Ute Müller-Giebeler, Michaela Zufacher (Hrsg.): Familienbildung
Rezensiert von Prof. Dr. Susann Kunze, 27.02.2023

Ute Müller-Giebeler, Michaela Zufacher (Hrsg.): Familienbildung - praxisbezogene, empirische und theoretische Perspektiven. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 542 Seiten. ISBN 978-3-7799-6378-3. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema
Familienbildung befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Erwachsenenbildung sowie markt- und ressourcenorientierten Mechanismen (S. 14). Dieses Spannungsfeld wird in den betrachteten Themenfeldern aus unterschiedlichen Perspektiven wiederholt aufgegriffen und reflektiert. Zwei Schwerpunkte liegen auf der politischen Familienbildung und der Professionalisierung der Familienbildung. Die Beiträge bieten ein breites Spektrum an theoretischen und praktischen Einblicken in das Feld der Familienbildung mit ihren Rahmenbedingungen, Aufgaben, Inhalten und Herausforderungen. Aktuelle gesellschaftliche Themen, wie z.B. Digitalisierung, Coronapandemie, soziale Ungleichheit/Bildungsungleichheit, und deren Auswirkungen auf die Familienbildung werden zusätzlich diskutiert.
Herausgeberinnen
Prof. Dr. Ute Müller-Giebeler ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Familienbildung an der Technischen Hochschule Köln. Michaela Zufacher ist Diplom-Sozialpädagogin (M.A.) und Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Kindheitspädagogik und Familienbildung an der Technischen Hochschule Köln.
Entstehungshintergrund
Dieser Sammelband ist im Rahmen eines Call for Papers entstanden. Die Autor:innen aus Forschung und Praxis bieten umfassende theoretische Beiträge, empirische Befunde und praktische Perspektiven auf das Arbeitsfeld Familienbildung.
Aufbau
Das Sammelwerk ist in zehn verschiedene Themenfelder untergliedert, zu welchen jeweils ein bis acht Beiträge verfasst wurden. Es gliedert sich folgendermaßen:
- Einführung
- Rechtliche, strukturelle und finanzielle Rahmenbedingungen
- Historische Perspektiven auf Familienbildung
- Theoretische Zugänge
- Schwerpunktthema: Politische Familienbildung
- Empirische Zugänge
- Institutionelle und organisatorische Kontexte, Arbeits- und Handlungsfelder und Adressat*innen der Familienbildung
- Schwerpunktthema: Profession und Professionalisierung in der Familienbildung
- Themen, Formate, Didaktik und Methoden der Familienbildung
- Herausforderungen und Perspektiven
Inhalt
Einleitend wird das Sammelwerk in den aktuellen Diskurs zur Familienbildung eingeordnet. Es folgt ein Überblick zu den rechtlichen, strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen, bei welchem zwei Beiträge die Rahmenbedingungen in Nordrhein-Westfalen vertieft betrachten. Der dritte Beitrag diskutiert das Spannungsfeld der Familienbildung zwischen Erwachsenenbildung und Kinder- und Jugendhilfe. Alle drei Beiträge verdeutlichen die Heterogenität des Arbeitsfeldes und die Herausforderungen der knappen Personal- und finanziellen Ressourcen.
Ein Einzelbeitrag zur Historie von Familienbildung reflektiert – unter Rückgriff auf vergessene Pionierinnen der Familienbildung – die sozialarbeiterischen Wurzeln der Familienbildung.
Im vierten Abschnitt Theoretische Zugänge erörtert der erste Beitrag die Zusammenhänge zwischen dem frauendominierten Berufsfeld Familienbildung, dem Dilemma der dreifachen Semiprofessionalität und der Haushaltsnähe der Familienbildung sowie der zunehmend schwieriger werdenden Personalrekrutierung aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Anschließend werden mögliche Barrieren für den Zugang zur Familienbildung unter Einbezug sozialraumtheoretischer Perspektiven im Sinne Bourdieus diskutiert.
