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Marion Thuswald: Sexuelle Bildung ermöglichen

Rezensiert von Yannick Zengler, 18.01.2023

Cover Marion Thuswald: Sexuelle Bildung ermöglichen ISBN 978-3-8376-5977-1

Marion Thuswald: Sexuelle Bildung ermöglichen. Sprachlosigkeit, Lust, Verletzbarkeit und Emanzipation als Herausforderungen pädagogischer Professionalisierung. transcript (Bielefeld) 2022. 500 Seiten. ISBN 978-3-8376-5977-1. D: 45,00 EUR, A: 45,00 EUR, CH: 54,90 sFr.
Reihe: Pädagogik.

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Thema

Zunehmend wird die Bedeutung einer vertieften Auseinandersetzung mit sexualpädagogischen Themen und Fragestellungen für (angehende) Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte erkannt und eine entsprechende Verankerung sexualpädagogischer Bildungsinhalte in sozialarbeiterischen, erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Studiengängen oder in Fortbildungen für bereits Berufstätige gefordert (vgl. etwa für die Soziale Arbeit Klein & Tuider 2017; für das Lehramt Urban, Wienholz & Khamis 2022; übergreifend Mieruch & Henningsen 2022). Wie und über welche didaktischen Praktiken gestaltet sich jedoch die Vermittlung sexualpädagogischen Wissens und Könnens an (angehende) Pädagog*innen tatsächlich? Wie werden Möglichkeitsräume und Begrenzungen der Thematisierung von Sexualität in entsprechenden Veranstaltungen ausgehandelt? Welche Herausforderungen stellen sich dabei, wie lässt sich dies kritisch reflektieren und eine sexualpädagogische Professionalisierung weiterdenken? Diese Ausgangsfragen (vgl. Thuswald 2022: S. 19) motivierten die ethno- bzw. soziografische Forschung von Marion Thuswald,die in dem vorliegenden Band veröffentlicht wurde. „Eine Person, die das Feld gut kennt, muss nach dem Lesen der Ethnografie sagen können: ‚Ja, das stimmt – aber so habe ich das noch nie gesehen!‘“ (Breidenstein, Hirschauer & Kalthoff 2015 zit. nach Thuswald 2022: S. 106). Dieses von Thuswald vorangestellte Zitat drückt dabei den Anspruch, dem gefolgt, und das Potenzial, das durch vorliegende ethnografische Studie erhofft wurde, aus.

Autorin

Die Sozialpädagogin und Bildungswissenschaftlerin Marion Thuswald (Dr. phil.) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für das künstlerische Lehramt an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind sexuelle Bildung und pädagogische Professionalisierung. So setzten sich die von ihr mit initiierten partizipativen Forschungsprojekte „Facing the Differences“ (www.facingthedifferences.at) und „Imagining Desires“ (imaginingdesires.at) mit Fragen nach Differenzen und Widersprüchen in pädagogischen Professionalisierungsprozessen bzw. mit Sexualität und visueller Kultur auseinander.

Entstehungshintergrund

Bei der Monographie „Sexuelle Bildung ermöglichen“ handelt es sich um die Dissertationsschrift von Thuswald, die von der Akademie der bildenden Künste Wien prämiert wurde. Die Arbeit baut auf einer ethnographischen Studie auf, innerhalb derer insgesamt 12 sexualpädagogische Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für (angehende) Lehrkräfte an Hochschulen (z.B. als Teil des Lehramtsstudiums) oder außeruniversitären Kontexten (z.B. bei Vereinen oder Weiterbildungsinstituten) in Österreich untersucht wurden. Mehrjährige Weiterbildungslehrgänge für Sexualpädagogik wurden nicht mit einbezogen (vgl. S. 133).

Aufbau

Nach der Einleitung gliedert sich die 500-Seiten starke Arbeit in drei größere Teile ergänzt um einen Ausblick sowie einen Sach-, Personen- und Organisationenregister.

