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Günter Gödde, Edith Püschel et al. (Hrsg.): Psychodynamisch denken lernen

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 16.11.2022

Cover Günter Gödde, Edith Püschel et al. (Hrsg.): Psychodynamisch denken lernen ISBN 978-3-8379-3104-4

Günter Gödde, Edith Püschel, Silvia Schneider (Hrsg.): Psychodynamisch denken lernen. Grundlinien Psychodynamischer Psychotherapie für Ausbildung und Praxis. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. 548 Seiten. ISBN 978-3-8379-3104-4. D: 39,99 EUR, A: 35,90 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Thema

Thema des Buchs ist die Entwicklung eines theoretischen und klinischen Rahmens für die Ausbildung Psychodynamischer Psychotherapeut:innen, wie er an der BAP [1] angewendet wird.

AutorIn oder HerausgeberIn

Günter Gödde, Dipl.-Psych, Dr. phil., Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut sowie Ausbildungsleiter (TP) an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP), zahlreiche Buch-Publikationen zum Unbewussten und zu konzeptuellen Fragen der psychodynamischen Therapie.

Silvia Schneider, Dipl.-Psychologin, Germanistin, Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, Dozentin, Supervisorin und Lehrtherapeutin in Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (TP) an der BAP und der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB). Sie untersucht u.a. Verbindungen zwischen Psychotherapie und Dramatheorie und theatralischer Inszenierungspraxis.

Edith Püschel, Dipl.-Psych, Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, Dozentin, Supervisorin und Lehrtherapeutin sowie Mitglied der Schwerpunktleitung Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TfP) an der BAP; langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin in Studierendenberatung und Psychologische Beratung an der FU Berlin.

weitere Autor:innen: Martin Altmeyer, Annekathrin Bergner, Felix Brauner, Heinrich Deserno, Gabriele Dorrer-Karliova, Rüdiger Eschmann, Ruth Großmaß, Günter Heisterkamp, Anna Huhn, Michael Klöpper, Hilde Kronberg-Gödde, Gerald Kurz, Anne Mauritz, Michael Over, Werner Pohlmann, Dieter Rau-Luberichs, Hans-Werner Rückert, Nina Scherg, Markus Schirpke, Jan E. Schlimme, Ulrich Schultz-Venrath, Petra Schulze Wilmert, Inge Seiffge-Krenke, Peter Theiss-Abendroth, Ralf T. Vogel, Amely Wahnschaffe, Tilman Watzel und Hans Jürgen Wirth

Entstehungshintergrund

Schon zur Gründung der BAP (ab dem Jahr 2000 mit Ermächtigung zur Behandlung gesetzlich Versicherter) legte die langjährige Leiterin und Professorin für klinische Psychologie an der Berliner TU, Eva Jaeggi, mit Günter Gödde (sowie Wolfgang Hegener und Heidi Möller) ein methodisch didaktisches Lehrbuch vor, das ihrem Verständnis von Tiefenpsychologie eine curriculare Grundlage gab (Jaeggi et al. 2003). Einen späteren Titel Jaeggis paraphrasierend, könnte man formulieren: psychoanalytisch denken, undogmatisch handeln. 19 Jahre später haben Dozent:innen/​Supervisor:innen und Selbsterfahrungsleiter:innen der BAP ein zweibändiges Lehr- und Arbeitsbuch verfasst: Psychodynamisch denken lernen und Psychodynamisch handeln lernen. Während „Tiefenpsychologie lehren – Tiefenpsychologie lernen“ sehr offen eine undogmatische psychodynamische Didaktik und Programmatik formuliert, ist der vorliegende Band das Ergebnis einer Bestandsaufnahme 20-jähriger Praxis unter den Bedingungen des damals neuen Psychotherapeutengesetzes (nach der gerade vollzogenen Novellierung steht eine erneute Curricular-Reform an, da die zukünftigen Weiterbildungsteilnehmer:innen approbierte Psychotherapeut:innen mit Masterabschluss in klinischer Psychologie und Psychotherapie sein werden).

