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Mart Busche, Jutta Hartmann et al. (Hrsg.): Prävention von sexualisierter Gewalt gegen Jungen*

Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 23.05.2023

Cover Mart Busche, Jutta Hartmann et al. (Hrsg.): Prävention von sexualisierter Gewalt gegen Jungen* ISBN 978-3-7799-6764-4

Mart Busche, Jutta Hartmann, Bernard Könnecke, Elli Scambor, Malte Täubrich (Hrsg.): Prävention von sexualisierter Gewalt gegen Jungen*. Männlichkeits- und heteronormativitätskritische Perspektiven in der Bildungsarbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 252 Seiten. ISBN 978-3-7799-6764-4. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Wenn sexualisierte Gewalt thematisiert wird, geschieht das hauptsächlich bezogen auf Taten gegen weiblich gelesene Personen. Insbesondere sich als männlich identifizierende Kinder und Jugendliche werden übersehen und entsprechende Präventionsansätze – verknüpft mit Ansätzen zu queerer Bildung – fehlen. Dementgegen treten möchte die vorliegende Publikation, indem „Bedingungen und Faktoren in den pädagogischen Angeboten der vier Praxisfelder Jungen*arbeit, Sexualpädagogik, Präventionsarbeit zu sexualisierter Gewalt sowie Queerer Bildung“ (Klappentext) aufgezeigt und entsprechend überarbeitet werden.

Herausgeber:innen

Dr. Mart Busche, wissenschaftliche Mitarbeit im BMBF-Praxisforschungsprojekt ‚JupP*: Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt‘ und in der BMBF-geförderten Nachwuchsforschungsgruppe ‚Gender 3.0 in der Schule: Herausforderungen und Handlungsbedarfe im Bereich Lehrkräfteausbildung zur Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt unter besonderer Berücksichtigung des Personenstandes ‚divers‘‘ an der Europa-Universität Flensburg.

Prof. Dr. Jutta Hartmann, Professur für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Leitung des BMBF-Praxisforschungsprojektes ‚JupP*: Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt‘.

Bernard Könnecke, Geschäftsführer und Projektleiter bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. in Berlin, Verbundkoordination und Leitung des BMBF-Praxisforschungsprojektes ‚JupP*: Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt‘.

Elli Scambor, Leiterin des Instituts für Männer- und Geschlechterforschung in Graz sowie Lehrbeauftragte an Universitäten und Fachhochschulen, wissenschaftliche Mitarbeit im BMBF-Praxisforschungsprojekt ‚JupP*: Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt‘.

Malte Täubrich, wissenschaftliche Mitarbeit im BMBF-Praxisforschungsprojekt ‚JupP*: Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt‘ und bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. in Berlin sowie Lehre an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Entstehungshintergrund

Von April 2018 bis Juni 2021 wurde das Projekt ‚Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt. Potenziale und Herausforderungen männlichkeitsbezogener Jungenarbeit‘ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung innerhalb der Förderlinie ‚Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten‘ gefördert. Aus den vier Praxisfeldern heraus (Jungen*arbeit, Sexualpädagogik, Präventionsarbeit zu sexualisierter Gewalt sowie Queerer Bildung) wurden acht Praxiseinrichtungen hinsichtlich ihrer Wissensbestände zum Thema befragt. Entstanden ist daraus neben der vorliegenden Publikation u.a. ein Erklärfilm für die Jungen*arbeit, der online abrufbar ist.

Aufbau und Inhalt

Die vorliegende Publikation beginnt mit einer Einführung von Busche, Hartmann, Könnecke, Scambor und Täubrich, in der das zugrunde liegende Projekt ‚JupP*‘, die verwendete Begriffswahl sowie der Aufbau des Buches beschrieben werden.

In Kapitel 1 formulieren Hartmann und Busche Männlichkeits- und Heteronormativitätskritik im Kontext sexualisierter Gewalt, indem der Begriff sexualisierte Gewalt, das männliche* Geschlechtsverständnis, die Ambiguität von geschlechtlicher und sexueller Subjektivität sowie die Entwicklung einer geschlechterreflektierten und vielfaltsorientierten Pädagogik und sozialen Arbeit beleuchtet werden. Das Kapitel schließt mit einem Exkurs zu sich antinomisch verhaltenden Entscheidungen hinsichtlich geschlechterreflektierter Gruppenaufteilungen in der sexualpädagogischen Gruppenarbeit bzw. Präventionsarbeit.

In Kapitel 2 werden Zahlen, Kontexte und Formen, Folgen, Aufdeckung und Gründe gegen eine Aufdeckung von sexualisierter Gewalt durch Täubrich und Scambor skizziert. Ebenso folgen Ausführungen zu Problemen bei der Hilfesuche sowie grundlegend zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen männliche* Kinder und Jugendliche.

