Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit
Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Huppertz, 18.04.2023
Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen. Verlag C.H. Beck (München) 2022. 288 Seiten. ISBN 978-3-406-79199-4. 16,95 EUR.
Fremdbetreuung – Krippenpädagogik
Seit Jahren, nein seit Jahrzehnten und sogar seit Jahrhunderten, geht es in Deutschland, und nicht nur hier, sondern generell, um die Frage der sog. Fremdbetreuung der Kinder, und zwar der jüngsten Kinder von ihrem ersten Lebenstag an. Wieviel Fremdbetreuung verträgt das Kleinkind bzw. schadet ihm oder kann ggf. sogar hilfreich sein?
Diese Frage stellt sich vor allen Dingen, wenn eine Gesellschaft auf jede Arbeitskraft angewiesen ist und deshalb auch glaubt, die Arbeitskraft der Frauen und Mütter zu benötigen. Aber: Wer kümmert sich dann um das Wohl und Glück der Kinder? Das Problem der Auswirkungen der Fremdbetreuung der Kleinkinder in der DDR wurde durch Florian von Rosenberg untersucht.
Wichtige Vorbemerkung
Das vorliegend rezensierte Buch kann niemand froh stimmen. Das Gleiche wird auch zutreffen für meine Rezension und Kommentierung. So ist es bei bitteren Wahrheiten, aber auch und gerade um diese hat sich nun einmal Forschung und Wissenschaft zu kümmern. In ihrem Wesen und Ethos liegt es, nichts zu verschweigen.
Die folgende Vorbemerkung hält der Rezensent für unverzichtbar, und zwar aus folgenden Gründen: Das wissenschaftliche Werk von Florian von Rosenberg könnte sonst unter Umständen mehr Schaden anrichten als Nutzen bewirken. Es geht um „das“ Krippensystem „der“ DDR und „seine“ Folgen. Ich konnte persönlich und leibhaftig bereits vor, aber besonders kurz nach der Wende 1989 mehrere Krippen in der DDR selbst erleben und dort Beobachtungen durchführen und die Praxis umfassend sogar videografieren. Außerdem hatte ich zahlreiche persönliche Begegnungen mit Krippenerzieherinnen und anderen betroffenen Personen. Bei diesem Erfahrungshintergrund möchte ich die Leserschaft vor einer unerlaubten Verallgemeinerung warnen. Von Rosenberg prangert (mit Recht) auf Grund seiner mit wissenschaftlicher Akribie gefundenen Forschungsergebnisse das Krippensystem der DDR und dessen Folgen an. Allerdings dürfen nicht pauschal „die“ ausführenden Erzieherinnen für verantwortlich erklärt und verurteilt werden, was übrigens Autor von Rosenberg keineswegs tut, aber auch allgemein nicht geschehen darf. Die Warnung vor unerlaubter Verallgemeinerung gilt in gleicher Weise für die Aussagen über die Folgen bei den Kindern, wenn Autor Rosenberg als Kapitelüberschrift formuliert „Kranke Kinder“ (III.) oder „Sterbende Kinder“ (IV.), was er auch in den erforschten Fällen nachweist. Falls jemand geneigt sein sollte zu urteilen, so muss er immer den größeren gesellschaftlichen und globalen Kontext mit im Auge haben. Der Autor weist darauf hin: „Ökonomisch wurde die SBZ/DDR in starker Abhängigkeit zur Sowjetunion gehalten … dreimal so hohe Reparationskosten (wie im Westen nach 1945, N.H.). … die ökonomischen Notwendigkeiten verbanden sich bei der kommunistischen Führung mit ideologischen Vorstellungen von der werktätigen Mutter, welche in den Zeitungen und im Radio der DDR zum Vorbild stilisiert wurde“ (S. 24). Was mir besonders wichtig ist: Die nicht wenigen Menschen, die ich in den Jahren vor, besonders aber auch nach der Wende erlebte – es dürfte nicht allein meine Einzelerfahrung sein – kann ich nur als liebenswerte Persönlichkeiten bezeichnen.
Es muss im Sinne eines umfassenden Verständnisses gesehen werden, wie das System DDR Menschen instrumentalisiert hat. Bei meiner ersten Vorlesung, zu der ich im Jahr 1991 in Halle an die Pädagogische Hochschule N.K. Krupskaja in Halle/​Saale eingeladen wurde, sprach ich im Rahmen des Themas „Frühe Kindheit“ über die Bedürfnisse des Kindes, besonders in den ersten Lebensjahren. Spontan rief eine der anwesenden Personen aus der Zuhörerschaft in den Raum: „Hätte man uns das doch auch einmal gesagt!“
Inhalt
Von Rosenberg hat gründlich geforscht über Krippenpädagogik in der DDR, und zwar geht er den Fragen um die problematischen Folgen bei den Kindern nach – Folgen, die in der Wirklichkeit mit dem System der politisch verordneten Betreuung der Kinder unter drei Jahren verbunden waren.