Aufbau

Das Buch ist in 6 Teile und 31 Kapitel gegliedert, jedem Kapitel folgt ein Literaturverzeichnis.

Inhalt

Die Texte repräsentieren ein wesentlich empirisch [2] wissenschaftliches Verständnis der psychodynamischen Psychotherapie. Die dargestellte klinische Theorie folgt überwiegend einer tiefenhermeneutischen Logik; an den „Rändern“ gibt es auch Überschneidungen mit dem Geltungsbereich der Neurowissenschaften, der Psychiatrie und der somatischen Medizin.

Die hier vertretene psychodynamische Praxis kommt ohne Engführung auf psychoanalytische Schulrichtungen und Traditionen aus und führt damit zu weniger Spaltung und Ausschluss. Die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse erfolgt selbstbewusst und keinesfalls hierarchisch. Die Zeiten von tiefenpsychologisch = kleine Psychotherapie, psychoanalytisch = große Psychotherapie sind endgültig vorbei. Der Bergriff der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie taucht nur noch selten auf; er sollte gänzlich fallen gelassen werden. Psychodynamische Psychotherapie ist als Regelfall Psychotherapie auf psychoanalytischer Verstehensbasis – alle Strukturniveaus, alle Erkrankungen, alle Persönlichkeiten können davon profitieren; Psychoanalyse (hochfrequent, ggf. im Couchsetting) ist der Sonderfall, vor allem als Lehranalyse und bei sehr ausgewählten Indikationen.

Teil I. Entfaltung einer psychodynamischen Therapiehaltung

Silvia Schneider (für eine nicht-wissende Haltung offen sein), Edith Püschel (sich auf das Hören einlassen), Werner Pohlmann (der Bewegung des Seelischen folgen) und Tilman Watzel (Beziehungsmuster erleben und erkennen) eröffnen die Textsammlung, indem sie basale und gleichzeitig unverzichtbare Beziehungsaspekte der therapeutischen Begegnung darstellen. Dabei geht es um die Entstehung und Entfaltung einer Beziehung, die sich von Übertragung und Gegenübertragung leiten lässt, aber auch Raum bietet für existenzielle Themen. Die Szene hat eine zentrale Bedeutung, denn als Therapeut muss immer wieder auf sie einlassen, suchen ihre emotionale aber auch lebensgeschichtliche Bedeutung zu verstehen. Das Thematisieren vorgefasster Grundannahmen hat hier wenig Raum und kann eher als Störung der Beziehungsentfaltung verstanden werden. Körperinszenierungen stellen einen nicht seltenen Sonderfall dar, weil im Kontext der psychodynamischen Psychotherapie nicht nur bei traumatisierten Menschen das Seelische körperlichen Niederschlag gefunden hat (vgl. Levine 2016) und die Grenzen sprachbezogenen Verstehens überschritten werden müssen. Die Texte dieses Teils repräsentieren auf eine originelle Weise die Basis des therapeutischen Handelns, in sehr persönliche Darstellung von Grundkonzepten.

Teil II. Stellenwert der Selbsterfahrung in der psychodynamischen Ausbildung und Praxis

Annekathrin Bergner und Gerald Kurz beschreiben den Selbsterfahrungsteil als verfahrensbezogen und somit nicht als verkürzte Lehranalyse: Die Einzelselbsterfahrung kann ein- oder zweistündig im Sitzen oder im Liegen erfolgen. Als typische Themen beschreiben die Autor:innen: Parentifizierung mit der häufigen Folge eines daraus entstehenden Helfersyndroms, das einer einseitigen Leistungsbetonung mit daraus entstehendem rigiden Über-Ich und das der narzisstischen Konflikte und der daraus entstehenden Schamproblematik.

