Margit Ostertag, Michael Bayer (Hrsg.): Themenzentrierte Interaktion (TZI) im Gespräch
Rezensiert von Dr. theol. Kristina Kieslinger, 05.01.2023

Margit Ostertag, Michael Bayer (Hrsg.): Themenzentrierte Interaktion (TZI) im Gespräch. Gesellschaft mitgestalten. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 198 Seiten. ISBN 978-3-525-46289-8. D: 25,00 EUR, A: 26,00 EUR.
Thema
Das Anliegen der Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI), Ruth C. Cohn, durch ihren Ansatz zu einer menschenwürdigen Gesellschaft und einem solidarischen Miteinander beizutragen, ist Dreh- und Angelpunkt dieser Publikation. Dabei tritt die TZI als Methode und Haltung ein ins Gespräch mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, wie der Pädagogik, Soziologie und Philosophie. Aus diesem Dialog gehen Lösungsperspektiven für einige der aktuellen großen gesellschaftlichen Herausforderungen hervor: Bildung, Antidiskriminierung, Zusammenleben in Gemeinschaft und Klimakrise.
AutorIn oder HerausgeberIn
Margit Ostertag ist Professorin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und TZI-Lehrbeauftragte (RCI international)
Michael Bayer ist Professor für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg
Aufbau und Inhalt
Der Herausgeber*innenband ist, flankiert durch das Vorwort und ein Autor*innenverzeichnis, in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil führt Margit Ostertag die Leser*innen in die TZI als „Theorie und Praxis der Verständigung“ ein.
Im zweiten Teil „Theoretische Grundlagen und Perspektiven“ legen Margit Ostertag und Michael Bayer in drei Artikeln den Grundstein für die wissenschaftliche Erschließung der TZI durch das Gespräch mit bildungstheoretischen Zugängen sowie der Resonanztheorie Harmut Rosas.
Im dritten Teil „Themenzentrierte Interaktion in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen“ nähern sich sechs Autor*innen der Vermittlung von TZI als „praxisorientierte[r] Handlungstheorie“ (7) und unterschiedlichsten gesellschaftlich relevanten Fragestellungen (glebenslanges Lernen, Entfremdung und Resonanz, antidiskriminierender Sprachgebrauch, politisches Handeln, intentionale Gemeinschaften und Konsumkritik).
Teil I: Zur Einführung
In ihrem einleitenden Beitrag „Themenzentrierte Interaktion als Theorie und Praxis der Verständigung. Mit Hoffnung leben in einer konfliktreichen Welt“ stellt Margit Ostertag die These auf, dass TZI „Menschen darin unterstützen [könne, K.K.], Räume für humane Entwicklungsperspektiven zu öffnen und dafür notwendige Transformationsprozesse mitanzustoßen“ (15).
Ausgehend von der in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (1986) vorgelegten Analyse, sieht Ostertag den Menschen damit konfrontiert, die auf der Ebene des Individuums vorhandenen Ambivalenzen und die auf struktureller Ebene unausweichlichen „komplexe[n] Zusammenhänge von globaler sozialer Ungleichheit“ (16) auszuhalten.
Um sich angesichts der enormen Krisen nicht lähmen zu lassen, bedürfe es „werteorientierte[r] Verständigungs- respektive Entscheidungsprozesse“ (17), welche die TZI durch ihre Werteorientierung einerseits und ihr politisches Anliegen andererseits leisten könne. Um das an Verständigung und Humanisierung ausgerichtete Potenzial der TZI auszuweisen, führt Ostertag in die „Grundlagen der TZI“ (18) ein und bringt diese in Verbindung mit den Ansätzen von Carl Rogers, Martin Buber, Hartmut Rosa und Paulo Freire. Sie zeichnet die TZI als Praxis der Verständigung, die vor allem auch in ihrer politischen Dimension zum Vorschein tritt.