Was ist seine Forschungsmethode? Wie gelangt er zu den Informationen, die ihn berechtigen als Grundthese „Die beschädigte Kindheit“ durch „das Krippensystem der DDR“ als Titel seines Werkes zu formulieren. Mit Hilfe der traditionellen empirischen Forschung kann die Fragestellung nicht beantwortet werden. Deshalb entscheidet der Erziehungswissenschaftler sich für den Weg, den ich – in positiver Konnotation – als „Hinterbühnenforschung“ bezeichne – oder eleganter als Alltagsforschung. Kaum jemand wird heute verlässlich Auskunft geben bei der Frage nach krankmachenden oder zum Tod führenden Faktoren (Kapitel III. und IV.) bei Kindern in der Krippenpraxis der DDR. Deshalb wählt von Rosenberg zwei Ansatzpunkte, die wissenschaftlich als seriös anzusehen sind: „… die … Akten des zuständigen Ministeriums für Gesundheitswesen“ sowie „die medizinischen, psychologischen und pädagogischen Fachveröffentlichungen der DDR-Krippenforschung“ (S. 11).
Wissenschaftstheoretisch handelt es sich tendenziell um das Genre der Sozialwissenschaft, welches heute als „qualitative Forschung“ bezeichnet wird. In andere Richtung – etwa im Sinne der quantitativen Forschung – ginge die Fragestellung: „Wie viele Kinder wurden in welchem Grade geschädigt? Wie viele Menschen leiden evtl. noch heute unter entsprechenden Folgen? Verlässlich dürften derlei Fragen wohl dauerhaft unbeantwortbar sein. Hier bleibt der Autor bei einer plausiblen vorsichtigen Antwort: „Die Akten des zuständigen Ministeriums für Gesundheitswesen und die Veröffentlichungen der DDR-Krippenforschung deuten darauf hin, dass es sehr viele Kinder waren, deren frühe Kindheit durch die Krippe negativ geprägt wurde“ (S. 11). „Ihnen ist dieser Text gewidmet“, fügt der Autor empathisch hinzu, wie er überhaupt mit seinen Forschungsdaten, so bitter manche Ergebnisse sein mögen, nicht herabwürdigend verfährt. Das Werk kann – ohne jeden Anflug von Häme – durchaus der Aufarbeitung von DDR-Problematik dienlich sein. Allerdings hätte an irgendeiner Stelle der explizite Hinweis auf die infame Verführung der Krippenerzieherinnen und deren Nichtschuldigkeit nicht geschadet.
Diskussion
Kommentierend soll nun auf einige Punkte der Publikation eingegangen werden, nicht Kritik übend am wissenschaftlichen Werk des Autors, sondern das betonend, was durch die Forschung von Rosenbergs – evtl. neu oder überhaupt – mit Blick auf das System DDR belegt wird.
Die verfehlte Anthropologie.
Die DDR (immer besser gesagt >die Verantwortlichen<) hatte ein Menschen- und ein entsprechendes Kindbild, das den Interessen des Systems dienlich sein sollte, dadurch aber jeder phänomenologischen Grundlegung in wissenschaftlicher Hinsicht entbehrte. Der Mensch wird rein materialistisch – gleichsam wie eine Maschine – betrachtet, eine Maschine, die gut funktionieren muss und auch gut funktioniert, wenn die Voraussetzungen stimmen; wenn nicht, dann muss an “einer Schraube gedreht” werden – um im Bild zu sprechen – und es funktioniert wieder. Krippenforscher und Ministerien taten so, „als ließe sich die Wirklichkeit genauso verändern wie die Faktoren eines wissenschaftlichen Experiments … Waren die Kinder häufiger und schwer krank, musste die medizinische Ausbildung verbessert werden, waren die Kinder unterentwickelt, musste die pädagogische Ausbildung verbessert werden. Dass es jedoch einen Unterschied machte, ob man das eigene Kind pflegte und erzog oder ein fremdes, dass es für die Bewältigung der Pflege- und Erziehungsaufgaben einen Unterschied machte, ob man ein, zwei oder drei der eigenen Kleinkinder vor sich hatte oder fünf bis zwanzig fremde Kleinkinder, blieb immer außen vor. Das musste es auch, wollte man an den Krippen festhalten“ (S. 114 f.).
