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Christina Zitzmann, Alexandra Huber (Hrsg.): Gewaltprävention durch Bedrohungsmanagement

Rezensiert von Sascha Omidi, 30.01.2023

Cover Christina Zitzmann, Alexandra Huber (Hrsg.): Gewaltprävention durch Bedrohungsmanagement ISBN 978-3-7799-6512-1

Christina Zitzmann, Alexandra Huber (Hrsg.): Gewaltprävention durch Bedrohungsmanagement. Erkennen, Einschätzen, Entschärfen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 148 Seiten. ISBN 978-3-7799-6512-1. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Wie können schwere, zielgerichtete Gewalttaten im Kontext sozialer Organisationen, Behörden und Unternehmen verhindert oder zumindest in ihren Folgen für Betroffene abgeschwächt werden? Die Antwort auf diese Frage sehen die Herausgeber:innen des Sammelbandes sowie die darin zu Wort kommenden Autor:innen im Aufbau eines regionalen Bedrohungsmanagement-Netzwerks, wie es seit dem Jahr 2016 in der Metropolregion Nürnberg entsteht. Getragen wird das Netzwerk durch unterschiedliche Akteur:innen der Region, von denen einige die Geschichte, die Struktur und die Funktionsweise des Bedrohungsmanagements Mittelfranken im rezensierten Werk vorstellen.

Herausgeber:innen

Alexandra Huber, M. A. Gender Studies, ist seit November 2020 als organisatorische Leitung des Bedrohungsmanagements Mittelfranken tätig.

Christina Zitzmann ist Professorin für Soziale Arbeit an der Technischen Hochschule Nürnberg und Projektleitung des Trainings „Stark am Arbeitsplatz“.

Entstehungshintergrund

Herausgeber:innen wie auch Autor:innen führen den Erfolg des Bedrohungsmanagements Mittelfranken auf den stetigen interdisziplinären Austausch zwischen den Akteuren des Netzwerks zurück. Das rezensierte Buch wird als Fortführung dieses Austauschs gesehen, zugleich wollen die Herausgeber:innen Institutionen Impulse zur Implementierung eigener Bedrohungsmanagementsysteme geben.

Aufbau

Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil, das Grundlagenkapitel, klärt im ersten Beitrag die begrifflichen Grundlagen „Bedrohungsmanagement“ und „psychologische Deeskalation“. Dem folgt eine allgemeine Beschreibung der Geschichte, des Aufbaus und der Funktionsweise des Bedrohungsmanagements Mittelfranken. Das Kapitel schließt mit einem Aufsatz, in dem die polizeiliche Sicht auf das Bedrohungsmanagement dargelegt wird.

Im zweiten Teil des rezensierten Buchs werden ausgesuchte Handlungsfelder des Bedrohungsmanagements Mittelfranken durch hier tätige Akteur:innen vorgestellt. Dieser Teil enthält insgesamt fünf Beiträge, deren Verfasser:innen in den Bereichen Hochschule, Gewaltschutz für Frauen, Behörden und Dienstleistungsunternehmen sowie dem Jugendamt tätig sind.

Der dritte und letzte Teil behandelt Praxisansätze des Bedrohungsmanagements. Vorgestellt werden das Sensibilisierungstraining „Stark am Arbeitsplatz“, Möglichkeiten der Extremismusprävention im Hinblick auf Selbstverwalter und Reichsbürger, Präventionsansätze zur Vermeidung von Häuslicher Gewalt und Teen Dating Violence sowie die Therapeutische Behandlung von Gewalttäter:innen in der Psychotherapeutischen Fachambulanz der Stadtmission Nürnberg.

Inhalt

Jens Hoffmann und Katrin Streich unterscheiden zunächst grundsätzlich zwischen zwei biologisch im Menschen verankerten Aggressions- oder Gewaltmodi. Dabei handelt es sich um den affektiven und den zielgerichteten Gewaltmodus. Während erster aus dem Gefühl, sich einer Bedrohung erwehren zu müssen, erwächst und oftmals genauso schnell geht, wie er gekommen ist, ist die zielgerichtete Gewalt oftmals von langer Hand geplant und geht nicht selten mit dem Gefühl von Macht über die Betroffenen einher (vgl. ebd.: 13). Den beiden Autor:innen zufolge besteht die Antwort auf die affektive oder heiße Gewalt in Strategien der Deeskalation, deren Ziel im Absenken des Aggressionslevels oder in der erfolgreichen Flucht der angegriffenen Person besteht. Das Mittel der Wahl im Umgang mit zielgerichteter oder kalter Aggression besteht im Bedrohungsmanagement, welches als Instrument oder Gesamtstrategie einer Organisation zu sehen ist. Die Philosophie des Bedrohungsmanagements geht davon aus, dass vielen schweren Gewalttaten kritische Verhaltensweisen und Veränderungen, sogenanntes Warnverhalten auf Seiten der Täter:innen vorausgehen (vgl. ebd.: 14). Die Vermeidung von schwerer zielgerichteter Gewalt soll demzufolge über das Erkennen und Entschärfen des warnenden Verhaltens erreicht werden.