Teil II: Theoretische Grundlagen und Perspektiven
In einem zweiten Artikel „Bildungstheoretische Zugänge zur Themenzentrierten Interaktion. Eine Pädagogik der Verständigung“ zeigt Margit Ostertag den Zusammenhang zwischen TZI und Bildungstheorie auf. Mithilfe der Pädagogik der Kommunikation von Klaus Schaller und der Pädagogik der Autonomie von Paulo Freire fundiert Ostertag die TZI als eine „Pädagogik der Verständigung“ (41), indem sie diese auf die anthropologischen und ethischen Prämissen der Themenzentrierten Interaktion bezieht. Ostertag basiert ihre Ausführungen auf der Wahrnehmung, dass die TZI „als Methode in der pädagogischen Praxis weit verbreitet“ sei, „in der pädagogischen Theorie jedoch kaum zur Kenntnis genommen“ (42) werde. Nötig sei deswegen eine „spezifisch bildungstheoretische Fundierung der TZI“ (42).
Nach einem kurzen Abriss der Grundzüge der TZI zeichnet Ostertag einen Begriff von Bildung, der vor allem in seiner „normative[n] Dimension virulent wird, wenn es darum geht, pädagogisches Handeln zu legitimieren, denn es gehe bei „Bildungsprozessen […] immer auch [um] ethische Fragen der Verantwortung und der (Mit-)Menschlichkeit“ (44). Um diese auszuweisen, setzt sie bei den drei Axiomen der TZI an.
Ansatzpunkte für eine wissenschaftliche Durchdringung der Annahme Cohns sieht Ostertag in der Pädagogik der Kommunikation von Klaus Schaller. Diesem phänomenologischen Zugang stellt die Autorin einen zweiten zur Seite: die Gedankengänge Martin Bubers. Der Mensch wird als „dialogisches Wesen“ (49 gefasst und damit die Kommunikation zum Prinzip des Zusammenlebens gemacht.
In dem von den Herausgeber*innen gemeinsam verfassten Artikel „Resonanzräume gestalten mit Themenzentrierter Interaktion“ wird die TZI mit der Resonanztheorie Hartmut Rosas in Dialog gebracht, mit den Anliegen, dass diese „sich gegenseitig inspirieren. So kann Rosas Resonanztheorie die gesellschaftskritische Dimension der TZI soziologisch fundieren, während die TZI ihrerseits zur praktischen Gestaltung von Resonanzräumen beitragen kann“ (59).
Wie schon bei der Pädagogik stellen die Autor*innen fest, dass die TZI in der Soziologie bislang wenig rezipiert ist, obwohl die TZI eine klare politische Dimension aufweist. Die darin enthaltene normative Stoßrichtung der TZI wird mit der Resonanztheorie Rosas in Verbindung gebracht, die ebenfalls ein normatives Anliegen verfolgt. Nach einer prägnanten Darstellung „ausgewählte[r] Elemente der TZI“ (61) wird vor allem auf die Gesellschaftsanalyse Rosas rekurriert.
Eine gemeinsame philosophische Basis findet die TZI mit der Resonanztheorie in der Annahme einer relationalen Ontologie: in der Gleichursprünglichkeit von Autonomie und Interdependenz bzw. dass das Subjekt „immer schon das Ergebnis vorgängiger Beziehungsverhältnisse oder Relationen“ (Rosa, 2016, S. 289; zitiert nach Bayer/​Ostertag, 67) ist. Nähere Verbindungslinien werden dann mithilfe des Vier-Faktoren-Modells und dem für die Resonanztheorie so wichtigen Topos der Unverfügbarkeit gezeichnet. Um diese Gedanken zu konkretisieren, beziehen sich die Autor*innen auf das sogenannte „Resonanzdreieck“ (74), welches von Rosa für den Kontext der Schule entwickelt wurde. Der Mehrwert der Verbindung von TZI und Resonanztheorie für die Schule liege darin, dass das Übergewicht des ES durch die anderen Faktoren dynamisch ausbalanciert werden könne und dadurch Schule „nicht mehr nur als ein Ort der Aneignung von Wissen, sondern wahrhaftig als ein Ort der Bildung“ (76) gestaltet werden könne.