Im ersten Schwerpunktthema politische Familienbildung wird eingangs die pädagogisch-politische Verantwortung des Arbeitsfeldes in seiner inhaltlich-konzeptionellen, strukturellen und didaktischen Ausrichtung untersucht. Der nachfolgende Beitrag kritisiert die tendenzielle Verengung der Familienbildung auf die Prävention und die damit einhergehende defizitorientierte Grundhaltung gegenüber den Adressat:innen. Als politische Familienbildung erweitert sie sich zu einer emanzipatorisch-kritischen Bildungsarbeit und ermöglicht demokratische Erfahrungsräume für Familien. Der Situationsansatz und die Anknüpfungspunkte einer diversitätsbewussten Familienbildung in der Migrationsgesellschaft werden unter Einbezug des Empowerments in jeweils eigenen Beiträgen diskutiert.
Der nächste Themenkomplex stellt in acht Beiträgen empirisch Zugänge und Befunde aus dem Bereich der Familienbildung vor. Nach einem Überblick über neue Entwicklungen in der Familienforschung zeigen auf Nordrhein-Westfalen bezogene Evaluationsergebnisse diverse Herausforderungen der Familienbildung auf. Ein Beitrag geht auf aktuelle empirische Befunde zur Familienbildung ein. Zudem wird kritisch reflektiert, wie medienöffentliche Konstruktionen von Familie und ihrer Erziehung diese unter Druck setzen. Die folgende Rückerinnerung an die Familie als einzigartiges System mit individueller Struktur verdeutlicht die Notwendigkeit individualisierter Selbstbildungsprozesse. Der Übergang in die Elternschaft mit seinen lebensverändernden Einschnitten und damit verbundenen Herausforderungen für die Familienbildung erörtert der nachfolgende Beitrag. Anhand eines Versuchs aus Mecklenburg-Vorpommern wird aufgezeigt, wie Familienbildung in einen Familienservice umgestaltet werden kann und welche Auswirkungen dies für das Selbstverständnis der Familienbildung und für die Wahrnehmung und Akzeptanz der Angebote bei den Adressat:innen hat. Der letzte Beitrag dieses Teils geht auf die visuelle Ansprache der Zielgruppen ein und reflektiert, inwieweit hierbei Geschlechtsstereotype reproduziert werden.
Das nächste Themenfeld, welchem sich vier Beiträge widmen, sind die institutionellen und organisatorischen Kontexte sowie Arbeits- und Handlungsfelder und Adressat:innen der Familienbildung. Zuerst wird die Familienbildung in Familienzentren in Nordrhein-Westfalen verortet und der sich daraus resultierende Mehrwert für Familien analysiert. Wie Mehrgenerationenhäuser im Sozialraum als intergenerative Angebote familienbildnerisch agieren können und welchen Mehrwert sie auf kommunaler Ebene mit sich bringen, widmet sich der nachfolgende Beitrag. Die beiden nächsten Beiträge setzen sich mit Vätern als Adressaten der Familienbildung auseinander. Zuerst wird diskutiert, was ‚gute‘ Väterbildungsarbeit generell kennzeichnet und welche praktischen Hinweise daraus für KiTas und Familienzentren abgeleitet werden können. Danach wird eruiert, wie und warum väterkompetente Familienbildung migrationssensibel und diversitätsbewusst gestaltet werden sollte. Der letzte Beitrag in diesem Themenkomplex diskutiert, warum und wie die Perspektive des Kindes und der Kinderrechte in der Familienbildung integriert werden sollte.
Der Themenschwerpunkt Professionalisierung der Familienbildung vermittelt im ersten Beitrag, wie die doppelte Verortung der Familienbildung in der Sozialen Arbeit und Erwachsenenbildung sowie deren unterschiedliche Professionsverständnisse, ihre eigene familienbildnerische Professionalität erschweren. Auch die Wandlungsprozesse der Adressat:innen, der Familie, welche Doing Family als aktive Herstellungsleistung bedingen, erfordern eigene Didaktiken und Reflexionsprozesse, um als Familienbildner:innen professionell tätig zu sein. Hinzu kommt, dass das Professionalitätsverständnis von Familienbilder:innen stark variiert, wie anhand von Studienergebnissen dargelegt wird. Vor dem Hintergrund, dass Familienbildung sich nach § 16 SGB VIII an alle Familien richtet, wird der Diskurs in diesem Themenschwerpunkt zuletzt um die sozialraumsensible Bildungsarbeit erweitert.
