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Ulrich Deinet, Benedikt Sturzenhecker et al. (Hrsg.): Neustart?

Rezensiert von Maria Wolf, 13.04.2023

Cover Ulrich Deinet, Benedikt Sturzenhecker et al. (Hrsg.): Neustart? ISBN 978-3-7799-7041-5

Ulrich Deinet, Benedikt Sturzenhecker, Maria Icking (Hrsg.): Neustart? Offene Kinder- und Jugendarbeit über Corona hinaus gestalten. Empirische Erkenntnisse und neue Konzepte. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 280 Seiten. ISBN 978-3-7799-7041-5. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Im Corona-Lockdown ab Mitte März 2020 wurden die Einrichtungen Offener Kinder- und Jugendarbeit flächendeckend geschlossen, was zur Suche nach Bewältigungsstrategien im Handlungsfeld führte, die durchaus innovativen Charakter hatten. Nach der Schließungsphase musste abgewogen werden, welche Strategien beibehalten und ausgebaut werden und wie gleichzeitig unter Beibehaltung des Charakters der Offenheit und Freiwilligkeit neue Zielgruppen für die Einrichtungen erschlossen werden können.

HerausgeberInnen

Ulrich Deinet war bis 2021 Professor an der Hochschule Düsseldorf und ist Co-Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung (FSPE) an der Hochschule Düsseldorf. Benedikt Sturzenhecker ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Maria Icking ist freiberuflich wissenschaftlich tätig und Mitarbeiterin an der FSPE.

Entstehungshintergrund

Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um die Ergebnisdarstellung der Studie der HerausgeberInnen „Neustart der OKJA in NRW in der Corona-Zeit“, die von Anfang Juni 2020 bis Ende Dezember 2021 das Handeln von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beobachtete. Ergänzt werden die Aussagen durch die Erkenntnisse der Studie „Forschungstransferprojekt zu aktuellen Herausforderungen und Perspektiven der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg“ durch Gunda Voigts, einer Umfrage bei den kommunalen Jugendreferaten Baden-Württembergs 2021 und Erkenntnissen aus Österreich, der Schweiz und Südtirol.

Aufbau

Die Veröffentlichung gliedert sich in zwei Teile. Teil I stellt in den Kapiteln 1 bis 6 die Studie „Neustart der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Coronazeit in NRW“ vor. Teil II bietet in den Kapiteln 7 und 11 eine Ergänzung durch Ergebnisse empirischer Studien zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Coronazeiten aus dem deutschsprachigen Raum.

Inhalt

Teil I beleuchtet nach einer kurzen Vorstellung des Forschungsdesigns in den unterschiedlichen Kapiteln Teilergebnisse der Neustartstudie.

So präsentieren Anton Bromberg, Hannah Radau und Benedikt Sturzenhecker die Ergebnisse aus 10 qualitativen Leitfadeninterviews vom Dezember 2020 zur Umsetzung der Arbeitsprinzipien digitale Kommunikation, Partizipation und Selbstorganisation in der OKJA. Der Interpretationshintergrund bewegt sich dabei zwischen den Polen „schnelle, konstruktive, fachliche Antworten“ und „passive Regelbefolgung“ als Reaktion auf die sich schlagartig verändernde Arbeitssituationen durch die Corona-Pandemie. Die Diskussion der Ergebnisse bietet Hinweise für eine (an „Nach-Coronazeiten“) anschlussfähige Nutzung der sich aufzeigenden Potenziale.

Maria Icking, Ulrich Deinet und Bendedikt Sturzenhecker stellen im 3. Kapitel die Ergebnisse einer nordrhein-westfalenweiten quantitativen Onlinebefragung von Einrichtungen im Frühsommer 2021 vor, deren Ziel es war, die in der ersten qualitativen Erhebungsphase getroffenen Aussagen auf eine breitere Basis zu stellen. Dabei geben sich Settings gelingender Jugendarbeit unter Pandemiebedingungen zu erkennen.

Kapitel 4 von Heike Gumz beinhaltet die kommunikative Validierung aller Studienteile durch zwei Gruppendiskussionen vom Dezember 2021 und stellt damit die in einem kooperativen Prozess von Praxis und Theorie gewonnenen Neuinterpretationen des Gesamtergebnisses dar.

Ulrich Deinet und Christian Reutlinger stellen darauffolgend Raumfiguren junger Menschen vor, die sich in der Pandemie entwickelt haben und von der Offener Kinder- und Jugendarbeit einen neuen Umgang mit digitalen und öffentlichen Räumen fordern.

Kapitel 6 von Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker bietet aufgrundlage der empirischen Ergebnisse und konzeptionellen Auswertung Reflexions- und Arbeitshilfen für die Praxis, um eine Weiterentwicklung und Nutzung der Erfahrungen aus der Pandemie zu betreiben.

Die ergänzenden Studien in Teil II werden durch Gunda Voigts Zusamenfassung ihrer Untersuchung der einrichtungsbezogenen Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg zu den Auswirkungen der Coronapandemie in und nach dem Lockdown eingeleitet.

Peter Komhard, Maria Safroshkina und Brigitte Seiz richten in Kapitel 8 das Augenmerk in einer Befragung der Jugendreferate aus dem Jahr 2021 auf die pandemiebedingte Arbeit der OKJA in Baden-Württemberg.

Die Kapitel 9 – 11 bieten eine Darstellung des Pandemiegeschehens und den sich daraus ergebenden Herausforderungen und Anschlussaufgaben für die Offene Kinder- und Jugendarbeit aus Sicht ihrer jeweiligen Dachverbände in Österreich, Süd-Tirol und der Schweiz.