Anschließend wird in Kapitel 3 von Busche, Täubrich, Scambor, Hartmann und Könnecke ein erster Einblick in die Forschungspraxis des Projektes ‚JupP*‘ gegeben. Zunächst werden die beteiligten Praxisfelder Jungen*arbeit, Sexualpädagogik, Prävention sexualisierter Gewalt und queere Bildung vorgestellt samt der jeweiligen Praxiseinrichtungen, in denen die Befragungen vorgenommen wurden. Zudem werden als Mittel zur Partizipation Reflecting Groups beschrieben, die erhobenen Daten in ihrer Vielfalt und Verarbeitung erörtert sowie forschungsethische Herausforderungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen benannt.

Währenddessen widmen sich Hartmann, Busche, Chris Henzel, Täubrich und Könnecke in Kapitel 4 einem vielfach übersehenen Aspekt in Forschungsprojekten: dem Umgang mit (Geschlechter-) Gewaltverhältnissen in Forschungszusammenhängen und dem exemplarischen Umgang des Forschungsteams damit.

Täubrich, Yannik Markhof und Lena Jochheim stellen in Kapitel 5 zusammen, wie und wie nicht über Jungen* gesprochen wird, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Besonders herausgestellt werden mögliche Unterschiede hinsichtlich spezifisch männlicher* Gewaltwiderfahrnisse, binäre Vorstellungen im Sprechen über jene Jungen* und ihre Konstruktion im Kontext hegemonialer Männlichkeit sowie binäre Strukturen im Diskurs zur Prävention sexualisierter Gewalt.

In Kapitel 6 wird von Täubrich, Jochheim und Markhof das alltägliche präventive Handeln in der eigenen (beruflichen) Praxis der befragten Fachkräfte bzw. pädagogischen Peers beleuchtet, unterteilt in die Kategorien persönliche Widerfahrnisse, Räume zum Reden und Offenlegungen.

Pädagogische Handlungsorientierungen im Umgang mit sexualisierter Gewalt werden von Busche, Scambor und Henzel in Kapitel 7 anhand einer Typusbildung aufgrundlage diverser Gruppendiskussionen dargestellt. Beteiligt waren pädagogische Fachkräfte und pädagogische Peers der einbezogenen Praxiseinrichtungen.

In Kapitel 8 tragen Täubrich, Busche, Scambor, Hartmann und Könnecke die aus dem Projekt ‚JupP*‘ resultierenden Potenziale, Bedingungen und Herausforderungen zur Prävention sexualisierter Gewalt unter männlichkeits- und heteronormativitätskritischen Aspekten für Jungen* und Kinder und Jugendliche mit anderen Geschlechtspositionierungen zusammen.

Die Publikation schließt mit Kapitel 9 von Täubrich, Hartmann, Busche, Scambor und Könnecke, indem Orientierungslinien zur Professionalisierung, didaktische Hinweise zum im Projekt entstandenen Erklärfilm sowie Empfehlungen für einen betroffenensensiblen Umgang mit Situationen der Offenlegung zusammengefasst werden.

Es folgen ein Literaturverzeichnis, ein Anhang (inkl. Auflistung der beteiligten Praxiseinrichtungen) und eine Übersicht der Autor_innen.

Diskussion

Die vorliegende Publikation hält eine Fülle an Informationen zur Jungen*arbeit, Sexualpädagogik im Allgemeinen und zur Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt bereit. Teilweise können diese sehr ausführlich erörterten Grundlagen wie auch der kleinschrittig beschriebene Arbeitsprozess überwältigend wirken, wenn die Orientierung etwas verloren geht. Nichtsdestotrotz ist genau die Menge an Fakten und Arbeitsergebnissen notwendig, um ein umfassendes Bild zu vermitteln, einerseits für Fachkräfte, die schon länger zur Thematik arbeiten (im Sinne einer Aktualisierung und ggf. Neuausrichtung) und andererseits an in der Thematik neue Fachkräfte, Studierende und ehrenamtliche Teamer_innen, um diese zur respektvollen und reflektierten Jungen*arbeit im Kontext der Prävention sexualisierter Gewalt zu befähigen. Die konkrete Adressierung von „TIN-Personen“ (S. 16) fehlt im Diskurs bisher, sodass eine gefährliche Lücke (nämlich der fehlende Einbezug) ein Stück weit geschlossen werden kann.

Das geschieht u.a. durch die reflektierte und selbstkritische Herangehensweise des Forschungsteams, die anhand des Bewältigungsprozesses einer im Forschungsprozess erlebten Grenzverletzung exemplarisch in Kapitel 4 beschrieben wird. Es werden auch die daraus resultierenden Konflikte im Team benannt, während der Weg zur stellenweise Klärung skizziert wird. Daraus kann geschlossen werden, dass der Forschungsprozess durch einen fortlaufenden Reflexionsprozess gewachsen ist, eine Empfehlung zur Reflexion in Teams ist hiermit nicht nur eine Phrase, sondern aus eigener Erfahrung als elementar erlebt worden.