Teil I „Sexualpädagogik in der Pädagog*innenbildung beforschen: Gesellschaftliche, theoretische und methodische Rahmungen“ (Kapitel 1 - 3) positioniert die Studie in Bezug zu gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu Sexualität und Pädagogik, schulischer Sexualaufklärung und sexualpädagogischer Professionalisierung. Weiterhin werden die methodologischen und methodischen Annahmen und Konzepte der ethnografischen Studie dargestellt.

In Teil II „Theoretisierende Beschreibungen: Zu den didaktischen Praktiken sexualpädagogischer Aus- und Fortbildungen“ (Kapitel 4 - 6) werden die beobachteten Praktiken und Gestaltungselemente der Fortbildungen unter einer didaktischen Perspektive analysiert und theoretisiert.

In Teil III „Machtkritische Analysen: Zwischen Lustfreundlichkeit, Differenzreflexivität und Gewaltprävention vermitteln“ (Kapitel 7 - 10) wechselt die Perspektive auf das empirische Material und ausgewählte „wiederkehrende Thematisierungsweisen“ in den Bildungsveranstaltungen werden nun als diskursiv betrachtete Praktiken einer „machtkritischen Analyse“ (S. 273) unterzogen.

Inhalt

Das erste theoretisch rahmende Kapitel „Sexualität als pädagogisches Thema“ geht der Frage nach, wie Sexualität in Bezug zu pädagogischen Kontexten in bildungswissenschaftlichen Diskursen in Deutschland und Österreich verhandelt wird. So arbeitet Thuswald anhand der untersuchten Fachveröffentlichungen heraus, dass Sexualität einerseits als ein besonders „heikles“ pädagogisches Thema konstruiert werde, da es u.a. als ein intimes und schambehaftetes Thema aufgefasst werde, mit dem Pädagog*innen ihre Adressat*innen schnell überfordern oder politische Kontroversen auslösen könnten (vgl. S. 34). Andererseits werde die Befassung mit Sexualität in Erziehung und Bildung als besonders wichtig erachtet, u.a. weil Kinder und Jugendliche eine entsprechende Begleitung und Orientierung in ihrer Entwicklung bedürfen oder eine sexualitätsbezogene Sprachfähigkeit gestärkt werden müsse, um z.B. Grenzverletzungen vorzubeugen (vgl. S. 35). Dabei hinterfragt die Autorin diese dominante pädagogische Thematisierungsweise von Sexualität als „wichtiges, aber heikles Thema“ (S. 53) in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit und in Bezug auf die sich daraus ergebenden Effekte auf pädagogisches Handeln kritisch. 

Das zweite Kapitel „Sexualpädagogische Professionalisierung“ führt in den Stand der Forschung und Theoriebildung zu schulischer Sexualaufklärung und sexualpädagogische Professionalisierung in der Lehrer*innenbildung ein. Schließlich möchte Thuswald ihre vorliegende Studie bezugnehmend auf Czejkowska, Mecheril, Messerschmidt und Wrana in der kritischen Professionalisierung(sforschung) verorten (vgl. S. 97). So begreift Thuswald sexualpädagogische Aus- und Fortbildungen als Orte, „an denen professionelles Selbstverständnis er- und bearbeitet werden kann und an denen professionelle Deutungsmuster sowie Weisen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Handelns diskursiv zur Verfügung gestellt, diskutiert, angenommen, neu entworfen, bestätigt, verworfen oder verändert werden können“ (S. 102). Dies könne sowohl Entlastung als auch produktive Verunsicherung und Irritation bedeuten (vgl. ebd.). Als ein sensibilisierendes Konzept ihrer Untersuchung setzt die Forscherin das Konzept der Differenzordnungen nach Mecheril und Plößer in den Fokus.

