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Hans Vogt: Der asymptomatische Mensch

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 10.03.2023

Cover Hans Vogt: Der asymptomatische Mensch ISBN 978-3-8376-5578-0

Hans Vogt: Der asymptomatische Mensch. Die Medikalisierung der Lebenswelt am Beispiel von Alzheimer und Demenz. transcript (Bielefeld) 2021. 235 Seiten. ISBN 978-3-8376-5578-0. D: 39,00 EUR, A: 39,00 EUR, CH: 47,60 sFr.
Reihe: Medical humanities - Band 9.

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Thema

Bei nichtheilbaren Erkrankungen wie z.B. chronischen Erkrankungen im Alter stehen nicht die Heilung sondern die Stabilisierung und die Gewährleistung des psychosozialen Gleichgewichts im Vordergrund. Neurodegenerative Demenzen wie z.B. die Alzheimer-Demenz nehmen in diesem Spektrum eine Zwischenposition ein, denn sie sind auch nicht heilbar und sie lassen sich zugleich auch nicht wie z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen als chronische Erkrankungen stabilisieren. Somit befinden sich neurodegenerative Demenzen regelrecht in einer Zwischenposition, da sie weder Heilung noch langfristige Stabilisierung als Perspektive besitzen. Für viele verliert in diesem Rahmen die Medizin einschließlich der Neurowissenschaften das unabdingbare Primat als Grundlage aller Leistungen und auch Leistungsbewertungen. Während bei Akut- und auch bei chronischen Erkrankungen die medizinischen Parameter den Orientierungsrahmen allen Handelns bilden, vermag die Medizin bei neurodegenerativen Demenzen keinen Leistungsanspruch zu erfüllen. Im Gegenteil, die Medizin oder genauer die medizinische Forschung wird angesichts regelmäßiger Ankündigungen, den Durchbruch bei der Heilung baldigst in Aussicht zu stellen, in verschiedenen Fachkreisen nicht mehr ganz ernst genommen. Dadurch verliert sie für viele auch ihre Deutungshoheit und wird manchmal schon als bloße Sisyphusarbeit bemitleidet (Lind 2022). Die vorliegende Studie kann im Rahmen dieser kritischen Sichtweise verortet werden.

Autor und Entstehungshintergrund

Hans Vogt ist Diplom-Soziologe. Er lebt in Berlin und „forscht vor allem zu gesellschaftlichen Kontexten der modernen Medizin“ (Verlagshinweis). Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um seine Dissertation an der Universität Gießen im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus vier Kapiteln nebst Einleitung.

In Kapitel 1 (Theorie, Seite 19 - 89) expliziert der Autor u.a. in Anlehnung an Foucault sein Konzept von Körper, Gesellschaft und Medizin, wobei er u.a. die Aspekte der „Kontrollgesellschaft“ (Gilles Deleuze) und der Medizin als eine „Stützkonzeption mit biopolitischen Monopol“ (Foucault) beschreibt. Hierauf aufbauend wird im Anschluss die strukturelle Funktion der Prävention im Rahmen von Gesellschaft und Medizin erörtert. Es folgen Ausführungen über die Untersuchungen von Alois Alzheimer und die Entstehung der Begrifflichkeit Alzheimer-Krankheit vor ca. 100 Jahren. Des Weiteren beschreibt Vogt den gegenwärtig wissenschaftlich noch nicht geklärten Sachverhalt, dass Klinik und Pathologie bei der Alzheimerdemenz nicht immer übereinstimmen. So sind z.B. bei klinisch diagnostizierten Demenzkranken nach dem Tod keine hirnpathologisch demenztypischen Merkmale festgestellt worden. Und umgekehrt ist bei Personen ohne jedwede klinische Symptomatik nach dem Tod ein massiver pathologischer Abbau (u.a. Atrophie und Neurofibrillen) obduziert worden. Dies veranlasst den Autor, zwischen einer „klinischen Alzheimer-Krankheit“ und einer „pathologischen Alzheimer-Krankheit“ zu unterscheiden.

Kapitel 2 (Methode, Seite 91 - 116) enthält die Darstellung des methodischen Vorgehens des Autors. Die Grundlage bildet die wissenssoziologische Diskursanalyse und die „Grounded Theory“ dient als Basis für die empirische Datenerhebung. Des Weiteren werden u.a. qualitative leitfadengestützte Experteninterviews und Beschreibungen von Konferenzteilnahmen als Erfassungsmodalitäten bzw. „Mixed Methods“ des Sujets angeführt.

In Kapitel 3 (Analyse des empirischen Materials, Seite 117 - 185) werden recht detailliert die Ergebnisse der Experteninterviews mit fünf namentlich nicht genannten Neurowissenschaftlern, die alle in der Hirn- und klinischen Forschung der Alzheimerdemenz tätig sind, u.a. bezüglich möglicher neuer Erkenntnisse hinsichtlich eines zu erwartenden Durchbruchs dargestellt. Umstritten ist u.a. der Sachverhalt, ob das Wissen über die seltene familiär und damit eindeutig genetisch verursachte Alzheimerdemenz so ganz ohne Abstriche auf die sporadische Variante der Alzheimerdemenz übertragbar ist. Darüber hinaus ist man sich nicht sicher, ob die Amyloid-Kaskaden-Hypothese allein als entscheidende Krankheitsursache tragfähig genug ist, wird sie doch als äußerst simpel eingeschätzt. Da sich jedoch gegenwärtig keine überzeugende Alternative als Kernhypothese in der Forschung durchsetzen konnte, wird gegenwärtig weiterhin auf der Grundlage der Amyloid-Kaskaden-Hypothese geforscht.

