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Christiane Jendrich: Funkstille

Rezensiert von Christoph Klein, 24.08.2023

Cover Christiane Jendrich: Funkstille ISBN 978-3-525-40814-8

Christiane Jendrich: Funkstille. Systemisch arbeiten in Familien mit Kontaktabbrüchen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 151 Seiten. ISBN 978-3-525-40814-8. D: 23,00 EUR, A: 24,00 EUR.

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Thema

Kinder, Eltern und Großeltern erleben heute vermutlich häufiger, dass familiäre Bindungen nicht verlässlich sind. Selbstverwirklichung sowie ein selbstbewusster Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen haben für uns heute gesellschaftlich einen größeren Stellenwert als für frühere Generationen. Möglicherweise leben wir daher in einer Gesellschaft, die es leichter macht, den Kontakt zur Herkunftsfamilie abzubrechen.

Das Buch befasst sich mit langfristigen Kontaktabbrüchen zu Menschen, die einmal eine (wenn auch nur vermeintliche) enge Bindung hatten. Es geht um Familiensysteme von 2–3 Generationen: (meist erwachsene) Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern bzw. Elternteilen abbrechen, Eltern, die keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern wollen oder auch junge Eltern, die den Großeltern einen Kontakt zum Enkelkind verweigern.

Das Buch wendet sich an Beratende, Coaches und therapeutische Fachkräfte sowie an Betroffene selbst. Wie geht es Verlassenen und Verlassenden, was blockiert einen konstruktiven Umgang miteinander so tiefgreifend und nachhaltig, dass andauernde Feindseligkeit, Verbitterung und Ohnmacht zu beobachten sind? Was können wir als Fachkräfte tun, um denen wieder Hoffnung zu machen, die daran etwas ändern wollen?

Autorin

Dr. phil. Christiane Jendrich ist systemische Therapeutin, Familientherapeutin, Kinder- und Jugendlichentherapeutin, in eigener Praxis und als Lehrende am Kölner Institut für Systemische Beratung und Therapie (KIS) tätig.

Entstehungshintergrund

Kontaktabbrüche in Familien zwischen Eltern und Kindern sind erst in den letzten Jahren öfter Thema in unterschiedlichen Büchern gewesen. Dass heute offener darüber gesprochen werde, so Jendrich, müsse nicht heißen, dass es mehr Abbrüche gebe als früher. Anders als früher sei aber die Notwendigkeit des familiären Zusammenhalts, um das Überleben zu sichern, heute nicht mehr in dem Maße gegeben.

Aufbau

Im ersten Teil des Buches entwickelt Jendrich Grundlagen einer systemischen Arbeit mit Familien, in denen es zu Kontaktabbrüchen kam. Trotz der sehr unterschiedlichen und komplexen Szenarien macht sie Vorschläge im Sinne eines Leitfadens, welches methodische Vorgehen sich in Beratung und Therapie eignet.

Im zweiten Teil geht es darum, wie gerade eine systemische Haltung vielseitige Perspektiven und Zugänge bereithält, Familien und Einzelne bei Kontaktabbrüchen zu begleiten. Der dritte Teil ist fünf ausführlichen Fallbeispielen gewidmet, in denen auch viele der Ideen und Methoden aus den ersten beiden Teilen anschaulich dargestellt werden. Im Anhang finden sich vielseitige Materialien zur eigenen Verwendung.

Inhalt

Im Mittelpunkt der Arbeit in Familien mit Kontaktabbrüchen steht für Jendrich das Verstehenwollen von Menschen, die anderen viel Leid zufügen und selbst viel Leid erfahren haben. Dazu gehören ihre unveränderbar scheinenden Narrative und Wirklichkeitskonstruktionen, sowie die familiären Dynamiken und Kommunikationsmuster, die zum Kontaktabbruch führten. Mit einem systemischen Blick geht es um Möglichkeiten, Verlassenen und Verlassenden Einladungen in eine Welt zu machen, in der eine Begegnung wieder stattfinden kann, in der Verbitterung und Beziehungsblockaden überwunden und Kränkungen heilend versorgt werden können.