Im Durchschnitt absolvieren die Ausbildungsteilnehmer:innen der DFT [3] Institute 156 Stunden (120-250) Selbsterfahrung, durchschnittlich 73 Stunden (0-170) im Einzelsetting (wobei auf Einzelselbsterfahrung verzichtende Teilnehmer:innen den Mittelwert verzerren [es gibt Institute, die Einzelselbsterfahrung nur empfehlen]). Für die Gruppenselbsterfahrung liegt der Durchschnittswert bei 84 Stunden (Spanne von 50–160 Stunden). Diese Zahlen enthalten keine Angaben über therapeutische Selbsterfahrung als Folge einer Richtlinienpsychotherapie, die ebenfalls nicht selten anzutreffen ist.

Für die Inhalte stellen die Autor:innen fest: „Während das analytische Verfahren Regression, Abstinenz und Neutralität und das Durcharbeiten von (Binnen-)Übertragungen in den Mittelpunkt stellt, fokussiert das tiefenpsychologische Verfahren auf die Diagnostik und Bearbeitung aktualisierter Konflikt- und struktureller Muster. Abhängig von der Länge des Selbsterfahrungsprozesses und der angestrebten Tiefe der psychodynamischen Bearbeitung eröffnet sich ein Raum für die Entfaltung und Bearbeitung von frühen Formen des Erlebens in der Übertragung“ (S. 101).

Edith Püschel und Hans Werner Rückert haben die Rückmeldungen von Ausbildungskandidat:innen an der Berliner Akademie für Psychotherapie ausgewertet. Sie beschreiben diese Erfahrungen unter dem Titel „Szenen der Selbsterfahrung“. Die Aussagen sind vielgestaltig und eher vorsichtig formuliert. Selbst das mehrfache Termin-Vergessen durch den Selbsterfahrungsleiter kann so noch als Ressource verortet werden.

Amely Wahnschaffe beschreibt die Folgen der Gruppenselbsterfahrung im Anschluss an die von Irving Yalom formulierten Wirkfaktoren.

Jann E. Schlimme beschreibt unter dem Titel: „Über die ‚verletzten Heiler‘“ Krisen und Genesungserfahrungen von Therapeuten. Er bezieht sich dabei auf einen Begriff von C.G. Jung und setzt dem verletzten Heiler, der sich im Rahmen seines Mandats sensibel seinem Patienten widmet den heroischen Heiler entgegen, der entschieden und energisch handele, ohne die Subjekthaftigkeit des Patienten weiter zu beachten. Jungs Topos hat sicher eine große Bedeutung; historisch war es auch Jung, der die Einführung einer regulären Lehranalyse forderte. Mir scheint jedoch hier, das die komplementären Positionen als Gegensatzpaar formuliert werden, obwohl sicher der Kontext bestimmt, ob ich sensibel oder energisch auftrete; auch in der Psychotherapie.

Günter Heisterkamp schlägt als Mittel zu Erhaltung von Therapeutengesundheit eine Kultur „Zur Freude im Psychotherapeutischen Werk“ vor. Er zeigt auf, dass dem Patienten nicht nur destruktive Gefühle oft unerträglich sind, und er über das Containig seines Therapeuten Zugang dazu finden kann: „Unerträglich sind dem Patienten aber oft auch die sogenannten positiven Gefühle wie Freude, Liebe, Lust.Diese müssten, wenn sie in projektiven Identifizierungen auftauchen, genauso lege artis aufgegriffen und durchgearbeitet werden“ (S. 174).

Teil III. Die unbewusste Dynamik von psychischen Prozessen konzeptualisieren zu lernen,

beginnt mit Günter Göddes Beitrag: „Mit unbewussten Konflikte arbeiten“. Gödde beschreibt bei Freud beginnend die Entwicklung der psychodynamischen Konflikttheorie über Ich-, Objektbeziehungs- hin zur Selbst-Psychologie, untersucht die Bedeutung von unbewussten Konflikten auch für das mentalisierungsbasierte Konzept und für die relationale Psychoanalyse. Er beschreibt die Rolle der Konfliktachse in der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik und schließlich auch im strukturbezogenen Modell Gerd Rudolfs. Selbst fürTraumata und Psychosen ließe sich die Bedeutung unbewusster Konflikte konstatieren.