Im dritten Kapitel „Ethnografie als Forschungsstrategie“ stellt Thuswald die methodologischen Grundannahmen und ihre methodische Herangehensweise vor und reflektiert ihre Positionierung als Forscherin im Feld. Ethno- bzw. Soziografie ziele Thuswald zufolge auf die „analytische bzw. theoretische Beschreibung einer spezifischen sozialen oder kulturellen Praxis […], die durch die sinnliche Erfahrung der Teilnahme und ihre methodisch angeleitete systematisierende Auswertung und Versprachlichung erforscht wird“ (S. 112, Herv. i. O.). Sich selbst als Forschungsobjekt und ihre Subjektivität als Erkenntnisinstrument bezieht die Forscherin dabei explizit mit ein (vgl. S. 122).

In Teil II wendet sich das nun folgende vierte Kapitel „Sexualpädagogische Bildungsveranstaltungen eröffnen“ dem empirischen Material zu. Zunächst werden die organisatorischen Rahmenbedingungen und die Zusammensetzung der verschiedenen Akteursgruppen sexualpädagogischer Aus- und Fortbildungen beschrieben. Thuswald stellt heraus, dass die Referent*innen wie die größtenteils weiblichen Teilnehmer*innen „mitnichten die Vielfalt der in Österreich lebenden Menschen repräsentieren“ (S. 151), wodurch insbesondere Erfahrungen von negativer Rassismusbetroffenheit oder Behinderungserfahrungen fehlen (vgl. ebd.). Im Zentrum des Kapitels steht eine dichte Beschreibung und kontrastierende Analyse von Anfangssituationen zweier sexualpädagogischer Fortbildungsveranstaltungen. Thuswald untersucht welche „Sprechräume“ (S. 143) sich durch die unterschiedliche Art und Weise der Adressierung des Themas und der Teilnehmer*innen konstituieren. Sie hält fest, wie Möglichkeiten des Sprechens über Sexualität produktiv eröffnet und erweitert werden können, indem durch die Referent*innen einerseits Barrieren abgebaut und gleichzeitig wichtige Begrenzungen hergestellt werden (vgl. S. 174).

In Kapitel fünf „Praxisorientierte Lernsettings gestalten“ identifiziert Thuswald insgesamt neun wiederkehrende Gestaltungselemente sexualpädagogischer Aus- und Fortbildungsveranstaltungen und beschreibt diese beobachteten didaktischen Praktiken in ihrer Varianz und Ähnlichkeit über die verschiedenen Fälle hinweg:

  1. „Sexualpädagogische Methoden erlebbar machen
  2. Plenargespräche über handlungspraktisches Wissen führen
  3. Wissenschaftliches Fachwissen präsentieren
  4. Studienergebnisse zu Jugendsexualität vorstellen
  5. Anonym gestellte Fragen von Kindern und Jugendlichen besprechen
  6. Biografische und professionelle Selbstreflexion initiieren
  7. Zum Teilen von persönlichen Erfahrungen einladen
  8. Sexualpädagogisches Probehandeln anleiten
  9. Einen Büchertisch und Snacks zur Verfügung stellen“ (S. 178).

Kapitel sechs „Professionelle Ansprüche und didaktische Spielräume ausloten“ nimmt die „Mikroebene pädagogischen Handelns“ (S. 221) in den Fokus und analysiert die Interaktionen zwischen den Beteiligten. Untersucht werden zunächst angewendete Methoden, die nicht sprachorientiert sind. Thuswald resümiert, dass das Potenzial visueller und künstlerischerer Materialien in der sexuellen (Fort-)Bildungsarbeit kaum genutzt werde (vgl. S. 253). Anhand des Beispiels wie Fortbildner*innen das Thema Pornografie aufgreifen, zeigt Thuswald auf, wie gleichzeitig sexualpädagogisches Handlungswissen und allgemeines themenbezogenes Wissen an die Teilnehmenden vermittelt werde, indem die Referent*innen demonstrieren, wie sie in der Praxis mit den Adressat*innen das jeweilige Thema besprechen (vgl. S. 241). In Bezug auf das beliebte „Synonyme-Spiel“ illustriert Thuswald wie ein und dieselbe sexualpädagogische Methode sehr unterschiedlich eingesetzt wird und wie dabei insbesondere das normkritische Potenzial der Methode (nicht) zur Geltung kommen könne (vgl. S. 253). Schließlich arbeitet die Autorin anhand einzelner Szenen ermöglichende und behindernde Bedingungen „dichter Bezogenheit“ (ebd.) heraus, die sie als Merkmal einer besonders lernförderlichen Interaktionsqualität versteht (vgl. S. 272).

