Christine Mitterlechner: Montessori-Geragogik
Rezensiert von Prof. Dr. Julia Steinfort-Diedenhofen, 09.01.2023
Christine Mitterlechner: Montessori-Geragogik. Der alternde Mensch im Mittelpunkt. Facultas Verlag (Wien) 2022. 252 Seiten. ISBN 978-3-7089-2249-2. D: 26,20 EUR, A: 26,90 EUR, CH: 32,90 sFr.
Thema
Der von Maria Montessori geprägte Satz „Hilf mir, es selbst zu tun“ und die Erziehung zum selbstständigen und selbstverantwortlichen Handeln ist bislang vor allem auf die Arbeit mit Heranwachsenden bezogen. Im vorliegenden Werk werden die Prinzipien der Montessori-Pädagogik auf die Arbeit mit alten und hochaltrigen Menschen übertragen und weiterentwickelt. Wie Elemente der Montessori-Pädagogik in die noch junge wissenschaftliche Disziplin der Geragogik implementiert werden können, wird im vorliegenden Werk sowohl theoretisch als auch praktisch erläutert. Im Mittelpunkt stehen lebensbegleitende Lernprozesse von Menschen, die trotz möglicher körperlicher und kognitiver Einschränkungen handlungsfähig sein und bleiben möchten. Christine Mitterlechner führt hierzu in ein Praxismodell der Montessori-Geragogik – mit dem Titel ‚lebensbegleitend lustvoll Lernen nach Montessori' oder kurz 'L³M‘ – ein und skizziert einen Ausbildungsplan für Lernbegleiter*innen, die den Fokus darauf legen, Menschen bis zum Lebensende in selbstbestimmten Lernprozessen mit spezifisch dafür vorgesehenen Materialien zu begleiten.
Autorin
Die Pädagogin und Erwachsenenbildnerin Christine Mitterlechner absolvierte 2005 den Diplomlehrgang Geragogik und 2010 das Masterstudium Geragogik. Sie arbeitete viele Jahre im Volksschulbereich, als Ausbildungslehrerin, als Dozentin, im Schulmanagement für Führungskräfte sowie als Schulleiterin. Sie ist Motogeragogin, LIMA-Trainerin sowie Trainerin für Lebensgeschichte und Biografiearbeit. Ihre Kenntnisse und Qualifikationen bringt sie als Referentin bei nationalen als auch internationalen Kongressen zum Thema Montessori-Geragogik mit ein.
Entstehungshintergrund
Die Autorin ist Mitbegründerin und Mitglied der Montessori-Vereinigung in Wien und leistet mit der in ihrem Buch dargelegten geragogischen Perspektive eine Erweiterung der Montessori-Pädagogik und eröffnet somit ein neues Arbeits- und Einsatzfeld.
Aufbau
Das vorliegende Werk setzt sich aus vier Teilen zusammen. Teil A beschäftigt sich mit der Theorie der Montessori-Geragogik. Dieser Teil dient dazu, in wesentliche Begrifflichkeiten einzuführen. Mitterlechner nimmt hierzu die Geragogik gezielt in den Blick und klärt im Zuge dessen relevante Begriffe wie Alter/​Altern sowie Bildung und Lernen. Zudem wird sehr umfassend in die Montessori Abläufe eingeführt. Teil B stellt ein Praxismodell der Montessori-Geragogik (Lebensbegleitend Lustvoll Lernen nach Montessori) vor. Der nächste Teil befasst sich mit dem Curriculum/​Ausbildungsplan für Lernbegleiter*innen. Der inhaltliche Part des Werkes schließt mit Teil D, welcher das Praxismodell in nationale sowie internationale Kontexte einordnet. Das Buch endet mit der Angabe der verwendeten Literatur sowie relevanten Verzeichnissen.
Inhalt
Teil A: Theorie der Montessori-Geragogik (S. 21 ff.)
- Einführung in die Biografie von Maria Montessori und ihrer wertschätzenden Pädagogik
- Darlegung der Grundprinzipien der Montessori Pädagogik sowie deren Übertragung in die Geragogik, die sich als wissenschaftliche Disziplin am Leitbild von Menschenwürde und Partizipation im Alter orientiert, Bildungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte erforscht, Bildungskonzepte mit Älteren und für das Alter entwickelt, erprobt und in die Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Arbeit mit Älteren einbringt
- Geragogisches Basiswissen (Lernfelder, Forschungserkenntnisse etc.)
- Eingrenzung des Begriffs Alter und Altern sowie Darlegung von verschiedenen Alterstheorien und -modellen (Defizitmodell; Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung; Aktivitätstheorie; Disengagement-Theorie; Kontinuitätstheorie; Kompetenztheorie)
- Differenzierung von Bildungs- und Lernprozessen in der zweiten Lebenshälfte, Konturierung von Lernprozessen und deren Besonderheiten und Chancen in der zweiten Lebenshälfte
- Thematisierung von Möglichkeiten der Inklusion in der Arbeit nach Montessori, insbesondere im Hinblick auf einen wertschätzen Umgang mit Menschen mit Demenz und methodischer Zugangsmöglichkeiten validierende Grundhaltung, positive Interaktion und Barrierefreiheit)
- Ausführung zentraler Bausteine der Montessori-Geragogik, wie z.B. Selbststeuerung und Selbstständigkeit, Salutogenese, Biografiearbeit oder der Faktor Zeit
- Übungen des praktischen Lebens und Schulung der Sinne
- Darstellung der Methodenvielfalt in der kosmischen Erziehung mit der Fokussierung von Freude als „Lebensvitamin“
Teil B: Einführung in das Modell L³M als Praxismodell der Montessori-Geragogik (S. 129 ff.)