Bei den Themen, Formaten, Didaktiken und Methoden der Familienbildung werden in vier Beiträgen Eltern-Kind-Kurse, Rituale, Elternbegleitung und ein Projekt zur mobilen Familienbildung fokussiert. Eltern-Kind-Kurse werden trotz ihres Potenzials für informelles Lernen unterschätzt und in der Forschung zu wenig berücksichtigt. Zudem mangelt es ihnen an Standards. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der Rolle von Ritualen als prägende Elemente des Familienlebens und wie diese reflektiert werden können, um Übergänge durch die Familienbildung zu unterstützen. Auch die Elternbegleitung mit dem dazugehörigen Weiterbildungsprogramm und die Möglichkeiten für Eltern werden diskutiert. Abschließend wird der Nutzen der mobilen Familienbildung für den Abbau von Zugangsbarrieren hervorgehoben.
Im letzten Themenfeld werden ausgewählte Herausforderungen und Perspektiven der Familienbildung erörtert. Diese umfassen die Auswirkungen der Coronapandemie, die diversitätsbewusste Organisationsentwicklung und die Digitalisierung. Die Pandemie hat die Zugangsbarrieren verschärft und kreative Lösungen der Fachkräfte erfordert, welche im Zuge personeller und finanzieller Engpässe nur begrenzt umgesetzt werden konnten. Nachfolgend wird aufgezeigt, wie sich die Familienbildung im Rahmen der Organisationsentwicklung diversitätsbewusst und bildungsgerecht weiterentwickeln kann. Zuletzt wird in zwei Beiträgen die Digitalisierung mit ihren Herausforderungen betrachtet. Dies betrifft den Einsatz digitaler Wissensvermittlung und Unterstützungswerkzeuge in der Familienbildung und die Veränderung des Familienlebens im Rahmen der Digitalisierung durch Apps, digitale Assistenzsysteme sowie neue Macht- und Kontrollinstrumente wie Überwachungssoftware.
Diskussion
Dieses Werk bietet einen umfangreichen, differenzierten und vertieften Überblick zur Familienbildung und ihrer theoretischen, empirischen und praxisbezogenen Perspektiven. Die Zusammenstellung der Themenfelder, der unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge zur Familienbildung sowie ihrer Herausforderungen zeigen auf, wie vielfältig, umfangreich und gesellschaftlich bedeutsam die Familienbildung ist und mit welchen Herausforderungen die Fachkräfte der Familienbildung konfrontiert sind.
Die differenzierte Betrachtung des Spannungsfeldes von Erwachsenenbildung und Sozialer Arbeit, innerhalb welcher sich die Familienbildung bewegt, beleuchtet eine bisher im aktuellen Diskurs eher vernachlässigte Perspektive. So erweitert der Sammelband den Diskurs um die erwachsenenbildnerische Perspektive im Sinne eines humboldtschen Bildungsverständnisses. Diese Perspektive betont die im § 16 SGB VIII verfolgte Implikation der Familienbildung, sich als Bildungsangebot für alle Familien zu platzieren. Dies erweitert den aktuellen fachlichen Diskurs, welcher sich tendenziell mehr auf die Prävention konzentriert und im Zuge dessen droht, die Familienbildung auf eine potenzielle Problemperspektive zu verengen. Die Rückbesinnung auf die ganzheitliche Bildung verdeutlicht die Bedeutung dieses Sammelwerkes. In diesem Sinne sind die beiden Schwerpunkte politische Familienbildung und Professionalität der Familienbildung erstklassig gewählt.