Kapitel sieben „Zum Verständnis von Sexualität: Lebensenergie, Ausdruck von Liebe oder erotische Praxis?“ im machtkritischen Analyseteil der Studie fragt nach den jeweiligen Sexualitätsverständnissen, die in den beobachteten Veranstaltungen explizit vertreten werden oder sich implizit in bestimmten Sprechweisen ausdrücken, wenn bspw. demonstriert wird, wie Kindern Sex erklärt wird (vgl. S. 289ff). Thuswald arbeitet anhand des empirischen Materials heraus, dass zwar alle beobachteten Veranstaltungen grundsätzlich als „sexualfreundlich“ (S. 287) klassifiziert werden können, sich aber z.T. deutlich darin unterscheiden, ob das sich vermittelnde Sexualitätsverständnis für gewaltpräventive oder vielfaltsbejahende Botschaften Potenziale bietet oder Erschwernisse hervorruft (vgl. S. 305). Insbesondere in Bezug auf Geschlechterreflexivität stellt die Wissenschaftlerin Weiterentwicklungsbedarf fest (vgl. S. 310).

Auch in Kapitel acht „Sexuelle Vielfalt thematisieren: Heteronormativität herausfordern?“ kommt Thuswald zu dem Schluss, dass „Heteronormativitätskritik und die Thematisierung von geschlechtlicher, sexueller und amouröser Vielfalt […] kein geteiltes Anliegen“ (S. 350) der beobachteten Veranstaltung seien. Lediglich eine „akzeptierende Thematisierung von Homosexualität“ (ebd.) (dabei zum Teil als eine „Sonderform“ menschlicher Sexualität betrachtet) könne als professioneller Konsens ausgemacht werden.

Kapitel neun „Sexuelle Übergriffe zum Thema machen: (K)eine Sprache anbieten?“ nimmt die Sprechweisen bzw. Aussparungen zum Verhältnis von Sexualität und Gewalt in den beobachteten Fortbildungsveranstaltungen in den Blick. Auch hier konnte kein Konsens beobachtet werden, eine vertiefte Auseinandersetzung mit sexuellen Übergriffen, sexualisierter Gewalt und Präventions- und Interventionsarbeit als integralen Bestandteil einer sexualpädagogischen Professionalisierung zu begreifen, wie es die Autorin aus ihrer machtkritischen Perspektive fordert (vgl. S. 392).

Kapitel zehn „Möglichkeitsräume sexueller Bildung ausloten: Pädagogische Herausforderungen reflektieren“ begreift sich als ein „Resümee“ der ethnografischen Studie. Anhand der vier „Chiffren“ (S. 394) „Sprachlosigkeit, Verletzbarkeit, Lust und Emanzipation“ (ebd.) möchte Thuswald bedeutsame Herausforderungen sexualpädagogischer Professionalisierung für das Handlungsfeld Schule herausstellen, an die es für eine Weiterentwicklung von sexualpädagogischer Fortbildungspraxis und Theoriebildung stärker anzuknüpfen gelte (vgl. ebd):