In einem zweiten Aufsatz der Herausgeber*innen werden „Perspektiven der empirischen Bildungsforschung auf die Themenzentrierte Interaktion“ aufgeworfen und kritisch diskutiert. Dafür steht am Beginn des Artikels die Beobachtung, dass die TZI in der „Frage nach der Wirksamkeit“ (82) ihrer didaktisch-methodischen Instrumentarien bislang wenig erforscht sei. Diese Leerstelle versuchen die Autor*innen zu bearbeiten, indem die TZI in den Rahmen der aktuellen Bildungsforschung eingeordnet wird und dabei Chancen und Grenzen aufgezeigt werden. Hierfür wird zuerst der Bildungsbegriff bestimmt, der für die TZI von der Idee der Chairperson aus gedacht wird: „Bildung zeigt sich somit offensichtlich nicht als Merkmal oder Fähigkeit einer Person, sondern vielmehr im Vollzug ihrer Haltung und ihres Handelns in Bezug auf andere und anderes“ (84).
Diese Definition wird konfrontiert mit den Entwicklungen um die Entwicklungen im Bildungsbegriff seit dem „sogenannten PISA-Schock“ (86), dem Aufkommen des Kompetenzbegriffes und dem daraus folgenden größeren Interesse an quantitativer Forschung. Die Konsequenzen sehen die Autor*innen in einem Verständnis, welches Bildung „primär als eine Form der Anpassung an gesellschaftliche Rahmenbedingungen beschreibt“ (88). Kritisiert wird der von der empirischen Bildungsforschung propagierte Anschein eines „wertfreien Bildungsverständnis[ses]“ (88).
Aufgrundlage dieser divergenten Bildungsbegriffe von TZI und empirischer Bildungsforschung loten die Herausgeber*innen Möglichkeiten und Grenzen einer gegenseitigen Befruchtung der beiden Zugänge aus. Sollen Bildungsprozesse in Gruppen nicht nur als Summe der Bildungsprozesse des einzelnen verstanden werden, müsse diese um die Erforschung „nachhaltige[r] Veränderung“ (93) erweitert werden. Forschung müsse, um die Wirkungen der TZI sichtbar zu machen, bei den Beteiligten und deren Prozess ansetzen.
Teil 3: Themenzentrierte Interaktion in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen
Kristina Bergler widmet sich in ihrem Beitrag dem Lebenslangen Lernen und wagt sich an eine „Begründung einer ethischen Erweiterung Lebenslangen Lernens auf Basis der Themenzentrierten Interaktion“. Dabei arbeitet sie sich an einem „einseitig wirtschaftsorientierten“ (101) Verständnis Lebenslangen Lernens ab, um diesen die Dimensionen von „Teilhabe und staatsbürgerlichem Engagement“ (101) gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Dafür zeichnet die Autorin die Entstehung des bildungspolitischen Konzepts des Lebenslangen Lernens nach. Zielsetzung der europäischen Bildungspolitik sei vor allem die „Sicherstellung lebenslanger Beschäftigungsfähigkeit und wirtschaftlichen sowie die Herstellung von Chancengleichheit, Teilhabe und aktivem Staatsbürgertum“ (103-104) (gewesen).