Wie dies aussehen kann, legen Heiner Dehner, Alexandra Huber und Pamela Schmidt in ihrem Beitrag mit dem Titel „Aufbau und Steuerung eines regionalen Bedrohungsmanagementsystems“ dar. An diesem regionalen Netzwerk partizipieren so unterschiedliche Akteure der Metropolregion Nürnberg wie der Verein Frauenhaus, die Stadtmission Nürnberg, die Polizei und die Firma Siemens (vgl. ebd.: 24).

Gemeinsam ist den verschiedenen Organisationen und Unternehmen, dass sie alle sogenannte Erstbewerter:innen durch das Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement haben ausbilden lassen. „In den Schulungen, […], lernten die Teilnehmer:innen Grundformen der Gewalt und Aggression, den Unterschied zwischen flüchtigen und substanziellen Drohungen, Warnsignale und Risikofaktoren für Gewalt sowie verschiedene Instrumente zur Einschätzung bedrohlicher Situationen kennen“ (ebd.: 23). Aufgabe der Erstbewerter:innen in ihren jeweiligen Institutionen ist das Erkennen, Einschätzen und ggf. Entschärfen bedrohlicher Situationen. Theoretisch ergeben sich aus der Einschätzung drei mögliche Szenarien:

  1. Die Situation kann vor Ort durch den:die Erstbewerter:in deeskaliert werden.
  2. Die Situation wird als potenziell hochriskant zur weiteren Beratung und gegebenenfalls Entschärfung an das sogenannte Kernteam weitergegeben.
  3. Die Situation ist so akut, dass die Polizei verständigt werden muss.

Die Besonderheit des Bedrohungsmanagements Mittelfranken besteht darin, dass die Erstbewerter:innen sich per Fax und über den Krisendienst Mittelfranken an ein Kernteam wenden können, dessen Aufgabe in der Unterstützung der Erstbewerter:innen bei der Risikoeinschätzung wie auch Entschärfung der Bedrohungslage und gegebenenfalls in der Übernahme eines interdisziplinären Fallmanagements besteht (vgl. ebd.: 23). Das Kernteam besteht aus erfahrenen Erstbewerter:innen, die aufgrund eines weiterführenden Fachwissens (z.B. Beratung von gewaltbetroffenen Frauen, psychotherapeutische Behandlung von Gewalttäter:innen, Krisenintervention) einen besonderen Beitrag zur Einschätzung und Entschärfung von Bedrohungslagen leisten können.

Wie sich die Zusammenarbeit im Bedrohungsmanagement aus Sicht der Polizei darstellt, reflektiert Heike Krämer in ihrem Beitrag. Besonders interessant an diesem sind die Ausführungen zum Gefahrenbegriff der Polizei. Dieser ist weit enger gefasst als der des Bedrohungsmanagements und macht aufgrund des Legalitätsprinzips polizeiliche Intervention erforderlich. Das Bedrohungsmanagement hingegen geht davon aus, dass sich Hochrisikosituationen bspw. im Rahmen von Stalkingvorgängen aufbauen und sich die damit einhergehenden Eskalationen an spezifischen Punkten unterbrechen lassen, ohne dass ein polizeiliches Eingreifen zwingend erforderlich ist. Insofern stellt das Bedrohungsmanagement Mittelfranken ein interbehördliches und interinstitutionelles Netzwerk dar, dessen Aufgabe in der Bearbeitung von zunächst nicht eindeutig bewertbaren und nicht unmittelbar zeitkritischen psychosozialen Risiko- und/oder Bedrohungslagen besteht (vgl. ebd.: 36). Dabei wird die Zielsetzung verfolgt, schwere zielgerichtete Gewalttaten zu vermeiden. Aus Sicht der Autor:in ist das Netzwerk eine Entlastung für die Polizei, denn subjektiv bedrohliche Situationen konnten bereits vielfach entschärft werden, ohne dass eine polizeiliche Intervention nötig wurde (vgl. ebd.: 44).