Mit der Publikation wie auch den auf der Projekt-Website zugänglichen Informationen besteht eine gute Vorbereitung auf die Praxis, in der die Fachkräfte darauf eingestellt sein müssen, mit Erfahrungen von sexualisierter Gewalt konfrontiert zu werden und darüber zu sprechen. Viele Tipps und Handlungsempfehlungen werden dazu formuliert; wichtig herauszustellen ist das Achten auf angemessene Sprache und das Nutzen von Zwischenräumen (kurze Momente wie Pausen, etc., in denen Einzelgespräche in Gruppensettings möglich werden). Ein zusätzlicher Hinweis ist das Durchkreuzen von Geschlechterbinarität, was sich z.B. in der Wortwahl wie auch in der Gruppeneinteilung niederschlagen kann. Während es viele Jahre und Jahrzehnte üblich war (und immer noch ist), in sexualpädagogischen Angeboten Kinder und Jugendliche in zwei Gruppen (Mädchen und Jungen) einzuteilen, wird die Unzufriedenheit damit mittlerweile offen thematisiert, da es weder der Geschlechtervielfalt noch den individuellen Bedürfnissen von Heranwachsenden gerecht wird. Verschiedene Fragen zu Alternativen werden von den Autor_innen formuliert, aber auch hier bleibt die generalisierbare, alle zufriedenstellende Antwort offen (da wahrscheinlich utopisch), Teillösungen werden diskutiert. Somit bietet die Publikation eine fundierte Argumentationsgrundlage zum Aspekt und beweist, dass sie auch wichtige Denkanstöße für die allgemeine sexualpädagogische und queere Bildungsarbeit liefern kann.

Insbesondere zur weiteren Forschung und dem Aufbau von Bildungs- und Beratungsangeboten kann das Buch beitragen, wenn weitere weniger stark adressierte Jungen*gruppen wie z.B. Jungen mit Behinderung fokussiert werden. Inwiefern werden sie mit ihren Erfahrungen gehört? Inwiefern bekommen sie Angebote zur Information und Prävention? Es ist davon auszugehen, dass Jungen* und Männer* mit Behinderung mindestens genauso stark von sexualisierter Gewalt betroffen sind wie Jungen* und Männer* ohne Behinderung. Darüber hinaus gibt es auch TIN-Personen mit Behinderung, die durch intersektionelle Verstrebung von Geschlecht und Behinderung Ausschluss erleben. Hierzu bietet die Publikation entsprechende Grundlagen und Handlungsempfehlungen, um spezifische Angebote zu entwickeln. Die Übertragung der bestehenden Ergebnisse wie auch die Fortführung ist Aufgabe von Fachkräften der Behindertenhilfe, Sexualpädagogik und Präventionsarbeit, aber auch Forscher_innen, die durch Anschlussvorhaben weitere Ergebnisse generieren können.

Hilfreich ist dabei auch die differenzierte Auseinandersetzung mit den Gruppendiskussionen und der entsprechenden Typen-Bildung. Viele Impulse werden formuliert und eine langfristige Rahmung für die entsprechende Beratungs- und Bildungsarbeit gesetzt. Anschaulich und kompakt werden Handlungsempfehlungen in Kapitel 9.3 vorgestellt, die eine gewisse Offenheit beinhalten: „Wir verstehen die Orientierungslinien als Hilfestellung, um jeweils situativ angemessene Handlungsentscheidungen zu treffen. Es geht an dieser Stelle daher nicht um Leitfäden, sondern um eine Ausrichtung, die nicht standardisierbar ist und deren Umsetzung somit einen Teil professionellen Handelns ausmacht.“ (S. 203) Genau diese Offenheit erleichtert die Übertragung auf ganz unterschiedliche Praxiseinrichtungen.

Es ist den Autor_innen gelungen, einen notwendigen und innovativen Blick auf die Gestaltung der Prävention von sexualisierter Gewalt in der Jungen*arbeit zu werfen. Durch die fachliche Expertise und die detaillierte Darlegung des Vorgehens bieten sich vielfältige Möglichkeiten, die eigene Arbeitsweise zu reflektieren und anzupassen. Darüber hinaus bieten sich umfangreiche Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschung und Projekte in der sexualpädagogischen Jungen*arbeit.

Die Autor_innen formulieren mit der Publikation ein Plädoyer für eine stärkere Anerkennung von TIN-Personen in sexualpädagogischen Angeboten und damit auch in der Präventionsarbeit. Insbesondere im Sinne inklusiver (Bildungs-)Bemühungen ist es unumgänglich, TIN-Personen einzubeziehen, zu adressieren und zu stärken, um ihnen den Zugang zu Präventionsangeboten gegen sexualisierte Gewalt zu gewähren. Ebenfalls elementar ist der explizite Fokus auf Jungen*, die in dieser Thematik oftmals weniger Aufmerksamkeit und damit ggf. auch weniger Schutz erhalten.

Fazit

Die Publikation kann allen Fachkräften in der Sexualpädagogik und in der Präventionsarbeit, Lehrkräften, Forschenden aus den beteiligten Fachdisziplinen und Studierenden sowie weiteren interessierten Leser_innen uneingeschränkt empfohlen werden.

Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
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ISSN 2190-9245