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Mathias Hirsch: Traumatische Realität und psychische Struktur

Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 15.08.2023

Cover Mathias Hirsch: Traumatische Realität und psychische Struktur ISBN 978-3-8379-3130-3

Mathias Hirsch: Traumatische Realität und psychische Struktur. Zur Psychodynamik schwerer Persönlichkeitsstörungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. 253 Seiten. ISBN 978-3-8379-3130-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Thema

Mit dem vorliegenden Buch werden ein Überblick und eine Zusammenstellung über das akademische Schaffen von Mathias Hirsch gegeben, vereint es eine Reihe von (überarbeiteten) Aufsätzen und Vorträgen. So reicht die Spanne der Beiträge von 1985 bis 2021.

Autor

Zu Büchern von Mathias Hirsch gibt es weitere Rezensionen auf diesem Portal, die thematisch in diesen Kontext gehören, aber in der Themenfokussierung ausführlicher sind als diese Zusammenstellung (https://www.socialnet.de/rezensionen/​30234.php; https://www.socialnet.de/rezensionen/​21539.php; https://www.socialnet.de/rezensionen/​12112.php; https://www.socialnet.de/rezensionen/​11999.php).

Aufbau und Inhalt des Buches

Es sind drei wesentliche Abschnitte, die das Buch unterteilen: Trauma, Schuld und Körper. Zu jedem dieser Themenkomplexe gibt es Aufsätze und Vorträge. Zum Themenbereich Trauma sind es 5 Beiträge, zu Schuld sind es 2 verschriftlichte Vorträge und zu Körper wiederum sind es wieder 5 Beiträge.

In der Einleitung wird bereits deutlich, wie sich der Autor in dem psychoanalytischen Diskurs verortet: „Psychoanalytisches Denken ist in den letzten Jahrzenten in wirklich revolutionärer Weise in Richtung einer insofern sozialen Wissenschaft verändert worden, als nun weitgehend gesehen werden kann, dass die psychische Entwicklung des Menschen nur in Beziehungen verläuft. […] So ist die Psychoanalyse heute überwiegend eine relationale Psychoanalyse, eine Beziehungswissenschaft geworden, eine Psychologie der Intersubjektivität, und zwar sowohl, was die psychische Entwicklung -in Beziehungen- angeht, als auch, was das Wesen der psychoanalytischen Therapie betrifft, die nun fast allgemein in ihrem intersubjektiven Charakter gewürdigt wird“ (S. 10 f.).

Das Buch beginnt mit dem Themenbereich Trauma. Im Wesentlichen geht es im ersten Aufsatz um die Auseinandersetzung und Differenzierung zwischen Freud (sowohl Sigmund wie auch Anna) und Sándor Ferenczi, aus dessen Verehrung der Autor keinen Hehl macht. Introjektion als „Phänomen, dass das Opfer jeder Gewalt sich immer schuldig fühlt, während der Täter jede Schuld von sich weist“ (S. 32), steht hier im Mittelpunkt. Denn es geht um die Beziehungen, die hier stattfinden und sich repräsentieren – real wie fiktiv. „Heute würden wir sagen, dass die Gewalt introjiziert wird als aktive Abwehrleistung des Ich des Opfers, um zu überleben, sodass ein Fremdkörper im Selbst, der von innen destruktiv weiterwirkt, gebildet wird“ (S. 33). Der Begriff der Introjektion geht auf Ferenczi zurück, auch wenn er beispielsweise (ohne Hinweis, Abgrenzung oder Differenzierung) auch von Anna Freud benutzt wurde. Die Schlussfolgerung aus diesem Aufsatz ist: „Ferenczi hat als erster gezeigt, dass psychisches Trauma in Beziehungen gescheit, und hier liegt der entscheidende Unterschied zu Freud, der das Trauma als akzidentell, das Triebschicksal lediglich beeinflussend betrachtete“ (S. 40). Somit ist der Blick vom Patienten allein inzwischen längst zu einer intersubjektiven Betrachtung geworden. Auch der zweite Aufsatz (‚Trauer und Melancholie‘ heute wieder gelesen) ist eine Hommage an Sándor Ferenczi. Dabei steht die Frage des Verständnisses von Introjektion im Mittelpunkt – einerseits die Auseinandersetzung zwischen Sigmund Freud und Ferenczi und andererseits die spätere Rezeption in der jüngeren Psychoanalyse. „Die verschiedenen Standpunkte bezeichnen meines Erachtens bereits den diametral entgegengesetzten Zugang zum Patienten (bzw. überhaupt zum Menschen) und seinen Störungen; Ferenczi sieht ihn zusammen mit seinem realen gegenüber (das Kind und die Erwachsenen), dessen bestimmte Eigenschaften zu den Beziehungsqualitäten beitragen (wie auch umgekehrt das Kind auf die Erwachsenen einwirkt), immer die Entwicklung positiv oder negativ beeinflussen, gegebenenfalls traumatisierend wirken können (wie traumatischer Verlust) und zu Zwecken der Abwehr etwa von zu großer Angst und Aggression introjiziert werden können. Freud dagegen sieht das Individuum eher isoliert, ein Objekt seiner Triebe suchend (oder auch in Form einer narzisstischen Objektwahl)“ (S. 47). Auch der dritte Beitrag in dieser Rubrik (Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor – Sándor Ferenczi und Anna Freud) ist eine differenzierte Betrachtung der Identifikation mit dem Angreifer, wobei es nicht um das ‚bessere Konzept‘ geht, sondern um unterschiedliche Verständnisse. Die beiden letzten Aufsätze in dieser Rubrik drehen sich um die psychoanalytische Traumatologie der Persönlichkeitsstörung sowie um die transgenerationale Dynamik der sexuellen Perversion. Auch hier gibt es Verweise auf grundlegende Gedanken und Arbeiten Ferenczis.