Der Schwerpunkt „Politische Familienbildung“ verweist auf ein im aktuellen Diskurs vernachlässigtes Feld der Familienbildung hin. Dabei diskutiert er, dass Familienbildung strukturell, inhaltlich und methodisch-didaktisch auch politische Bildungsarbeit impliziert und wie welchen Herausforderungen begegnet werden könnte. Dazu gehört zum Beispiel der Abbau von Zugangsbarrieren, welcher in der gegenwärtigen Praxis ausbaufähig ist. Wie Familienbildung demokratiefördernd und emanzipatorisch wirken kann, welche inhaltlichen und methodisch-didaktischen Ansätze zum Einsatz kommen können, wird zusätzlich auf theoretischer und praktischer Ebene diskutiert.
Der Schwerpunkt Professionalisierung der Familienbildung vermittelt ein umfangreiches Bild zu elementaren Herausforderungen der Familienbildung. Dies reicht von der doppelten Verortung der Familienbildung in der Sozialen Arbeit und Erwachsenenbildung, der Komplexität von Familie an sich, bis hin zum Auftrag der Familienbildung, für alle Familien Angebote bereit zu stellen. Dass aus diesen Herausforderungen unterschiedliche Professionsverständnisse der Fachkräfte resultieren können, bestätigt ein vorgestelltes Forschungsprojekt. All dies verdeutlicht die Notwendigkeit, die Professionalisierung der Familienbildung im fachlichen Diskurs weiterhin kritisch und differenziert zu reflektieren und die erwachsenenbildnerische Perspektive weiter zu stärken. Dieser Schwerpunkt bietet einige, sehr gut nachvollziehbare Hintergründe dafür und lädt dazu ein, diesen Diskurs weiter zu vertiefen.
Ein Kritikpunkt wäre anzumerken: Punktuell findet ein etwas zu ausgeprägter Fokus auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen statt. Bei den Artikeln zu den rechtlichen, strukturellen und finanziellen Perspektiven bedingt dies vereinzelt eine inhaltliche Wiederholung. Hier wäre eine Ausweitung auf weitere Bundesländer für eine vergleichende Perspektive und eine Erweiterung des länderspezifischen Diskurses von Vorteil gewesen.
Dessen ungeachtet ermöglicht die sonst durchgängig sehr differenzierte Darlegung eine inhaltliche Breite und Tiefe zur Familienbildung, sodass dieses Buch standardmäßig in Lehre, Forschung und Praxis eingesetzt werden sollte.
Fazit
Dieser Sammelband rückt die bildungswissenschaftliche Perspektive auf die Familienbildung in den Fokus und enthält durchgängig reflektierte Beiträge zu ihren strukturellen und inhaltlichen Herausforderungen. Er regt zur kritischen Reflexion an und bietet Impulse für die Forschung und Praxis. Damit bereichert er den Fachdiskurs zur Familienbildung sowie deren Möglichkeiten der praktischen Umsetzung. Die Autor:innen betonen die Spannungsfelder der Ansprüche an Familienbildung und ihren begrenzten Ressourcen sowie zwischen sozialarbeiterischer und erwachsenenbildnerischer Ausrichtung. Das Buch reflektiert die Herausforderungen, vor denen Familien stehen, und wie Familienbildung ihnen wirksam begegnen kann. Innovative Handlungsansätze inspirieren für die eigene Praxis. Je nach Interessenslage können einzelne Beiträge, Themenfelder oder auch das gesamte Sammelwerk aufmerksam gelesen werden. Es ist geeignet für Studierende, Praktiker:innen, Lehrende und Wissenschaftler:innen. Auch die Politik kann sich dieses Werk zunutze machen, um die Familienbildung im Sinne von § 16 SGB VIII zielführend zukunftsfähig zu machen.
Rezension von
Prof. Dr. Susann Kunze
IU Internationale Hochschule · Fernstudium, Erfurt
Professorin für Kindheitspädagogik
Studiengangsleiterin Kindheitspädagogik (B.A.) im Fernstudium
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Es gibt 6 Rezensionen von Susann Kunze.
Zitiervorschlag
Susann Kunze. Rezension vom 27.02.2023 zu:
Ute Müller-Giebeler, Michaela Zufacher (Hrsg.): Familienbildung - praxisbezogene, empirische und theoretische Perspektiven. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6378-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29739.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.
Urheberrecht
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