Diskussion

Die Veröffentlichung folgt einer positiven Einstellung gegenüber den durch Corona ausgelösten Umbrüche. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch eine Kritik an einer nostalgischen und reaktionären Praxis, die Potenziale nicht angemessen nutzt, insbesondere dort, wo eine Problem- und Bewältigungsorientierung vorliegt, die den im § 11 SGB VIII formulierten gesetzlichen Anspruch der Jugendarbeit zumindest marginalisiert (S. 111). Die sich daraus ergebende Konsequenz, ist eine verstärkte Anstrengung im Ausbau jugendarbeitsbezogener Fachlichkeit, da sich zeigt, dass nur dort, wo bereits fachliche Standards auf hohem Niveau umgesetzt wurden, diese flexibel an die ungewohnte Situation angepasst werden konnten. Am Beispiel Partizipation wird das augenfällig: Wird sie nicht allein als Selbstorganisation, sondern auch als Förderung kommunalpolitischen Handelns junger Menschen verstanden, kann Jugendarbeit auch unter widrigen Bedingungen gelingen.

Eines der Themen, was in den zusammengestellten Studien und Perspektiven zu recht breiten Raum erfährt, ist die Entgrenzung der Kinder- und Jugendarbeit. In der Zusammenschau stellt sich allerdings die Frage, ob Fachkräfte Veränderungen des Handlungsfelds nicht zu Unrecht als Entgrenzung wahrnehmen? So wird hinausreichende Arbeit in der Neustartstudie, gestützt auf schon lange erhobene Forderungen sozialräumlicher Jugendarbeit bzw. eine Ausweitung hinausreichender Ansätze, einerseits als Notwendigkeit gesehen, andererseits wird diese in der Hamburger Studie von Fachkräften als Entgrenzung abgelehnt. Besteht Krafelds These (2004), die Mitarbeiter_innen der einrichtungsbezogenen Jugendarbeit seien zu bequem, um sich aus dem gewohnten Setting zu bewegen, nach wie vor oder fehlt ein klares Bewusstsein, was der Kern von Jugendarbeit ist, um die Angebote an den Lebenswelten und -bedingungen der Zielgruppen auszurichten? Das sei dahingestellt. Beide Seiten fordern einen konsequenten ressourcenorientierten Blick: Wenn Jugendarbeit sich aufgrund von krisenbedingtem Versagens von Unterstützungssystemen auf die Befriedigung scheinbar wichtiger Bedürfnisse der Problembehandlung einlässt und dabei das eigene Profil vernachlässigt, dann wird auch von der OKJA eine Rangfolge bedient, bei der die Förderung der Entwicklung eigenständiger und gemeinschaftsfähiger Persönlichkeiten hintenüberfällt. Obwohl damit doch eigentlich die Grundlage zur Bewältigung von (individuellen) Krisen geschaffen wäre.

Insbesondere die (deutschsprachig) internationale Perspektive lässt sichtbar werden, dass die staatlichen Reaktionen auf die Coronapandemie im Sinne einer Bestandsanalyse zu einem Brennglas für die Situation der Kinder- und Jugendarbeit wurde: Fachliche Standards wurden nur teilweise eingelöst, der Anschluss an die aktuellen Lebenswelten junger Menschen nur zögerlich gesucht und eine Entgrenzung der Jugendarbeit hat schleichenden Einzug in die Praxis gehalten. So gesehen darf auch dankbar auf die Pandemie geblickt werden: Es ist sichtbar geworden, dass ein „Weiter wie vorher!“ nicht möglich ist, will die Offene Kinder- und Jugendarbeit nicht in andere Rechtskreise abwandern und sich damit selber abschaffen.

Die in der Veröffentlichung angesprochenen Entwicklungsperspektiven und Handlungshinweise bleiben eng an den vorgestellten Forschungsergebnissen. Dabei bringt es Heike Gumz auf den Punkt, indem sie fragt, „auf welche Weise wichtige Strukturprinzipien krisenresistenter werden können“ (S. 180). Weiterentwicklung ist über die sich herauskristallisierenden Problemkreisen nötig. Deinet und Sturzenhecker sprechen daher von weitreichenden Sozialraumanalysen, die dafür die Basis bilden müssen (S. 199). Eventuell lassen sich dann die nur angedeuteten Anschlussfragen bearbeiten: Was sagen die Adressat_innen? Wie kann OKJA inklusiv handeln? Welche Zukunft hat nichtmediale Jugendarbeit?

Fazit

Kinder- und Jugendarbeit hat sich durch die Coronapandemie verändert. Jetzt ist die Frage, wie damit konstruktiv umgegangen wird. Die vorgestellte Studie bietet Impulse zum Weiterdenken, indem sie den Finger auf die Wunde legt und Fachkräften Anregungen an die Hand gibt, die Chancen des Pandemiegeschehens zu nutzen.

Literatur

Krafeld, Franz Josef (2004): Grundlagen und Methoden aufsuchender Jugendarbeit. Wiesbaden.

Rezension von
Maria Wolf
MA Soziale Arbeit
Lehrkraft für besondere Aufgaben, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Es gibt 18 Rezensionen von Maria Wolf.

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Zitiervorschlag
Maria Wolf. Rezension vom 13.04.2023 zu: Ulrich Deinet, Benedikt Sturzenhecker, Maria Icking (Hrsg.): Neustart? Offene Kinder- und Jugendarbeit über Corona hinaus gestalten. Empirische Erkenntnisse und neue Konzepte. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-7041-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29756.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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