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Hans-Jürgen Bieling, Carla Coburger et al.: Kapitalismusanalysen

Rezensiert von Johannes Schillo, 26.09.2022

Cover Hans-Jürgen Bieling, Carla Coburger et al.: Kapitalismusanalysen ISBN 978-3-8252-5719-4

Hans-Jürgen Bieling, Carla Coburger, Patrick Klösel: Kapitalismusanalysen. Klassische und neue Konzeptionen der politischen Ökonomie. UTB (Stuttgart) 2021. 351 Seiten. ISBN 978-3-8252-5719-4. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 32,50 sFr.
Reihe: UTB - 5719. Politikwissenschaft.

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Thema

Das Buch hat eine doppelten Gegenstand: die ökonomische Realität namens „Kapitalismus“ und die darauf bezogenen Theorien der politischen Ökonomie seit der Auflösung der Feudalordnung in Europa.

Autor/​innen

Bieling, Autor von „Internationale Politische Ökonomie“ (2011), ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Tübingen, Coburger wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bayreuth und Klösel studentische Hilfskraft an der Universität München.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist im Kontext von Lehr- und Diskussionsveranstaltungen zu den „Klassikern des politökonomische Denkens“ an der Universität Tübingen und in Verbindung mit der internationalen Initiative „Rethinking Economics“ entstanden.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation versteht sich als Beitrag zum Aufschwung politökonomischen Denkens seit den „multiplen Krisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ (S. 9), wobei nicht nur die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007ff gemeint ist, sondern auch die wachsende Herausforderung der politischen Systeme durch das pandemische Geschehen, den Klimawandel oder den Rechtstrend. Da in den Wirtschaftswissenschaften das neoklassische Paradigma hegemonial sei, würden diese Problemdimensionen oft übersehen. Das Buch will somit auf eine „Doppelkrise“ reagieren: „zum einen die Krise der kapitalistischen Ökonomie, nicht zuletzt in Europa; und zum anderen die Krise – oder zumindest Erschütterung – des vorherrschenden, neoklassisch oder marktliberal verengten, ökonomischen Denkens.“ (S. 10)

Die Bestandsaufnahme, die das Buch von den Klassikern (Merkantilismus, Smith, Ricardo, Marx) bis zu neueren Ansätzen aus feministischer, ökologischer oder „intersektionaler“ Perspektive liefert, hat einen explizit interdisziplinären Blickwinkel und zielt auf gesellschaftstheoretische Klärung. Sie folgt dabei keinem sozialtechnologischen Motiv, sondern will die spezifischen Widersprüche, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse der Gesellschaftsformation Kapitalismus herausarbeiten.

Die Übersicht des Buchs ist historisch angelegt und gliedert sich in drei Hauptteile, die sich an den  „Konstellationen“ des ökonomischen Geschehens wie der darauf bezogenen Theorieproduktion orientieren. Der erste Teil, in dem natürlich die Marx‘sche Kritik der politischen Ökonomie eine herausgehobene Rolle spielt, reicht von den Anfängen der industriellen Revolution bis zum 20. Jahrhundert. Dessen erste Hälfte bildet die zweite Konstellation, die oft mit der sich durchsetzenden Verflechtung von Wirtschafts- und Staatsmacht (Stichwort „Monopolkapitalismus“) in Verbindung gebracht wird und die sich auf theoretischer Ebene durch Analysen der Krisentendenzen und durch strategische Konzepte zur Innovation oder Steuerung auszeichnet (Keynes, Schumpeter, Polanyi). Die dritte Konstellation setzt das Autorenteam mit den Ende des Zweiten Weltkriegs an. Hier habe sich nach der zunächst konstatierten Stabilisierung des kapitalistischen Verwertungsprozesses (Stichworte: „Fordismus“, „Wirtschaftswunder“) eine neue Krisenlage ergeben, deren Bewältigung in Theorie und Praxis dann im Rahmen einer neoliberalen Hegemonie erfolgt sei. Spätestens mit dem Globalisierungsdiskurs Ende des 20. Jahrhunderts und mit dem Aufkommen einer globalisierungskritischen Bewegung habe dann eine Rückbesinnung auf den erweiterten gesellschaftstheoretischen Horizont stattgefunden – eine Entwicklung, die das Buch aufgreift und befördern will.

Die Hauptteile skizzieren jeweils die besondere Konstellation, stellen die Grundlinien der betreffenden Konzepte vor und beziehen auch die damalige Rezeption oder konträre Positionen mit ein. Ausgewählte Quellentexte sind in Infoboxen beigefügt. Ein Glossar und ein ausführliches Literaturverzeichnis schließen das Buch ab.

Diskussion

Die ins Auge gefasste Übersicht steht unter einem hohen Anspruch, da sie im Grunde 200 Jahre Wirtschafts- und Theoriegeschichte resümiert und zudem einen – gerade im deutschen Wissenschaftsbetrieb – lange verpönten Begriff, nämlich den „Kapitalismus“, zu Grunde legt. Gegen mögliche Bedenken wird aber eingangs der analytische Ausgangspunkt in schlüssiger Weise herausgestellt: Es geht um eine Ökonomie, die dadurch bestimmt ist, „dass Geld in der Form von Kapital investiert wird, um einen Profit zu erzielen“ (S. 13), woraus sich dann eine Strukturierung des politischen und (zivil-)gesellschaftlichen Geschehens ergibt. Dies wird auch in lesbarer Form trotz der – mittlerweile erreichten – „Vielfalt und Konkurrenz theoretisch-konzeptioneller Angebote“ (S. 17) präsentiert.

Natürlich bedingt eine derartige Darstellung Verkürzung an vielen Stellen. Wenn etwa die marxistische Theoriegeschichte resümiert wird, hätte man die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Marx nicht einfach im 19. Jahrhundert, also in ihrer Entstehungszeit, verorten dürfen (S. 59). Denn sie wurden erst in den 1930er Jahren veröffentlicht – und inspirierten in der Folge die neomarxistische Theorieproduktion. Deren Auswirkungen reichten bis in die soziologischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit, als Theodor W. Adorno die Kontroverse über „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“ eröffnete und damit im westdeutschen akademischen Betrieb den Kapitalismusbegriff erst wieder diskursfähig machte. Adorno fehlt übrigens ganz in der Übersicht, ebenso wie der Ökonom der Kritischen Theorie, Friedrich Pollock, oder wie aktuellere neomarxistische Strömungen der „Wertkritik“ etc.

Fazit

Gemäß dem Konzept der utb-Reihe, Lehr- und Lernmedien zu liefern, erfüllt das Buch seinen Zweck. Es bietet eine Orientierung zu gesellschaftstheoretischen Grundfragen, die weit über das wirtschaftswissenschaftliche Feld (und dessen zumeist aufs Markt- oder Betriebsgeschehen bornierte Sichtweise) hinausführen und die, wie das abschließende Zitat von Elmar Altvater (S. 318) deutlich macht, in praktischer Absicht auf existentielle Notwendigkeiten des menschlichen (Über-)Lebens verweisen.

Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Es gibt 17 Rezensionen von Johannes Schillo.

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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 26.09.2022 zu: Hans-Jürgen Bieling, Carla Coburger, Patrick Klösel: Kapitalismusanalysen. Klassische und neue Konzeptionen der politischen Ökonomie. UTB (Stuttgart) 2021. ISBN 978-3-8252-5719-4. Reihe: UTB - 5719. Politikwissenschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29759.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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