In Nina Schergs Beitrag „Sich an der Struktur orientieren“ wird vor allem anhand von OPD-Kriterien der Unterschied in der Behandlung von Patienten unterschiedlicher psychostruktureller Reife beschrieben, mit Bezug auf ihre unterschiedliche Fähigkeit zur Symbolisierung. Für strukturell vulnerable Patient:innen seien Handlungsdialoge typisch. Scherg zeigt, dass eine erfolgreiche Arbeit auch mit diesen Patienten möglich ist, vor allem indem sie sich auf Gerd Rudolfs strukturbezogene Methode bezieht.

Peter Theiss-Abendroth (Trauma – Das Undenkbare denken lernen) skizziert das Vorgehen bei traumatisierten und teilweise auch transkulturellen Patient:innen. Die Annäherung an die Traumatische Reinszenierung beschreibt er als Arbeit in einer Risikozone, in der der Therapeut unvermeidlich mit eigenen heftigen Gefühlen in Berührung kommt. Am Beispiel eines Textes der kanadischen Autorin Camilla Gibb („Mouthing the Words“ 1999) wird gezeigt, wie in der Literatur die Symbolisierung destruktiver Erfahrung gelingen kann.

Inge Seiffge-Krenke (Entwicklungspsychologisch denken) erarbeitet die Bedeutung der Entwicklungspsychologie für den therapeutischen Prozess. In ihrem außerordentlich inhaltsreichem Text bezieht sie sich vor allem auf den Konflikt von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung in der Postmoderne. Hedonistische Partner können sich nur noch auf temporäre, oft rein sexuelle Partnerschaften verständigen. Alles scheint möglich: Sexuelle Orientierungen verändern sich, ein heterosexuelles Elternpaar fungiert nicht mehr als unhinterfragtes Standardmodell für das Aufwachsen von Kindern, Kinder können etwa auch in homosexuellen Beziehungen aufwachsen. Digitale Medien über einen enormen Einfluss aus. Immer mehr Mädchen sind massiven Ängsten ausgesetzt, nicht über einen vorzeigbaren Körper zu verfügen, einige wollen dann in einem männlichen Körper leben. Diese Entwicklungen haben unübersehbaren Einfluss auf die entwicklungspsychologischen Bedingungen des Aufwachsens.

Ulrich Schultz-Venrath (Mentalisieren im therapeutischen Prozess) erläutert im Gefolge von Fonagy und Bateman ineinem sehr dichten und doch gut lesbarem Text die komplexen Auswirkungen der relativ neuen aber empirisch hervorragend untersuchten Mentalisierungs-basierten Therapie.

Im Anschluss beleuchtet Felix Brauner unter dem Titel „Strategien der Emotionsregulierung einschätzen lernen“ unter Einsatz der Ergebnisse der Psychotherapieprozessforschung vor allem der Londoner Gruppe um Fonagy die Perspektiven dieser Forschung: „Es lässt sich somit zeigen, dass eine klinisch bedeutsame Verringerung des psychischen Leidens vor allem durch einen konsequenten Affektfokus ermöglicht wird, der den Patient:innen im Therapieprozess ein Erleben und Ausdrücken ihrer (vor allem aversiv besetzten) Emotionen ermöglicht“.