Bergler analysiert, dass durch die Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Bildungsprozessen die zweite Zielsetzung zugunsten wirtschaftlicher Interessen immer mehr in den Hintergrund geraten sei. Demgegenüber möchte sie „das Konzept des Lebenslangen Lernens zusätzlich als Vergesellschaftungsstrategie […], die auf Selbstführungstechniken zurückgreift“ (106) verstehen. Um die Dimensionen der Teilhabe und staatsbürgerschaftlichem Engagement im Konzept Lebenslanges Lernen zu stärken, greift Bergler auf die Themenzentrierte Interaktion zurück, welche aufgrund ihres Lernverständnisses und ihrer Wertebasis ganzheitliche Bildungsprozesse ermögliche. Den gewichtigsten Anstoß liefere hier die Annahme der Interdependenz aller Menschen, bei der es um die gemeinsame Arbeit an einer humaneren Welt gehe. Somit erweiterte die TZI das Lebenslange Lernen zu einem Konzept „lebenslanger Bildung“ (113).
Andrea Nickel-Schwäbisch sondiert „[d]ie Themenzentrierte Interkation im Gespräch mit der anthropologischen Grundlegung Martin Bubers“ und möchte damit „Impulse für eine von Entfremdung und Resonanzarmut geprägte Zeit“ (117) liefern. Ausgehend von der Analyse Erich Fromms, dass der heutige Mensch in einer Zeit der Begegnungsarmut lebe, greift die Autorin auf die Dialogphilosophie Martin Bubers zurück und bringt seine Gedanken mit denen von Ruth C. Cohn in Verbindung, um der eben beschriebenen Entwicklung Beziehung und Resonanzerfahrung entgegenzusetzen. Dafür skizziert Nickel-Schwäbisch in einem ersten Schritt die anthropologischen Gedankengänge Bubers und hebt dabei vor allem auf die Gegenüberstellung von „Ich-Es-Relation“(120) und „Ich-Du-Relation“ (120) ab. In letzterer ereigne sich wahre Begegnung, in ihr erkannt wird: „Alles ist miteinander verbunden“ (121).
Die Autorin bringt die Wahrnehmungen Bubers zur Gefährdung des Menschen durch ein technokratisches Weltverhältnis in Verbindung mit Harmut Rosas These des Resonanzverlustes in der späten Moderne. Es werden weitere Parallelen zwischen den beiden Denkern aufgezeigt, bevor schließlich deren Gedanken mit grundlegenden Topoi der TZI ins Gespräch gebracht werden. Durch die in den Axiomen beschriebenen Werten könne „ein Resonanzraum im Buber’schen Sinne“ (129) entstehen. Die TZI führe zu einer „Einhegung von Entfremdungserfahrungen“ (126) und so der späten Moderne zu der von ihr vermissten Lebendigkeit verhelfe.
Ina von Seckendorff widmet sich in ihrem Beitrag „‚Ich sehe was, was Du nicht siehst!‘“ der Verbindung von antidiskriminierendem Sprachgebrauch und Themenzentrierter Interaktion. Dafür stellt die Autorin die These auf, dass ein antidiskriminierender Sprachgebrauch das Anliegen Cohns der Humanisierung der Gesellschaft unterstützen könne, indem dieser zur Sichtbarkeit von Menschen beitrage. Das Wahrgenommen-Werden von Vielfalt sei ein erster Schritt in Richtung „gesellschaftlich gerechterer Strukturen“ (133). Im Rückgriff auf verschiedene Sprachphilosophien verdeutlicht sie den Einfluss von Sprache nicht nur auf das Denken, sondern auch auf das Handeln von Menschen. Davon ausgehend schlägt die Autorin über die drei Axiome die Brücke zur TZI. Die darin vertretenen Werte würden zur Verständigung beitragen, indem alle Menschen Gehör finden würden. Dem Sichtbar-Machen wird dann als nächster Schritt das Anteilnehmen empfohlen: „Dieses Anteilnehmen können wir durch die Abschaffung diskriminierender Sprachstrukturen zeigen“ (148).
Uwe Kranenpohl wirft in seinem Beitrag die Frage nach der „politischen Wirksamkeit“ der Themenzentrierten Interaktion auf. Um einer Antwort auf die Spur zu kommen, klärt Kranenpohl in einem ersten Schritt in Auseinandersetzung mit Manfred Krämer und Walter Zitterbart sein eigenes Politikverständnis in der Annahme „einer genuin politischen Sphäre (bzw. eines Subsystems)“ (155).