- Benennung von Zielen: Förderung der Fähigkeiten, Lebensfreude, Selbstbestimmung, Darstellung des sechs Phasen Models (Phase 1: Einstimmung und Aktivierung; Phase 2: freie Wahl der Arbeit; Phase 3: Durchführung der selbst gewählten Arbeit; Phase 4: Stillephase; Phase 5: Reflexionsphase; Phase 6: Seelenstärkung und Ausklang)
- Benennung von Grundlagen für das Gelingen der „Freien Lernphase“
Teil C: Darstellung des Ausbildungsplan für Lernbegleiter*innen (S. 171 ff.)
- Darstellung der Basics im L³M Lehrgang
- Übertragung didaktischer Grundsätze nach Kratochwil, Berg und Fiederle, Modell der Senior*innen- Didaktik nach Mitterlechner & Dangl-Watko, Bündelung der Erkenntnisse zur Didaktik für Ältere
- Thematisierung gruppendynamischer Phänomene bei älteren Menschen
- Ausführungen zur Relevanz von Beobachtungen und Feedback
Teil D: L³M als nationale und internationale Marke (S. 211 ff.)
- Ein Blick in die Entwicklungsgeschichte: Konzipierung, Erprobung und Evaluierung des Projektes (2008/2009), Kernelemente des Konzeptes: Lern- und Fördermaterialien, 6-Phasen-Modell, Wissenschaftliche Untermauerung (2009/2010), Erweiterung des Schulungskonzeptes um gerontologisches und geragogisches Basiswissen
- Überführung des Lehrgangs in andere Länder (z.B. Polen, Irland…)
- Bisherige Auszeichnungen
- Darlegung angestrebter Entwicklungen und Verortungen in Theorie und Praxis, wie z.B. Entwicklung passgenauer Angebote zwischen gut fundierter Theorie und einer sich an den Bedürfnissen der Älteren orientierten Praxis, lebendige Weiterentwicklung des Konzeptes, Implementierung in den Lehrplan sozialer Fachschulen bzw. in das Angebot von Erwachsenenbildungseinrichtungen
Das Werk schließt mit einem zweiseitigen Glossar, zehn Seiten Literaturangabe und einem ausführlichen Abbildungs- und Tabellenverzeichnis.
Diskussion
Es gelingt der Autorin sehr gut, in die Prinzipien der Montessori-Pädagogik sowie in viele Bausteine der geragogischen Arbeit mit älteren Menschen einzuführen und diese Bereiche miteinander zu verknüpfen. Insgesamt eignet sich das Werk daher insbesondere für Menschen, die Impulse für praktische Verwertungszusammenhänge suchen. An der Montessori-Idee ausgerichtete Lern- und Bildungsimpulse lassen sich z.B. für Gruppenangebote mit älteren, auch dementen Menschen nutzen, in dem die Arbeit an den vorgestellten Prinzipien ausgerichtet wird. Hierbei erscheint gerade die Möglichkeit der Freien Lernphase als ein relevanter Zugang zu Lern- und Bildungssituationen.
Wer auf der Suche nach einer stärker theoretisch ausgerichteten fachwissenschaftlichen Analyse von Kontingenzen und Divergenzen der spezifisch geragogisch & pädagogisch ausgerichteten Arbeit nach Montessori ist, könnte ggf. durch viele Wiederholungen und Praxisbeispiele irritiert sein. Die Aufzählungen zu Vorträgen/Workshops/​Seminaren erscheinen recht umfangreich, hier hätte ggf. ein kleinerer Einblick gereicht. Insgesamt wird eine eher breite als vertiefte Beschreibung der Arbeitsweisen der Montessori-Geragogik vermittelt, die punktuell an geragogische Diskussionen anknüpft.
Eine noch stärkere Ausrichtung und Positionierung zu aktuellen geragogischen Diskursen wäre wünschenswert und gegebenenfalls Anlass für ein weiteres Werk, in dem zum Beispiel noch stärker auch informelle Lernsituationen sowie die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden in den Blick genommen werden könnten.
Fazit
Das vorgelegte Konzept nimmt den alten Menschen in den Mittelpunkt und überträgt die Montessori Pädagogik konsequent auf den Bereich der Geragogik. Das Buch eröffnet den Leser*innen Perspektiven zum Weiterdenken und zur Weiterentwicklung sowohl theoretischer als auch praktischer Perspektiven für die Begleitung von alternden Menschen und liefert somit einen wichtigen, insbesondere didaktischen Baustein. Sowohl für die Montessori-Pädagogik als auch für die geragogische Arbeit mit älteren Menschen kann das Werk als Einführung in die jeweilige Pädagogik/​Geragogik gelesen werden und es wird deutlich, welche Synergie-Effekte sich zwischen beiden Bereichen ergeben und welche Praxiserfahrungen bereits gewonnen werden konnten.
Rezension von
Prof. Dr. Julia Steinfort-Diedenhofen
Professorin für Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Geragogik an der Katholischen Hochschule NRW/Köln, Fachbereich Sozialwesen
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Es gibt 1 Rezension von Julia Steinfort-Diedenhofen.
Zitiervorschlag
Julia Steinfort-Diedenhofen. Rezension vom 09.01.2023 zu:
Christine Mitterlechner: Montessori-Geragogik. Der alternde Mensch im Mittelpunkt. Facultas Verlag
(Wien) 2022.
ISBN 978-3-7089-2249-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29742.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
Urheberrecht
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