  1. Wie können gesellschaftliche Machtverhältnisse auf eine Weise zur Sprache gebracht werden, „die vertiefte Einsicht fördert und dabei Handlungsfähigkeit im Sinne von Befreiung und Solidarisierung unterstützt“ (S. 403)?
  2. Wie kann didaktisch Diskriminierungs- und Othering-Prozesse entgegen gewirkt werden und wie kann zwischen einer „gesellschaftlich-politischen“ und einer „bedürfnis- und gefühlsorientierter“ (S. 411) Sprache eine machtkritische Thematisierung von Verletzbarkeit gelingen, ohne eine verkürzte und auf „Leiden und Opfer-Sein“ (ebd.) zentrierte Sichtweise zu befördern?
  3. Wie kann Lust und Begehren grenzachtend zur Sprache gebracht (vgl. S. 412), eine Befassung mit dem Tabu von erotischen Empfindungen in pädagogischen Beziehungen angestoßen (vgl. S. 416ff) und jenseits der Praxisorientierung auch die Lust an einer „vertiefender, reflektierter, kritischer und auch theoretischer Auseinandersetzung“ (S. 418) gefördert werden?
  4. Wie kann an eine emanzipatorische Tradition angeschlossen werden, um ein „Begehren nach einer solidarisch-befreiender Praxis“ (S. 420) wach zu halten? Inwieweit und unter welchen Bedingungen können sexuelle Bildungsveranstaltungen für (angehende) pädagogische Fachkräfte auch eine „Kultur lustvoller, grenzachtender, inklusiver und machtsensibler ars erotica“ (S. 428) stärken und praktisch erlebbar machen?

Im letzten Kapitel des Buches „Ausblick: Sexualpädagogische Fragen als Schlüsselproblem pädagogischer Professionalisierung“ schlägt die Autorin vor, sexualpädagogische Professionalisierung für Lehrkräfte nicht nur auf explizit sexualpädagogische Settings wie bspw. den Sexualkundeunterricht und den Einsatz von Methoden zu beschränken. Vielmehr sollten Pädagog*innen allgemein „stärker zur Bearbeitung sexualpädagogisch relevanter Alltagssituationen“ (S. 433) befähigt werden, in denen Phänomene rund um Intimität, Sexualität, Erotik, Körperlichkeit und Beziehung hervortreten oder als Themen verhandelt werden. Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen diene auch der allgemeinen Professionalisierung, da sie gemäß Thuswald genuin pädagogische Probleme zuspitzen und somit professionelles Selbstverständnis und Handeln in besonderer Weise herausfordern (vgl. S. 437).

Diskussion

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Marion Thuswalds Arbeit löst nach der Einschätzung des Rezensenten den vorangestellten Anspruch ein. Die in Österreich beobachteten wiederkehrenden didaktischen Praktiken und spezifischen Thematisierungsweisen vermögen auch bei Kenner*innen sexualpädagogischer Fortbildungs- oder Lehrveranstaltungen in Deutschland einen Eindruck des Vertrauten bewirken. Beim Lesen der Beobachtungen stellte sich beim Rezensenten bspw. an manchen Stellen ein amüsantes Gefühl des „Ertapptseins“ ein, wenn er sich in den protokollierten Äußerungen oder Vorgehensweisen der beobachteten Referent*innen wiederfand. Gleichzeitig gelingt es Thuswald durch die dichte Beschreibung, indem implizite Orientierungen explizit gemacht werden und die darauf aufbauende (macht-)kritische Analyse einen Entfremdungseffekt zu erzeugen, der eine Betrachtung aus Distanz ermöglicht und fortwährend einen Reflexionsprozess in Bezug auf die eigene praktische Lehrtätigkeit, das professionelle Selbstverständnis oder die theoretische Verortung und Perspektive auf sexuelle Bildung am Laufen hält. Während bspw. das im Rahmen des „SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt“-Forschungsprojekts entwickelte Curriculum sexualpädagogischen Lehrenden Handlungssicherheit verspricht, indem ein ausgearbeitetes und in fertige Module portioniertes Konzept samt einzelner Lernziele, Methoden und Literaturvorschläge geboten wird (vgl. Lache & Khamis 2022), zeigt Thuswald mit ihrer Arbeit das Potenzial einer ethnografischen Beobachtung verbunden mit einer machtkritischen Analyse für produktive Verunsicherungen und tiefergehende Reflexionen im Sinne einer kritischen Professionalisierung auf.

