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Susanne Leutner, Elfie Cronauer: Traumatherapie-Kompass

Rezensiert von Prof. Dr. Lilo Schmitz, 13.03.2023

Cover Susanne Leutner, Elfie Cronauer: Traumatherapie-Kompass ISBN 978-3-525-45332-2

Susanne Leutner, Elfie Cronauer: Traumatherapie-Kompass. Begegnung, Prozess und Selbstentwicklung in der Therapie mit Persönlichkeitsanteilen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 405 Seiten. ISBN 978-3-525-45332-2. D: 40,00 EUR, A: 42,00 EUR.

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Thema

Susanne Leutner und Elfi Cronauer beschreiben in diesem Band ausführlich ihren differenzierten Ansatz für die Arbeit mit Menschen, die komplex traumatisiert sind. Ihr Ansatz ist schulenübergreifend und kombiniert die Erkenntnisse der klassischen Traumatherapie und Ego-State-Arbeit mit körperorientierten Verfahren und EMDR. Der umfangreiche Band stellt nach den theoretischen Grundlagen aufeinander aufbauende therapeutische Schritte und passende Interventionen vor.

Autorinnen

Susanne Leutner ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und arbeitet mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen.

Elfi Cronauer ist ebenfalls als psychotherapeutische Psychologin in freier Praxis tätig und arbeitet mit erwachsenen Klient*innen.

Beide Autorinnen sind auch als Supervisorinnen und in Fort- und Weiterbildung tätig. Beide leiten gemeinsam das Ego-State-Therapie-Institut Rheinland in Bonn.

Aufbau

Das Buch ist in 3 große Teile aufgeteilt: A behandelt die (theoretischen) Grundlagen der therapeutischen Arbeit, während Teil B das Prozessmodell der Autorinnen in der Praxis behandelt und Teil C ausgewählte Übungen und hilfreiche Interventionen vorstellt.

Inhalt

Im Großkapitel A stellen die Autorinnen Grundlagen zu Trauma und Traumatherapie vor. Sie folgen dabei einer Traumadefinition, die 1999 von Fischer und Riedesser entwickelt wurde: „… ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ Wenn in einer bedrohlichen Situation Kampf oder Flucht nicht möglich ist, sondern die Person erstarrt/sich totstellt, kann dies Erholung unmöglich machen und für lange Zeit ihr Leben überschatten und erschweren.

Als ersten Schritt in der Therapie folgen die Autorinnen dem Ansatz von Reddemann und anderen Klassikern der Traumatherapie: „Safety First“ – Sicherheit und Zugang zu den Ressourcen ist und bleibt die Basis der traumatherapeutischen Arbeit, von der aus erst ein Zugang zum Trauma, zu Bewältigung, Lösung und Integration gelingen kann.

Jede betroffene Person verfügt neben Traumareaktion und -folgen immer auch über Ressourcen und Stärken, die gefunden und stabilisiert werden wollen, um die Person zu halten. Das bedeutet für die traumatherapeutische Phasenarbeit, wie sie heute Standard ist:

  1. Der Zugang zu Ressourcen muss jederzeit möglich sein.
  2. Es muss Filtertechniken für belastendes Material geben.
  3. Die Klient*in muss ihren Stress wahrnehmen und regulieren können.

Eine weitere Voraussetzung für eine gelingende Traumatherapie sind sichere Bindungen, die u.a. die Therapeut*in in der therapeutischen Beziehung anbietet. Berücksichtigt man die Erkenntnisse der Bindungstheorie, ist nachvollziehbar, wieso die Klient*innen ganz unterschiedlich lange für den Aufbau einer tragfähigen Beziehung und den nächsten Schritt in der Therapie brauchen. Manchmal ist gerade Bindung biografisch mit Gefahr assoziiert, sodass hier zunächst Kooperation an die Stelle der Bindung tritt. Kooperation kommt (zum Beispiel bei Misshandlung durch primäre Bezugspersonen) in diesem Fall vor Bindung, da gerade Bindungsangebote und -erlebnisse zu schnell traumatische Anteile wiederbeleben können.