Daher betrachte er die TZI „nicht als genuin politisch“ (156), sie könne aber zum Gelingen einer pluralistischen Demokratie beitragen. Denn diese verlange die Zumutung durch der Andersheit des Anderen zu ertragen und sich in Toleranz zu üben. Dies setze ein „Ethos“ (158) voraus, das nicht als selbstverständlich angenommen werden könne. Kranenpohl fragt, ob es nicht wichtiger sei, „als das demokratische Ethos zu begründen, dieses zu entwickeln, einzuüben und zu trainieren“ (158). An dieser Stelle setze die TZI ein, denn sie fördere Haltungen und Kompetenzen, welche für das Training eben dieses demokratieförderlichen Ethos notwendig seien. Kranenpohl resümiert, dass die TZI vor allem durch die ihr „innewohnende Möglichkeit zur Selbstreflexivität“ (162) Politiker*innen auf der persönlichen Ebene bereichern als auch Führung in politischen Entscheidungsprozessen unterstützen könne.
Julia Raab greift in ihrem Artikel die Thematik intentionaler Gemeinschaften auf und schafft durch die Begriffe der Bewusstheit und Verantwortlichkeit „Eine Verknüpfung von Theorie und Praxis intentionaler Gemeinschaften mit der TZI“ (165). Es gehe um das bewusste Leben gemeinsamer Werte, wobei vor allem Nachhaltigkeit, Kommunikation, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Solidarität eine zentrale Rolle spielten. Bezüge zwischen intentionale Gemeinschaften und der TZI ließen sich sowohl „auf der Ebene von Zielen und Werten als auch in der methodischen Gestaltung des Alltags“ (168) herstellen. Raab hebt für ersteres vor allem die analytische Kraft der TZI für Dynamiken und Prozesse in der Gruppe hervor, für die methodische Ebene sei der Beitrag der TZI zur Persönlichkeitsentwicklung, gelingender Kommunikation und der Entscheidungsfindung in Gemeinschaften entscheidend. Alle drei Punkte könnten durch die Integration verschiedener Methoden unterstützt werden. In Zusammenschau könne TZI in intentionalen Gemeinschaften „zu einem konstruktiven Beziehungsgeschehen und zur Krisenbewältigung“ (175) beitragen.
Leopold Wanninger versucht in seinem Artikel „Störung Konsum?“ einen Weg aufzuzeigen, um „[m]it Themenzentrierter Interaktion vom kritischen Konsum zum lebensdienlichen Wirtschaften“ (179) zu kommen. Im Rückgriff auf die Theorie der Postwachstumsökonomie von Niko Paech zeichnet er ein konsumkritisches Bild, welches die Problematik jedoch nicht individualisiert, sondern damit vielmehr die strukturellen Voraussetzungen des Konsums in dem Blick nimmt. Dem Primat des Wachstums stellt er eine auf das Gemeinwohl abzielende und durch die integrative Wirtschaftsethik fundierte Denkweise gegenüber. Das Vier-Faktoren-Modell der TZI dient ihm dabei als Analyseinstrument und die Resonanztheorier Harmut Rosas als materialer Bezugspunkt, um Konsum sowohl auf einer individuellen, aber auch strukturellen Ebene neu zu denken.