Ganz im Gefolge der frühen Kommunistin Klara Zetkin (1857-1933) sah die DDR ein Kind als Wert und Ware an, und der Staat war der Eigentümer. Von Rosenberg zitiert (S. 28) aus einer Rede Zetkins im Reichstag 1921 über „das Recht zur Erziehung“ von Staat und Gesellschaft: „Das Kind ist nicht, wie es uns aus der landläufigen Auffassung entgegentritt, ein >Privateigentum< der Eltern, (…) das diese nach ihrem Belieben, nach Laune und Mitteln entweder bilden oder auch verbilden dürfen. Nein, das Kind ist ein gesellschaftlicher Wert, ist der größte gesellschaftliche Wert, und der Staat, die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass dieser Wert nicht verschleudert und vergeudet werde, …“ Staat und Gesellschaft werden somit über das Wohl und Glück des Kindes gestellt.
Wohl des Kindes vs. Wohl der Gesellschaft.
Kinder sind also nach kommunistischer Auffassung, wie gezeigt, Eigentum des Staates und der Gesellschaft, und nicht etwa der eigenen Mütter und Väter bzw. Familien. Nein, diese haben in erster Linie jenen zu dienen. Von Rosenberg belegt dies exemplarisch durch die „rigorose sozialistische Richterinrigorose sozialistische“ (S. 126) Benjamin (1902-1989), („blutige Hilde“), die zwischen 1950 und 1953 zwei Todesurteile, 15 lebenslängliche Haftstrafen und insgesamt 550 Jahre Zuchthaus verhängt hatte. Diese Richterin verfasste sogar Mahn- und Drohbriefe an den Gesundheitsminister, indem sie auf die leisesten evtl. kritischen Töne von Ärzten bzgl. der negativen Folgen von Wochenkrippen aufmerksam machte (vgl. S. 126 f.). Benjamin versuchte, empirische Studien zu diskreditieren, „indem sie ihre Wissenschaftlichkeit anzweifelte. Die verwendeten Methoden seien unter Umständen nicht stichhaltig“ (S. 127).
Mit Recht schreibt von Rosenberg: „Weniger die Gefährdung der Gesundheit der Kleinkinder als vielmehr die Gefährdung der Frauenarbeit war für Benjamin bedeutsam. Wenn man die Arbeit von Müttern mit jungen Kindern fördern wollte, musste man vor allem ihre Sorgen gegenüber der staatlichen Betreuung zerstreuen“ (a.a.O.). Und für diesen Zweck, nämlich Frauen dem Aufbau des Sozialismus zuzuführen, war jedes Mittel recht: auch die Opferung des Wohles der Kinder.
In einem mir vorliegenden Werbeprospekt an Eltern liest man dagegen: „Liebe Eltern … In den Krippen werden die Kinder von speziell dafür ausgebildeten Erzieherinnen ihrem Alter entsprechend fürsorglich betreut und erzogen, so daß die Eltern ohne Sorgen um das Gedeihen ihrer Jüngsten der Arbeit nachgehen können“ (Institut für Gesundheitserziehung Dresden 1984, S. 1). Die Wirklichkeit sah wohl vielfach anders aus.
Der Umgang mit der Wahrheit.
Wie die Studie von Rosenbergs belegt und wie der Rezensent aus anderen Quellen weiß, hatte man in der DDR auch eine durchaus breit angelegte empirische Forschung. Dies gilt auch für das Krippensystem. Allerdings stellt sich dabei in besonderem Maße die Frage, wie mit den Erkenntnissen und generell den Forschungsergebnissen – vor allem, wenn es sich um unangenehme Wahrheiten handelt – umgegangen wird. Kann auch für ein autoritäres System im Bereich der Wissenschaft, hier der Sozialwissenschaft, das Prinzip der Transparenz, also wahrheitsgemäßes Veröffentlichen gegenüber der Bevölkerung, gelten? Die DDR favorisierte eher den (man muss schon sagen) „lügenhaften“ Umgang mit Forschungsergebnissen, als dem Wahrheitsethos zu folgen. Von Rosenberg zeigt das für die Krippenpädagogik überzeugend auf am Problem des Hospitalismus, das in den Krippen der DDR vielfach verbreitet war: „Vor allem in den Säuglingsdauerheimen stellten die Wissenschaftler schwere Hospitalismuserscheinungen bei den Kindern fest“ (S. 137). Aber: „Die DDR-Krippenforscher … schrieben in den öffentlichen Diskussionen etwas anderes als das, was sie in ihren wissenschaftlichen Forschungen herausgefunden hatten. Sie wagten es nicht, sich kritisch mit den staatlichen Plänen der Kinderbetreuung auseinanderzusetzen“ (a.a.O.).