An dieser Stelle setzen die wenigen kritischen Anmerkungen an der Arbeit an: Trotz der vielfältigen Verweise in den theoretischen Ausführungen bleibt es nach Einschätzung des Rezensenten teilweise unklar, was Thuswald unter dem machtkritischen Zugang genau versteht und welche Fragestellungen sie an das empirische Material damit verbindet. In der Anwendung wurde jedoch deutlich, dass hier mit Machtkritik in erster Linie eine Normkritik insbesondere in Bezug zu heteronormativen geschlechtlichen und/oder sexuellen Zuschreibungen gemeint ist. Wie sexuelle Bildung in gegenwärtiger Theorie und Praxis darüber hinaus in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist, wird nur am Rande mit in den Blick genommen, indem bspw. angemerkt wird, dass die Lustfreundlichkeit auch zu einem „Lust-Imperativ“ werden könne, „der seinerseits eher Stress, Druck, Scham und Minderwertigkeitsgefühle“ (S. 419) erzeugt. Schade, dass dieser wichtige Gedanke nicht weiter ausgeführt und gesellschaftstheoretisch in Analysen übergreifender Optimierungsdynamiken eingeordnet wurde (zum Verhältnis von Bildung und Optimierung siehe bspw. Koller 2021). 

Widersprüchlich wirkt, dass Thuswald einerseits eine stärkere Geschlechterreflexivität in der sexuellen Bildung fordert, andererseits die Analysen und Reflexionen im Kapitel zur Thematisierung von sexuellen Übergriffen (vgl. S. 353ff) eine auffällige Dethematisierung von Geschlecht und dem Zusammenhängen von sexueller Gewalt und dem Geschlechterverhältnis und kulturellen Sexualitätskonstruktionen (insbesondere in Bezug zu männlicher Sexualität) (vgl. hierzu Glammeier 2018) aufweisen. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch kritische Anfragen an Thuswalds Argumentation für eine strikte analytische Trennung zwischen Sexualität und Gewalt (vgl. S. 358f) anstellen.

Äußerst positiv im Vergleich zu ähnlichen Fachveröffentlichungen hebt sich Thuswalds Beschäftigung mit dem sexualpädagogischen Theoriekanon ab, da die dort dominanten Positionen (bspw. zum Sexualitätsverständnis vgl. S. 284ff) nicht nur widergegeben sondern auch kritisch reflektiert und weiter gedacht werden. 

Während andere Vertreter*innen aus der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauch legitimierenden und initiierenden Wirkens Helmut Kentlers (der nach aktueller Erkenntnis nun auch als unmittelbarer Täter in den Blick gerät ebenso wie ein erweitertes Netzwerk an Mitwisser*innen und Unterstützer*innen, vgl. Baader, Schröer, Böttcher, Ehlke, Oppermann & Schröder 2022) den Schluss ziehen, sich vom Begriff der „Emanzipation“ gänzlich zu verabschieden (vgl. bspw. Voß 2022: S. 168), plädiert Thuswald für ein kritisches Neu- und Weiterdenken eines emanzipatorischen Anspruches. Mit einer emanzipatorischen Orientierung verbindet Thuswald den Wunsch, dass sexuelle Bildung sich von einem „Begehren nach einer solidarisch-befreienden Praxis“ (S. 420) leiten lassen soll.

