich die Auseinandersetzung mit der „Hartnäckigkeit geschlechtersegregierter Berufsfelder, die geringere Entlohnung typischer Frauenberufe sowie die gesellschaftliche Zuweisung von Fürsorge- und Hausarbeit an Frauen“. Die gesellschaftliche Forderung und Erwartung nach „guter Mutterschaft“ (vgl. dazu auch: Daniel N. Stern/Nadia Bruschweiler-Stern, Geburt einer Mutter, 2014) greift ein in Fragen, was, wer und wie wir sind und geworden sind, wie sich die lokal-und globalgesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt haben, und wie es gelingen kann, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen.

Die analysierten Fallbeispiele, die die Autorin mit der „Grounded-Theorie-Methodologie“ vornimmt, erheben den Anspruch, als individuelle Biographien gleichzeitig Marker für eine vergleichende, gesellschaftspolitische Betrachtung zu sein. Da ist die alleinstehende 66jährige Rentnerin, die zwei erwachsene Söhne hat, beruflich als Speditionskauffrau arbeitete und in ihrem bisherigen Leben zahlreiche andere (prekäre) Tätigkeiten ausübte; die ebenfalls alleinstehende, 66jährige, ehemalige Erzieherin, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und Oma. Sie treibt Sport und übt weiterhin mehrere ehrenamtliche Funktionen aus; die 58jährige Hauswirtschaftsassistentin mit Migrationshintergrund, Mutter einer erwachsenen Tochter. Sie arbeitet in einer Großküche eines Krankenhauses und engagiert sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe; die 31jährige Sozialassistentin und alleinerziehende Mutter von zwei 4- und 8jährigen Kindern, „früher wäre sie gerne Anwältin geworden…, aber der Zug ist abgefahren“; die 28jährige, zeitweise instabile, drogenabhängige Hotelfachfrau hat nach mehreren Partnerschaftsenttäuschungen in ihrem bisherigen Leben „den Mann fürs Leben“ gefunden. Das Paar will heiraten und Kinder bekommen; schließlich die 32jährige Gesundheits- und Krankenpflegerin, die mit einem Partner zusammenlebt und Kinder haben will. In ihrem Beruf und privat „fühlt sie sich körperlich und auch geistig und seelisch gut gefordert, was mir richtig gut tut“. Die in den Interviews ermittelten Lebensläufe und -bedingungen bieten der Autorin die Möglichkeit, „subjektive Möglichkeitsräume“ zu erkunden, die Diskrepanz zwischen Wunsch, Vorhaben, Absicht und Wirklichkeit und Realisierungschancen zu diskutieren und exemplarisch für die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen zu verdeutlichen. Es sind die existentiellen und beruflichen Anforderungen und Widersprüche, die „Selbstverwirklichung“ ermöglichen, wie auch verhindern können.

Diskussion

Die in Klammer gesetzte (Un-)Vereinbarkeits-Analyse von Mutterschaft und beruflicher Erfüllung lökt erst einmal gegen den Strich von traditionalistischen Vorstellungen von Klassen-, Schichten- und Rollenerwartungen im Geschlechterverhältnis. Die bekannten Einstellungen, wie „Was nicht sein darf, das nicht sein kann“ (Christian Morgenstern), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ (Heinz von Foerster) und „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno), verdeutlichen, dass Unvereinbarkeiten zu Vereinbarkeiten werden können, wenn es gelingt, individuell und kollektiv, lokal und global einen Paradigmenwechsel herbeizuführen: „Dem Versuch, sich aus Abhängigkeiten zu lösen sowie über Bedingungen des eigenen Lebens zu verfügen… muss die Erkenntnis vorausgehen, dass Gesellschaft veränderbar ist“. Die Frage nach einer „guten Mutterschaft“ ist zwangsläufig und logisch verbunden mit der nach einer „guten Vaterschaft“ und „Partnerschaft“. Zwar ist nicht mehr haltbar und falsch, „dass ein Kind die Mutter und nur die Mutter benötigt, um gesund aufzuwachsen, … doch solange sich Normen und Bewertungsmaßstäbe an Mutterschaft und Vaterschaft nicht angleichen, und die Verantwortung für die Entwicklung und den Zustand des Kindes hauptsächlich bei der Mutter liegt, bleibt der soziale Druck auf Frauen hoch, Erwerbstätigkeit und finanzielle Unabhängigkeit den Anforderungen an Mutterschaft unterzuordnen“.

Fazit

Es sind die verschiedenen Blickrichtungen und Perspektiven, die auf die klassensensible Situation von Vereinbarkeit zwischen Mutterschaft und Beruf gerichtet werden: Psychoanalytisch, feministisch, materialistisch. Es sind die intellektuellen Anforderungen und notwendigen, politischen Aufmerksamkeiten, Selbst- und Mitbestimmungskompetenzen, und nicht zuletzt die Entdeckung der „sozialen Relevanz“ (vgl. dazu auch: Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022,), die darauf verweisen, dass „das Problem der Mutterschaft in unserer Gesellschaft nach wie vor weitgehend ungelöst ist“. Dass die aktuelle, gesellschaftliche Klassenstruktur soziale Ungleichheit produziert und festigt, weist Fiona Kalkstein in ihrer Dissertation aus. Sie zeigt auf, dass dieser Zustand nicht naturgegeben, sondern lebensweltlich veränderbar ist.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1667 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 08.08.2023 zu: Fiona Kalkstein: "Geld lässt ruhiger schlafen, das hab´ ich erlebt". Vereinbarkeit zwischen Mutterschaft und Beruf aus klassensensibler Perspektive. MARTA PRESS (Hamburg) 2021. ISBN 978-3-948731-06-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29714.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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