Teil IV. Unbewusste Prozesse verstehen und interpretieren

beginnt mit Günter Göddes und Jann E. Schlimmes „Annäherung an eine psychodynamische Interpretationslehre“. Die beiden Autoren zeigen auf, dass es eine wissenschaftlich gut begründete psychodynamische Interpretationskunst allenfalls in Anfängen gebe. Sie plädieren für eine Art Hermeneutik des Alltags, in der soziokulturelle, biographische und auf interpersonelle Erfahrungen begründete Kompetenzen auf intrapsychische und Interpersonelle Zusammenhänge bezogen werden. Am leichtesten fällt das im Rahmen der Interpretation von Sprechakten, die einem narrativen Muster folgen (vgl. Argelander, 1975). Wesentlich anspruchsvoller ist das bei Interpretationsversuchen, die die Handlungssprache von Menschen uns fremder Kulturen betreffen. Szenisches Verstehen im Sinne von Argelander und Lorenzer stellt nach wie vor das zentrale Element psychodynamischen Verstehens dar.

Petra Schulze Wilmert (Grundlagen für die Interpretation der kindlichen Bildsprache) wendet sich als erste Autorin dieses Bandes explizit der Behandlung von Kindern zu. Kenntnisreich beschreibt sie entlang der Entwicklung graphomotorischer Fähigkeiten und der Symbolisierungsfähigkeit Möglichkeiten zur Interpretation von Kinderzeichnungen. Sterns Schichten der Selbstentwicklung vom auftauchendem Selbst (1. Phase) bis zum narrativen Selbst (5. Phase), geben einen guten Rahmen zur Interpretation der Entwicklungsreise.

Heinrich Deserno (Vom Traum her psychodynamisch denken und interpretieren) fasst mehr als 120 Jahre psychoanalytische Traumforschung von Freud (1900) bis hinzu Stephan Hau (2018) in einem inhaltsreichen Essay zusammen.

Michael Klöpper (Die Bedeutung intersubjektiver und impliziter Prozesse in der psychodynamischen Psychotherapie) zeigt anhand eines Beispiels transgenerationaler Traumatisierung, wie mit impliziten Erfahrungen gearbeitet werden kann. Derartige unbewusste Erfahrungen sind bei Angehörigen der „zweiten Generation“ häufig; sehr wahrscheinlich werden aber viel häufiger als allgemein angenommen unverarbeitete Traumata weitergegeben. Der Autor schlägt vor, diesem Thema nicht nur nachzugehen, sondern die Möglichkeit einer solchen Problematik systematisch zu ergründen.

Dieter Rau-Luberichs (There is no such thing as a patient – Zur Psychodynamik des Körperselbst) berichtet über unbewusste Körpererfahrungen, die fetal aber auch später vorsprachlich erworben werden. Er plädiert dafür, diesen Erfahrungen mehr Raum zu geben und sie in die Therapie explizit einzubeziehen. Rau Luberich zitiert dazu Fonagy und Target (2006): „das prozedurale Wissen des impliziten Gedächtnisses wird nur über Performanz zugänglich, das heißt: Es gibt seine Existenz nur zu erkennen, wenn das Individuum eben jene Aktivität ausführt, in die das Wissen eingebettet ist“.

Teil V. Psychodynamisches Denken in Literatur, Musik, Film, Gruppendynamik und Kulturtheorie

Teil VI. Psychodynamische Psychotherapie im gesellschaftlichen Kontext

Um die Besprechung in einem überschaubaren Umfang zu halten, bespreche ich die Texte von Teil V und VI gemeinsam: Psychodynamische Psychotherapie ist ein Instrument klinischen Handelns, worin sie sich graduell von der Psychoanalyse unterscheidet. Bei der Anwendung auf künstlerische oder kulturelle Phänomene, oder etwa auf die Gesellschaft, geht es nur selten um Interventionen – hier kommt die Ursprungsdisziplin Psychoanalyse wieder in ihrem Diskurs als Kulturtheorie (Freud) und als kritische Sozialwissenschaft (Lorenzer) zur Anwendung. Einige Beiträge befassen sich zwar auch mit klinischen Fragen. Hans-Jürgen Wirth etwa zeigt an einem Fall, wie er mit populistischen Äußerungen eines Patienten umgeht; Annika Huhn stellt ein Therapieprojekt für Geflüchtete vor und Markus Schirpke präsentiert einen fiktiven Supervisionsfall, in dessen Kontext sich ein Ausbildungsinstitut zur Hochschule erweitert und Mitarbeiter ihre Rolle neu finden müssen.