Einen weiteren Schwerpunkt im Großkapitel A stellt die Dissoziation dar. Hier ist Theorie und Praxis der Ego-State-Therapie für die Autor*innen besonders hilfreich, weil die Ego-State-Theorie davon ausgeht, dass neben dissoziierenden auch ressourcenvolle und realitätsbezogene hilfreiche Ego-States existieren. Die Autorinnen skizzieren ausführlich die Geschichte und Entwicklung dieses Ansatzes, der sich besonders in der Traumabehandlung bewährt hat. Als Ego-States werden in der Ego-State-Therapie unterschiedlichster Richtungen Persönlichkeitsanteile bezeichnet, die biografisch zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, jeweils deutliche eigenen Charakteristika haben und miteinander und auch gegeneinander agieren, meist um „ihren“ Menschen zu schützen und zu unterstützen. Es werden Begriffe, Strategien und Interventionen vorgestellt, die die traumatherapeutische Arbeit der Autorinnen leiten. Bezogen auf Trauma gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen. Ziel für Leutner und Cronauer ist stets die Integration, Kooperation und die Ko-Bewusstheit der einzelnen Ego-States, was schließlich in eine Integration in die Gesamtpersönlichkeit münden kann.

Im Anschluss beschreiben die Autorinnen, wie sie Grundlagen und Techniken des EMDR und weitere systemische Ansätze in der Traumatherapie einsetzen. Hier bieten ihnen vor allem die mitgefühlsbasierte Traumatherapie Luise Reddemanns und hypnosystemische Ansätze wertvolle Orientierungen.

Ausführlich beschäftigen sich die Autorinnen mit dem therapeutischen Prozess und der therapeutischen Beziehung. Die Autorinnen stellen aus Forschungs- und persönlicher Sicht die Wirkfaktoren vor, die zu einer erfolgreichen Psychotherapie beitragen, wobei dem Zutrauen von Therapeut*innen jeweils zu sich selbst und zum Gegenüber eine wichtige Rolle zukommt. Neben den Grundhaltungen nach Rogers ist es vor allem das Zutrauen in die Fähigkeiten und Ressourcen der Klient*innen, das hilfreich und wirksam ist, was auch die Psychotherapieforschung bestätigt. Weiterhin hilfreich ist die Resonanz, die Beziehung, die sich im Therapieraum entwickelt sowie das „implizite Wissen“, die Intuition und Erfahrung, die aus der rechten Gehirnhälfte entsteht und die Therapie in gute Bahnen führen kann. Die Autorinnen regen an, hier ohne Hast dem eigenen Erleben und dem Körpererleben sowie der Entwicklung guter Trancezustände Raum zu geben.

Ausführlich und mit zahlreichen Abbildungen stellen Leutner und Cronauer ihr Prozessmodell dar. Die Therapeutin muss genau abwägen, wie sie den Umgang mit Ressourcen und Belastung und deren Integration in verschiedenen Phasen der Klient*in gestaltet. Je nach Stadium, in dem sich die Klient*in befindet, empfehlen die Autorinnen nacheinander Ressourcenaktivierung, leichten Kontakt zur Belastung und Pendeln und erst in stabiler Position eine Traumakonfrontation und -integration.

Insgesamt räumen die Autor*innen der Selbstreflexion und Selbsterfahrung der Therapeut*in einen großen Stellenwert ein. Im Sinne einer Koevolution baut eine gute Traumatherapie auf die Entwicklung und Selbstentwicklung von Klient*in und Therapeut*in. Die Therapeut*in ist die Entwicklungshelferin der Klient*in, umgekehrt die Klient*in die Entwicklungshelfer*in der Therapeutin. Beide suchen gemeinsam nach der Zone der nächsten Entwicklung sowohl der Klient*in, aber auch der Therapeut*in, die sorgfältig reflektiert, welche Emotionen, Ängste und Impulse die jeweilige Sitzung in ihr auslöst.

Traumatherapie ist für Leutner und Cronauer die Kunst, Respekt und Würdigung des Leids zusammenzubringen mit der Würdigung von Stärke, Überleben und Ressourcen. Das Prozessmodell leitet sie dabei, die Eckpunkte

  • Problem
  • Beziehung
  • Zone des aktuellen Könnens
  • Zone der nächsten Entwicklung 

in einer förderlichen Weise zusammenzubringen.

Teil B des Buches stellt das schrittweise Vorgehen in der Therapie vor.