Die Rubrik Schuld beginnt mit einer Zusammenfassung von zwei Vorträgen, die sich mit der Psychoanalyse von Schuld und Schuldgefühl befassen. Hier geht es um die verschiedenen Formen von Schuld und deren Folgen bzw. Auswirkungen (auch hier fehlt der Verweis auf Ferenczi nicht). Etwas anders akzentuiert, aber natürlich in der gleichen Gedankenfolge, ist der Aufsatz „Scham und Schuld – Sein und Tun‘“.

Der dritte Themenkomplex ist Körper. Der erste Beitrag ist eine Mischung aus früheren Vorträgen und einer Veröffentlichung und hat Selbstbeschädigung, Autoerotismus und Anorexie zum Inhalt. Der zweite Beitrag beruht auf Vorträgen in 2021, also aus jüngerer Zeit, und ist bisher noch nicht veröffentlicht worden, ergänzen diese Rubrik aber hervorragend. In diesem Beitrag geht es um die Psychodynamik der Fettsucht. Im dritten Aufsatz stehen Hypochondrie und Dysmorphophobie im Fokus. Ein weiterer, bisher unveröffentlichter Beitrag ist der Aufsatz „Psychogener Schmerz als Traumafolge“, der auf einem Vortrag von 2018 beruht. Das Buch schließt mit einem (veröffentlichten) Beitrag aus 2003, in dem es um Körpermanipulation geht und Mathias Hirsch Parallelen zwischen Psychopathologie, heutigen Gruppennormen und ethnologischen Befunden feststellt und diskutiert. Dabei unterscheidet er 3 verschiedene Formen des ‚Körperagierens‘:

  1. Einbettung in eine Gruppe, was als gesellschaftskonform angesehen oder sogar verlangt wird
  2. Rebellion gegen Normen und traditionelle Erwartungen
  3. Destruktiver Umgang mit dem Körper als Ausdruck von Machtstreben und Aggression.

Dass diese Formen nicht gleichzusetzen sind, wiederum aber auch fließende Übergänge haben kann, ist heute allseits bekannt.

Diskussion

Der Untertitel zeigt die wesentlichen Inhalte des Buches auf: Zur Psychodynamik schwerer Persönlichkeitsstörungen. So zeigt sich hier eine große Bandbreite an Störungsformen und deren möglichen Ursachen und Folgen. Insbesondere in der Diskussion verschiedener Auffassungen wird deutlich, dass es um intersubjektive Beziehungskomplexe geht, die hier eine Rolle spielen können. Die Würdigung Sándor Ferenczis zieht sich fast wie ein roter Faden durch die Beiträge, was Mathias Hirsch für sich als ‚psychoanalytische Bibel‘ bezeichnet, denn das manifestiert sich für ihn in dem Vortrag von Ferenczi auf dem Wiesbadener psychoanalytischen Kongress 1932 mit dem Titel „Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind – Die Sprache der Zärtlichkeit und Leidenschaft“ (S. 9).

Fazit

Es gelingt dem Autor in dieser Zusammenstellung gut, ein Verständnis für die Dynamiken zu entwickeln und sie lesenden Personen zugänglich zu machen, auch wenn die Texte aufgrund ihrer Verdichtung und starken fachlichen Orientierung nicht leicht zugänglich sind. Zu bedenken ist, dass es hier um eine Zusammenstellung eines akademischen Schaffens über etwa 35 Jahre geht, daher kann auch nicht erwartet werden, dass es hier einen Lehrbuchcharakter gibt. Ein lesenswertes Buch, insbesondere in dieser guten Unterteilung bzw. thematischen Zusammenstellung, um sich besonders an die Intersubjektivität und die Dynamiken zu erinnern, die eben nicht schematisch und evidenzbasiert mittels vorgegebener Raster ‚zu behandeln‘ sind.

Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Es gibt 84 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.

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Zitiervorschlag
Stefan Müller-Teusler. Rezension vom 15.08.2023 zu: Mathias Hirsch: Traumatische Realität und psychische Struktur. Zur Psychodynamik schwerer Persönlichkeitsstörungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. ISBN 978-3-8379-3130-3. Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29727.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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