Diskussion

Die 32 Autor:innen sind eine Melange von Dozent:innen aus dem Umfeld der BAP die alle auch erfahrene niedergelassene Psychotherapeut:innen sind, psychodynamisch orientierten Hochschullehrer:innen und einigen Psychoanalytiker:innen relationaler Orientierung. Interessanterweise ist kein/e Autor:in Professor/in an der Psychologischen Hochschule Berlin, die ja teilweise in Personalunion mit der BAP geführt wird. Ob das im Beitrag von Markus Schirpke seine Erklärung findet, kann der Rezensent nur mutmaßen.

Die meisten Beträge sind in einem sehr persönlichen Stil verfasst, der Leser:innen unmittelbaren Eindruck ermöglicht, wie die Person arbeitet. Diese Besonderheit geht nicht zu Lasten des Inhalts, der nur als umfassend beschrieben werden kann. Anders als gängige Psychotherapie-Lehrbücher werden hier Verbindungen zu Kunst, Literatur, Theater und Film eingebracht, die an Kernbergs Diktum denken lassen: „Psychoanalyse soll nicht an einer technischer Hochschule oder einem theologischem Seminar gelehrt werden, sondern an einer Kombination aus Universitätsinstitut und Kunstakademie“.

Wenn der angekündigte 2. Band, der die klinische Praxis in den Handlungsfeldern Psychodynamischer Psychotherapie umfassen soll, das exzellente professionelle Niveau hält, wird das Werk eine echte Erweiterung und Ergänzung des nicht gerade armen Angebots an psychodynamischer Ausbildungsliteratur darstellen.

Fazit

Dem Herausgeber und den beiden Herausgeberinnen ist es gelungen, viele Autor:innen für das Buch-Projekt zu gewinnen, die eine moderne konsistente Theorie und klinische Praxis der psychodynamischen Psychotherapie vorstellen. Das Buch ist eine gute Begleitung und Einführung für Teilnehmer:innen in der psychodynamischen Weiterbildung sowie einschlägig Studierende; auch schon lange im Feld Tätige werden bereichert.


[1] Die Berliner Akademie für Psychotherapie und die Psychologische Hochschule Berlin sind Projekte des Bundes Deutscher Psychologen (BDP), die sich jahrelang für ein Psychotherapeutengesetz engagiert haben, welches Ärzt:innen und Psycholog:innen weitgehend gleichwertig behandelte. Die Psychologische Hochschule bietet neben der Weiterbildung von Psychotherapeut:innen auch Masterstudiengänge für Rechts- und Verkehrs- und Organisationspsychologie, bildet also das gesamte Spektrum psychologischer Berufstätigkeit ab und verfolgt somit auch berufspolitische Ziele der deutschen Psychologenschaft.

[2] Die wissenschaftliche Begründung folgt keiner Theorieschule, sondern wesentlich den Ergebnissen der empirischen Forschung wie etwa dem OPD Projekt oder dem SophoNet (vgl. Leichsenring et al.2004)

[3] Deutsche Fachgesellschaft für Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie/​Psychodynamische Psychotherapie (DFT) e.V.

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 42 Rezensionen von Ulrich Kießling.

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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 16.11.2022 zu: Günter Gödde, Edith Püschel, Silvia Schneider (Hrsg.): Psychodynamisch denken lernen. Grundlinien Psychodynamischer Psychotherapie für Ausbildung und Praxis. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. ISBN 978-3-8379-3104-4. Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29729.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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