Diskussion
Aufgrund der Vielzahl an Themen, Zugängen und Theorien, auf welche sich die unterschiedlichen Beiträge beziehen, fällt es schwer, einen Ansatz zu finden, welcher eine systematische Bewertung der Publikation als Ganzer zulässt. Was sich allerdings durch die gesamte Publikation hindurchzieht, ist die normative Ausrichtung – sei es durch die gewählten Theorien, sei es durch die in der TZI selbst angelegte normative Stoßrichtung. Mit normativ meine ich – im Gegensatz zu einer rein deskriptiven Analyse eines Ist-Zustandes – das Aufzeigen einer Vision, gewissermaßen das argumentative Darlegen eines Soll-Zustandes. Durch die Rückbindung des humanistischen Anliegens an wissenschaftliche Theorien wird die Gefahr der reinen Paränese abgewehrt und das Anliegen der Schaffung einer humaneren Gesellschaft auch theoretisch-wissenschaftlich eingefangen – der starke und wiederkehrende Bezug zur Resonanz-Theorie Hartmut Rosas ist hierfür wohl der deutlichste Beleg. Natürlich ließe sich dieser normative Zugang anfragen und darüber diskutieren, was nun Aufgabe von Wissenschaft und konkret der Soziologie sei, ob sie sich nicht doch besser auf die reine Deskription und Analyse beschränken soll, wie dies in der Diskussion zwischen Andreas Reckwitz und Harmut Rosa geschehen ist (vgl. Reckwitz, Andreas/Rosa, Hartmut, Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin: Suhrkamp Verlag 2021). Das Anliegen des Buches wird sich meines Erachtens eher daran messen lassen müssen, inwieweit es gelingt, in einer pluralen Gesellschaft, die Themenzentriete Interaktion tatsächlich – auf wissenschaftlicher Basis – als Theorie und Praxis der Verständigung wirksam werden zu lassen.
In diesem Zusammenhang liegt eine Stärke der Publikation – mit meiner ethischen Brille gelesen – darin, eine Brücke zu schlagen zwischen Individuum und Gesellschaft und wirkt so zwei Tendenzen entgegen, welche zur Vereinseitigung neigen: Einerseits, der Trend zur Individualisierung gerade in ethischen Belangen und damit die Verantwortung und Entscheidungslast auf die einzelne Person zu legen. Andererseits die Tendenz des Individuums, Verantwortung mit Verweis auf die Verantwortung der Gesellschaft/der Politik von sich zu weisen.
Die vorliegende Publikation stellt nicht nur einen Brückenschlag zwischen aus wissenschaftlicher und praktischer Perspektive an gesellschaftlichen Themen interessierten Personen dar, sondern auch, sondern auch zwischen jenen, die mit TZI vertraut sind und jenen, die damit noch nicht in Berührung gekommen sind. Für ‚TZIler*innen‘ bietet die Publikation unterschiedliche Anregungen, Methode und Haltung der TZI nicht nur im pädagogischen Umfeld zur Anwendung zu bringen. Für TZI- Interessierte eröffnen vor allem die Artikel von Ostertag und Bayer/​Ostertag einen systematischen und gut verständlichen Zugang, der in den Beiträgen unter „3 Themenzentrierte Interaktion in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen“ konkretisiert wird.
Fazit
Die vorliegende Publikation bringt die Themenzentrierte Interaktion als praxisorientierte Handlungstheorie ins Gespräch mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen aus Pädagogik, Philosophie und Soziologie. Damit leistet sie sowohl der praktischen als auch der theoretischen Perspektive einen Dienst, da die TZI zum einen eine stärkere theoretische Fundierung erhält, die theoretischen Ansätze zum anderen eine Perspektive für ihre praktische Umsetzung erhalten. Das in allen Artikeln durchscheinende Anliegen des Theorie-Praxis-Transfers ist gelungen und es bleibt zu hoffen, dass auf der dargelegten Grundlage, weitere Vertiefung möglich ist.
Rezension von
Dr. theol. Kristina Kieslinger
Inhaberin der Guardini-Professur für Ethik an der Katholischen Hochschule Mainz
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Kristina Kieslinger.
Zitiervorschlag
Kristina Kieslinger. Rezension vom 05.01.2023 zu:
Margit Ostertag, Michael Bayer (Hrsg.): Themenzentrierte Interaktion (TZI) im Gespräch. Gesellschaft mitgestalten. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2022.
ISBN 978-3-525-46289-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29744.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.