Die DDR-Forscher, so weist von Rosenberg nach, standen derartig unter Druck von Seiten des Staates, dass nicht nur die Öffentlichkeit belogen wurde, sondern auch sie selbst mussten sich gegen ihre eigenen früheren (wahren) Erkenntnisse äußern. Dies trifft z.B. für Eva Schmidt-Kolmer (1913-1991) zu, die im Vergleich zu ihren eigenen früheren Aussagen nun „einfach das Gegenteil“ behauptet: Die Krippe sei „nicht nur im Interesse der Berufstätigkeit und der vollen Eingliederung der Frau in die Gesellschaft eine Notwendigkeit geworden, sondern auch im Interesse der allseitigen Erziehung und Entwicklung des Kindes“ (zitiert nach von Rosenberg, S. 174).
Krippenerziehung wurde also plötzlich zum Optimum aller Pädagogik erklärt – im Gegensatz zur Familie. Es gab sogar zeitweise Bestrebungen, dass „der Begriff des psychischen Hospitalismus nicht mehr oder nur eingeschränkt genutzt wurde. Hospitalismuserscheinungen gäbe es in den Krippen der DDR gar nicht“ (S. 122 f.). So stand es 1965 in Lehrmaterialien für das medizinische Personal.
Dieselbe Eva Schmidt-Kolmer hatte früher in einem Bericht über eine Einrichtung zum dort vorgefundenen Hospitalismus bei den Kindern geschrieben: „Man findet Rückstände im Wachstum, erhöhte Anfälligkeit vor allem gegen Infekte der Atemwege und der Haut, Verhaltens- und Kontaktstörungen und Retardierung der psychischen Entwicklung. Am auffälligsten sind die Retardierungserscheinungen in der Entwicklung von Sprache und Denken, … Jahrelange Untersuchungen der Ursache für diese Erscheinungen des psychischen Hospitalismus haben erwiesen, daß es sich um ein Mangelsyndrom handelt. Die Lebensbedingungen der Heimkinder entsprechen nicht den für die normale geistige und körperliche Entwicklung im Vorschulalter notwendigen Gesetzmäßigkeiten. (…) … Die ungenügende Entwicklung des Bindungsstrebens und damit der zwischenmenschlichen Beziehungen der Kinder führt zu Verhaltensstörungen, diffusem Kontaktsuchen und in vielen Fällen im späteren Vorschulalter zur Kontaktschwäche und damit zu Erziehungsschwierigkeiten“ (zitiert nach von Rosenberg, S. 117).
Abhärtungsmaßnahmen und Kinderqualen.
Der eklatante Hospitalismus, wie beschrieben und aufgewiesen, korrespondierte mit gewissen Praktiken in scheinbar rein physischer Hinsicht, z.B. kalt duschen, abhärten, heißes Wasser als „Treibmittel“. Das typische Kollektiv braucht den Gleichschritt, und zwar in möglichst allen Bereichen – sogar den intimsten. Von Rosenberg schreibt: „Die Körper des Kinderkollektivs sollten … im 15. Lebensmonat konditioniert werden, sich gemeinschaftlich zwischen 6.15 und 6.45 Uhr, zwischen 11.15 und 11.30 Uhr und zwischen 14.00 und 15.00 Uhr zu entleeren“ (S. 148).
Aus einer Akte des Ministeriums für Gesundheitswesen ergibt sich, dass die Kinder „vom Krippenpersonal auf Töpfe mit heißem Wasser gesetzt wurden, was ein Wasserlassen zur gewünschten Zeit ermöglichen sollte.“ … „Es wurde heißes Wasser in den Topf gegossen, um ein Kind zur Urinentleerung anzuregen“ (zit. nach von Rosenberg, S. 148). Das Kind habe daraufhin Verbrennungen zweiten Grades erlitten.
Um die gesellschaftliche materielle Produktivität zu steigern, setzte man auf die Produktivität der Krippen, d.h. Kapazitätssteigerung mit allen Mitteln. Berichtsvorgaben enthielten einen Punkt mit dem Titel „Durchführung von Abhärtungsmaßnahmen“ (S. 161). Dazu gehörte u.a. „Kinder kalt abzuduschen“ (a.a.O.).