Nach der Ich-Stärkung kann der Kontakt zu ressourcenvollen Anteilen, danach auch zu verletzten Anteilen hergestellt werden und die Teile durch Pendeln in Kontakt gebracht werden. Immer wieder wird in diesem Kapitel auf den rechten Zeitpunkt als Maß der Angemessenheit der Therapie geschaut. Verfügt die Klientin über ein Core-Ich, das die einzelnen Ego-States betrachten kann oder muss sie dies erst aufbauen? Ist ihr bereits eine hilfreiche Altersregression (Kontakt mit verschiedenen Altersstufen der Vergangenheit) oder gar eine Altersprogression (Kontakt mit zukünftigen Altersstufen) zuzumuten?

Im Buchteil B schildern die Autorinnen ihre spezielle Verbindung von Ego-State-Arbeit und EMDR, die sie praktizieren. Auch die Integration körperpsychotherapeutischer Arbeit und die Integration anderer nicht sprachlicher Anteile finden hier ihren Platz.

Im Teil C stellen die Autorinnen dann ausgewählte Übungen vor, die den trauma-therapeutischen Prozess in bestimmten Phasen der Behandlung leiten oder begleiten können.

Dabei sind die Übungen und Interventionen nach folgenden Gesichtspunkten aufgeteilt:

  • Übungen 1: Ressourcen (Wahrnehmen, Identifizieren und der Kontaktaufnahme mit ressourcenvollen Ego-States)
  • Übungen 2: Kontakt von Ressourcen zu Belastung und Pendeln (Wahrnehmen, Identifizieren und der Kontaktaufnahme mit verletzten Ego-States)
  • Übungen 3: Traumakonfrontation
  • Übungen 4 und 5: Dissoziative Symptomatiken und Dissoziation strukturell betrachtet (für die situationsbezogene und integrative Arbeit mit traumatisierten Ego-States)
  • Übungen 6: Integration und Innere Kooperation
  • Übungen 7: Verbindung von EMDR und Ego-States
  • Übungen 8: Körpersprache der Ego-States
  • Übungen 9: Situation und Prozess der Therapeutin
  • Übungen 10: weitere Möglichkeiten

Farbige Kennzeichnungen erleichtern die Auswahl und Zuordnung der einzelnen Übungen zu Phasen des therapeutischen Prozesses.

Bei jeder einzelnen Übung nennen die Autorinnen in einer großen Übersichtstafel:

Dauer und Setting (Einzel-/​Gruppe), Zweck der Übung, allgemeine Voraussetzungen, Voraussetzungen bezogen auf äußere und innere Sicherheit, innere Ressourcen, notwendiges Maß der Orientierung in der Gegenwart, Belastungsfähigkeit der Klientin und Hinweise zur Vorsicht bei den einzelnen Übungen.

Diskussion

Die erfahrenen Therapeutinnen und Ausbilderinnen Susanne Leutner und Elfie Cronauer führen mit diesem über 400 Seiten starken Band in Grundlagen, Prozesse und konkrete Umsetzung ihrer speziellen Traumatherapie ein, die die klassische Traumatherapie mit Ego-State-Therapie, EMDR und körperorientierten Verfahren verbindet.

Der ausgebildeten Leserin wird es leichtfallen, für sich und ihre therapeutische Praxis geeignete Aspekte und Übungen zu finden. Die in vielen Facetten behandelte Selbsterfahrung und Selbstentwicklung in der Therapie stellen dabei einen förderlichen und herausfordernden Schwerpunkt dar.

Fazit

Ein gelungenes Buch, zu empfehlen vor allem für Leser*innen mit traumatherapeutischer/​EMDR-Vorbildung oder als Ausbildungsbegleitung.

Rezension von
Prof. Dr. Lilo Schmitz
Hochschule Düsseldorf (Ruhestand) und ILBB - Institut für Beratung Brühl
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Es gibt 131 Rezensionen von Lilo Schmitz.

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Zitiervorschlag
Lilo Schmitz. Rezension vom 13.03.2023 zu: Susanne Leutner, Elfie Cronauer: Traumatherapie-Kompass. Begegnung, Prozess und Selbstentwicklung in der Therapie mit Persönlichkeitsanteilen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. ISBN 978-3-525-45332-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29748.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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