Insgesamt spricht Thuswald viele wichtige und drängende Fragen und Herausforderungen sexueller Bildung in Theorie und Praxis an, was das Lesen der Studie zu einem gewinnbringenden Vergnügen macht

Fazit

Über welche didaktischen Praktiken und mit welchen Thematisierungsweisen der Themen rund um Sexualität werden sexualpädagogisches (Basis-)Wissen und Können an (angehende) pädagogische Fachkräfte und Lehrer*innen vermittelt und tragen somit auch zu einer allgemeinen Professionalisierung der Pädagog*innen bei? Thuswalds machtkritisch analysierte ethnografische Beobachtungen aus sexualpädagogischen Fortbildungsveranstaltungen in Österreich bieten nicht nur für Lehrende und Referent*innen im Bereich sexuelle Bildung Potenzial produktive Verunsicherungen hervorzurufen und ins Reflektieren der eigenen Praxis zu kommen. Auch an sexueller Bildungstheoriebildung interessierte Wissenschaftler*innen finden in den von Thuswald identifizierten Herausforderungen lohnende Anknüpfungspunkte. Zu wünschen ist, dass Thuswalds Arbeit auch in Deutschland starke Beachtung findet und zu einer kritischen Reflexion und einem Weiterdenken von Theorie und Praxis inspiriert.

Quellenangaben

Baader, Meike S.; Wolfgang, Schröer; Böttcher, Nastassia L.; Ehlke, Carolin; Oppermann, Carolin; Schröder, Julia (2022): Zwischenbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“ Laufzeit 2021–2022. Universität Hildesheim. Online verfügbar unter: https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/institut-fuer-sozial-und-organisationspaedagogik/forschung/​laufende-projekte/jugendhilfeberlin/, zuletzt geprüft am 12.01.2023.

Glammeier, Sandra (2018): Perspektiven der Geschlechtertheorie auf sexualisierte Gewalt. In: Alexandra Retkowski, Angelika Treibel und Elisabeth Tuider (Hg.): Handbuch sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 102–110.

Klein, Alexandra; Tuider, Elisabeth (Hg.) (2017): Sexualität und soziale Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH (Grundlagen der sozialen Arbeit, Band 40).

Koller, Hans-Christoph (2021): Komplizen oder Gegenspieler? Zum Verhältnis von Bildung und Optimierung. In: Henrike Terhart, Sandra Hofhues und Elke Kleinau (Hg.): Optimierung. Anschlüsse an den 27. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 45–62.

Lache, Lena; Khamis, Celina (2022): Das SeBiLe-Curriculum. Anliegen, Module und Evaluation. In: Maria Urban, Sabine Wienholz und Celina Khamis (Hg.): Sexuelle Bildung für das Lehramt. Zur Notwendigkeit der Professionalisierung. Gießen: Psychosozial-Verlag (Angewandte Sexualwissenschaft, 32), S. 115–168.

Mieruch, Christina; Henningsen, Anja (2022): Sexualitätskompetenz in der Hochschullehre. Vermittlung von Sexualitäts- und Grenzreflexivität. In: Anja Henningsen und Uwe Sielert (Hg.): Praxishandbuch Sexuelle Bildung, Prävention sexualisierter Gewalt und Antidiskriminierungsarbeit. wertvoll – divers – inklusiv. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 364–377.

Urban, Maria; Wienholz, Sabine; Khamis, Celina (Hg.) (2022): Sexuelle Bildung für das Lehramt. Zur Notwendigkeit der Professionalisierung. Gießen: Psychosozial-Verlag (Angewandte Sexualwissenschaft, 32).

Voß, Heinz-Jürgen (2022): Zur längst überfälligen Diskussion über Begriffe der Sexualpädagogik. In: Zeitschrift für Sexualforschung 53 (03), S. 170 – 171.

Rezension von
Yannick Zengler
Sexualpädagoge (gsp) M.A. Angewandte Sexualwissenschaft B.A. Erziehungswissenschaft / Soziologie
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Zitiervorschlag
Yannick Zengler. Rezension vom 18.01.2023 zu: Marion Thuswald: Sexuelle Bildung ermöglichen. Sprachlosigkeit, Lust, Verletzbarkeit und Emanzipation als Herausforderungen pädagogischer Professionalisierung. transcript (Bielefeld) 2022. ISBN 978-3-8376-5977-1. Reihe: Pädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29783.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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