Wie eine Entschärfung vonstattengehen kann, zeigen einige der Beiträge im zweiten Teil des Sammelbandes. Einer davon ist der Aufsatz von Alexandra Huber, Dominik Özbe-Schönfeld und Christina Zitzmann, in dem die Autor:innen die Umsetzung eines organisationsbezogenen Bedrohungsmanagements an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm (TH Nürnberg) und dessen Einbindung in das Bedrohungsmanagement Mittelfranken skizzieren. Im Kern besteht das organisationsbezogene Bedrohungsmanagement der TH Nürnberg aus einem ressortübergreifenden interdisziplinären Team, das mit dem Kernteam des regionalen Bedrohungsmanagements vernetzt ist. „So wird eine Anbindung potenzieller Opfer oder auch Täter:innen an externe Unterstützungsangebote […] erleichtert und auch die Möglichkeit, über eine Rufbereitschaft schnelle Hilfen im Umgang mit bedrohlichen Situationen zu erhalten, trägt zur Stärkung der internen Strukturen bei“ (ebd.: 55).

Im Text geschildert werden drei Fallbeispiele, die durch das interne Bedrohungsmanagement bearbeitet und bei denen den Betroffenen durch die Vernetzung im Bedrohungsmanagement Mittelfranken schnelle, unkomplizierte Hilfen vermittelt wurden (vgl. ebd.: 56 – 59).

In einem der vier im dritten Teil des Sammelbandes vorgestellten Praxisansätze kommt Haldor Hron zu dem Schluss, dass das wirksamste Mittel gegen Reichsbürger- und Selbstverwalterstrukturen in unterschiedlichen Vorsorgemaßnahmen besteht. Bedrohungsmanagement könnte hier ein wichtiger Baustein sein. „In entsprechenden Netzwerk-Strukturen können zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen sowie privatwirtschaftlichen Akteur:innen Informationen ausgetauscht, Lernprozesse angestoßen und so Sensibilität und Handlungssicherheit mit Blick auf Extremismus erhöht werden“ (ebd.: 113).

Diskussion

Gewaltprävention durch Bedrohungsmanagement ist ein interessantes Buch. Besonders gelungen sind die Beschreibungen aus der Praxis im zweiten Teil des Sammelbandes, die darstellen, welche Rolle Gewalt in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet spielt, welche Formen sie dabei annehmen kann und wie mit ihr umgegangen wird. Dabei beschreiben alle fünf Beiträge, wie die Einbindung in das regionale Bedrohungsmanagement aussieht und welche Vorteile der betreffenden Organisation dadurch entstehen. Einziger Wermutstropfen ist, dass mit dem Bedrohungsmanagement ein präventiver Ansatz entwickelt wurde, der sehr stark das Individuum (das Opfer, den:die Täter:in) fokussiert. Dies hat zweifellos seine Berechtigung, etwas zu kurz – einzig Stefanie Walter erwähnt in ihrem Beitrag Gewalt als Ausdruck patriarchaler Strukturen (vgl. ebd.: 69) – kommt dabei allerdings die kritische Reflexion gesellschaftlicher, organisationaler und staatlicher Strukturen, die ja durchaus zur Entstehung von Gewaltdynamiken beitragen können. Problematisch ist daran, dass so positive Ansätze wie das Bedrohungsmanagement Mittelfranken Gefahr laufen, zur rein ordnungspolitischen Maßnahme umfunktionalisiert zu werden. Das Mitdenken gesellschaftlicher Entstehungsbedingungen von Gewalt könnte derartigen Vereinnahmungen als hilfreicher Mechanismus vorgebaut werden. Möglicherweise wäre der insgesamt gelungene und sehr angenehm zu lesende Sammelband aber durch derartige Überlegungen überfrachtet.

Fazit

Der rezensierte Sammelband stellt auf nachvollziehbare und praxisnahe Weise dar, wie ein regionales Bedrohungsmanagement aufgebaut und gesteuert werden kann. Besonders eindrücklich sind die Schilderungen der im zweiten Teil des Sammelbandes zu Wort kommenden Praktiker:innen, die darstellen, welche Rolle Gewalt in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet spielt, welche Formen sie dabei annehmen kann und wie mit ihr umgegangen wird. Spannend sind auch die vier Praxisansätze, die am Ende vorgestellt werden. Insgesamt ein interessantes Buch, das insbesondere Personen ansprechen dürfte, die sich beruflich oder im Rahmen eines Studiums mit Möglichkeiten der praktischen Umsetzung von Gewaltprävention auseinandersetzen.

Rezension von
Sascha Omidi
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Es gibt 4 Rezensionen von Sascha Omidi.

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ISSN 2190-9245