Inwieweit derlei Berichterstattungen die allgemeine Wirklichkeit betrafen, lässt sich wohl niemals mehr prüfen. Unabhängig davon urteilt von Rosenberg: „Die Kälte des Krippensystems wurde für die Kinder so auch physisch erfahrbar“ (S. 163).
Zusammenfassung, Anregung und Empfehlung
Die DDR endete mit dem Jahr 1989. Eine pauschale Verallgemeinerung – etwa nach dem Motto „So war es in der DDR immer und in jeder Krippe und mit jeder Erzieherin und mit allen Kindern“ – ist durch die sehr gründliche und wissenschaftlich korrekt durchgeführte Arbeit von Rosenbergs nicht erlaubt – allerdings auch nicht das Gegenteil und etwaige Verharmlosung der Zustände in Krippen der DDR. Erzieherinnen mit Erfahrungen aus der damaligen Krippenpädagogik werden ihr eigenes Bild haben. Wie sich mir selbst Ausschnitte aus der seinerzeitigen Krippensituation in der DDR im Jahr 1990 darstellten, entsprach durchaus tendenziell dem Bild, das sich ergibt durch die Forschungen von Rosenbergs, z.B. blasse, müde, hustende Kinder, die mit diffusen Kontakt- und Beziehungsbestrebungen dem Fremden entgegenlaufen etc.
Kurz nach und mit der Wende 1989 entstand eine völlig andere Krippenwirklichkeit. Alle ehemaligen Krippenerzieherinnen mussten sich der sog. Anpassungsfortbildung zum Erzieherberuf unterziehen, was nicht allseitig Freude auslöste, aber in der Summe auch aus heutiger Sicht gerechtfertigt erscheint – auch und gerade angesichts des vorliegenden Werkes von Rosenbergs –, wobei „den“ Krippenerzieherinnen der DDR nicht die Schuld und Verantwortung zuzusprechen ist. Sie hatten und haben nicht die irrige Annahme zu vertreten und zu verantworten, Erziehung, Bildung und Betreuung der unterdreijährigen Kinder sei in erster Linie und evtl. sogar „nur“ eine Sache der Gesundheit. Dafür haben „die Honeckers“ und „ihre Schmidt-Kolmers“ – mindestens mit Blick auf die historische Vergangenheit – gerade zu stehen.
Das Buch von Rosenbergs ist allen mit der Elementarpädagogik Befassten sehr zu empfehlen. Es wird bei niemand eine gute Stimmung hinterlassen. Insbesondere ist das Werk auch all jenen zu empfehlen, die kurz nach der Wende den – angeblich „nachahmenswerten Fortschritt“ der DDR bejubelten, dass in der DDR jedes Kind seinen Betreuungsplatz habe und insofern jede Frau arbeiten gehen könne. Sie sollten sich der Lektüre widmen.
Wir können heute froh sein, dass aus den leidigen Erfahrungen wohl für die gesamte frühkindliche Fremdbetreuung in Krippe und anderen entsprechenden Einrichtungen gelernt wurde und dass die Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder unter drei Jahren wohl hoffentlich in ganz Deutschland mit größter Sensibilität praktiziert wird, was wir z.B. während der vergangenen Jahrzehnte bei der völlig neuen Praxis der Eingewöhnung weitgehend beobachten konnten.
Ich wünsche dem Buch von Rosenbergs viel Verbreitung in der gesamten Elementarpädagogik. Es betrifft eines der besten Lernmodelle, wie man es nicht machen darf.
Fazit
Florian von Rosenberg hat die Situation der Krippenpädagogik in der DDR mit qualitativen Methoden gründlich erforscht und über die Ergebnisse in der Publikation mit dem Titel „Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ korrekt berichtet. Die Erkenntnisse belegen einen bedauernswerten Teil der deutschen Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren in einem Teil Deutschlands während dessen Abhängigkeit vom großen kommunistischen „Bruderstaat“ Rußland und belegen die Verbreitung des kindlichen Hospitalismus auf Grund der vorhandenen Misstände, besonders in den sog. Wochenkrippen.
Rezension von
Prof. Dr. Norbert Huppertz
Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozial- und Elementarpädagogik, mehrere Jahre auch Tätigkeit in der DDR
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Es gibt 16 Rezensionen von Norbert Huppertz.
Zitiervorschlag
Norbert Huppertz. Rezension vom 18.04.2023 zu:
Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen. Verlag C.H. Beck
(München) 2022.
ISBN 978-3-406-79199-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29775.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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