Als theoretische Untermauerung für ihr Beratungsmodell stellt Jendrich zwei Modelle vor. Mit ihrem Zwei-Welten-Modell untersucht sie zentrale Aspekte des Erlebens von Verlassenden und Verlassenen, die so gegensätzlich sind, als lebten beide in parallelen Welten. Und sie stellt ihr Konzept der vier Ebenen vor, zur Betrachtung des Familiensystems, zum Verständnis der familiären Dynamik und um Wege aus dem Labyrinth der Verstrickungen zu finden. Darin unterscheidet sie eine Horizontebene, in der es um die Geschichte des Herkunftssystems geht, und eine Struktur-, Prozess- und Umfeldebene.

Sehr ausführlich und immer auch anhand von Fallbeispielen geht Jendrich im zweiten Teil darauf ein, mit welchen systemischen Kompetenzen sie ganz praktisch Verlassene und Verlassende begleitet. Dabei differenziert sie ganz unterschiedliche Szenarien und beschreibt die jeweiligen Klippen in der Arbeit mit Familien, Eltern, Großeltern und auch in der Arbeit mit Einzelnen. Hier finden sich sehr viele Anregungen für die Praxis. Ausführliche Falldarstellungen und ein Anhang mit Fragebögen, Arbeitsblättern, Briefen zur eigenen Verwendung und weiterführenden Informationen schließen das Buch ab.

Diskussion

Beeindruckend und ausführlich geht Jendrich auf die Vielfalt systemischer Kompetenzen für die Arbeit in Familien mit Kontaktabbrüchen ein und zeigt, wie dafür gerade der systemische Blick und systemisches Handeln geeignet und vielversprechend sind. Darüber hinaus lassen sich viele der Ideen und Ansätze ohne weiteres auch auf andere Arbeitskontexte übertragen.

Ein besonderes Verdienst sehe ich in der Mühe, die sich Jendrich in diesem Buch gemacht hat, konsequent die Perspektiven von Verlassenen und Verlassenden zu unterscheiden – auch wenn diese Zuschreibungen in der Praxis nicht immer leicht fallen und je nach Zeitebene variieren können. Die Verlassenden fühlen sich vorher selber oft als Verlassene und haben auch gegenwärtig nicht immer wirklich losgelassen. Dennoch hilft ihre Differenzierung, mehr Klarheit über die Gemengelage der Gefühle zu gewinnen und einen Weg aus dem Labyrinth der Verstrickungen zu ermöglichen. Die Themen, Klippen und Balanceakte für die jeweiligen Gesprächssituationen entsprechen auch meinen Erfahrungen. Ihre Ideen, damit umzugehen machen Mut und laden dazu ein, es gleich wieder auszuprobieren.

Es werden keine Illusionen gemacht, wenn Jendrich schreibt, dass eine Arbeit in Systemen mit Kontaktabbrüchen vor allem Geduld, Ausdauer, Belastbarkeit und Langmut erfordert, und immer wieder auch mit vermeintlichen Rückschritten verbunden ist. Entscheidend ist, dass wir als Fachkräfte handlungsfähig und zuversichtlich bleiben. Wie das gelingt, lesen Sie in diesem Buch.

Fazit

Ein wichtiges Buch für ein Thema, das unsere Aufmerksamkeit braucht, weil die Folgen von Kontaktabbrüchen oft auch das Grundvertrauen in Beziehungen erschüttert und letztlich damit nicht zuletzt auch den Zusammenhalt und das Miteinander von uns als Gesellschaft bedroht. Ein hilfreiches Buch, das Fachkräften und Betroffenen Wege aufzeigt, wie wir mit Ohnmacht und immensem Leid umgehen können, das mit Kontaktabbrüchen verbunden sein kann. Ein hoffnungsvolles Buch mit vielen Ideen und Einladungen, damit ein Leben mit neuen Möglichkeiten frei von Verbitterung beginnen kann.

Rezension von
Christoph Klein
Dipl- Pädagoge, Familientherapeut, systemischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Supervisor und Lehrender für systemische Therapie an der GST Berlin; Mitbegründer des PUK Berlin und Trainer für das Mehrfamilienprogramm Kinder aus der Klemme für Familien in Trennungskonflikten.
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Zitiervorschlag
Christoph Klein. Rezension vom 24.08.2023 zu: Christiane Jendrich: Funkstille. Systemisch arbeiten in Familien mit Kontaktabbrüchen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. ISBN 978-3-525-40814-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29719.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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