Im Folgenden geht der Autor eingehend auf seinen Beitrag „Demenz als Folge der Therapie“ ein, den er als „namenloser Sozialwissenschaftler“ (Seite 148) nach fast einjähriger Korrespondenz 2017 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichen konnte. Im Anschluss setzt er sich mit der Replik von Frank Jessen („Medikation im höheren Lebensalter“ im ebenfalls Deutschen Ärzteblatt 2017) auseinander, der die Aussage von Hans Vogt mit der Einschätzung relativiert: „Die Kritik sollte sich also nicht gegen die Medikamente an sich richten, sondern gegen deren nicht angemessenen Einsatz.“

Den Abschluss des Kapitels bilden drei „essayistisch-dichte“ Beschreibungen der Alzheimer-Konferenzen in Weimar 2018, Barcelona 2018 und Den Haag 2019, an die der Autor im Rahmen seiner Untersuchung teils beobachtend teilnahm.

In Kapitel 4 (Synthese, Seite 187 - 220) entfaltet der Autor zusammenfassend sein Konzept des „asymptotischen Menschen“ auf der Grundlage verschiedener Projekte zur Frühdiagnostik der Alzheimerdemenz. Hierbei handelt es sich um Personen, die zwar keine demenzspezifischen Krankheitssymptome zeigen, jedoch aufgrund ihrer abweichenden Hirnphysiologie nach Ansicht des Autors einen Krankheitsstatus erhalten: „Es scheint, als sei die Gesellschaft bereit, diesem Bedürfnisse erzeugenden Frühdiagnostik-Projekt zu folgen, um aus gesunden Menschen dezidiert asymptotische Patienten zu machen.“ (Seite 198). Zur Begründung dieser These wird u.a. auf das Konzept des Menschen als „Dividuums“ als ein teilbares und in Faktoren zerlegbares Objekt im Gegensatz zum Menschen als ein unteilbares Individuum rekurriert. In Anlehnung an Foucault vollzieht sich dieser Wandel der Person auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen von „Disziplinierungsgesellschaften“ hin zu „Kontrollgesellschaften“, die u.a. durch Verschiebung der „Bio-Macht“ hervorgerufen werden.

Diskussion

Die vorliegende Arbeit enthält etwas Verwirrendes, werden doch zwei Erfassungsebenen der Wirklichkeit unstatthaft miteinander vermengt: die Ebene biologisch-medizinischer Forschung und die Ebene philosophischer und damit geisteswissenschaftlicher Reflexion über gesellschaftliche Veränderungen. Konkret äußert sich dieser Erklärungsversuch anhand der aktuellen Alzheimerforschung mittels zweier wissenschaftlich nicht vertretbarer Vorgehensweisen: der Verzerrung durch Unvollständigkeit und der Verzerrung durch Unangemessenheit und damit zugleich Überdehnung.

Die Verzerrung durch Unvollständigkeit zeigt sich in der Darstellung der partiellen Inkongruenz von Pathologie und Klinik, indem der Autor die einschlägige Datenlage nur bruchstückhaft angibt. So stimmen nach der Nonnenstudie (Snowdon 2001) in ca. 80 Prozent der Fälle Hirnpathologie und klinische Symptomatik überein, wenn die Fälle mit einer kognitiven Reservekapazität (ca. 30 Prozent) mit einbezogen werden. Befremdlich ist in diesem Zusammenhang der Sachverhalt, dass der Gegenstandsbereich „kognitive Reservekapazität“ bezüglich seiner genetischer Ätiologie und seiner vaskulären Begrenztheit in dieser Studie keine Erwähnung findet (Hamann 2018).

Die Verzerrung durch Unvollständigkeit wird des Weiteren in der Ausklammerung der klinischen Symptomatik in Gestalt des progredient verlaufenden neuropathologischen Abbauprozesses der primären Demenzen gezeigt. Gemäß dem Stand der Forschung einschließlich der klinischen Diagnostik verläuft dieser degenerative Prozess irreversibel entgegengesetzt der Hirnreifung (Retrogenese) (Reisberg et al. 1999). In diesem Zusammenhang irrt der Autor, wenn er u.a. ausführt, dass die Plaques, die Neurofibrillen und die Hirnatrophie das Pathologische der Alzheimerdemenz ausmachen (Seite 188). Das Pathologische der Alzheimerdemenz und der anderen primären Demenzen besteht letztlich aus dem unaufhaltsamen krankhaften Verlust an geistigen und körperlichen Fähigkeiten mitsamt den damit verbundenen Leidensprozessen.

Die Verzerrung durch Unangemessenheit und damit Überdehnung manifestiert sich in dem Unterfangen, den begrenzten Forschungsbereich bezüglich der Prodromalphase der Alzheimerdemenz unstatthaft auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen auszudehnen, indem er eine „Medikalisierung der Lebenswelt“ prognostiziert. Und wenn er dabei auf die Terminologie philosophischer Deutungen (Foucault u.a.) zurückgreift, erhält das Ganze noch einen unheimlichen und teils dystopischen Charakter. So werden z.B. die Begriffe „Bio-Macht“, „Disziplinierungsgesellschaften“ und „Kontrollgesellschaften“ in diesem Zusammenhang weder erläutert noch in Bezug zur Alzheimerforschung gebracht, fehlen doch die hierfür erforderlichen Ableitungs- und Vermittlungsschritte. So muss sich dann der Autor vorwerfen lassen, hierbei willkürlich und unangemessen vorzugehen. Eine Erfassung und Durchdringung des Themenkomplexes gemäß wissenschaftlicher Standards hingegen erfordert ein Mindestmaß an Adäquatheit der Begriffe, Methoden und Analyseschritte.

Fazit

Es bleibt festzustellen, dass die vorliegende Studie aufgrund fehlenden Fachwissens und der Thematik nicht angemessener Reflexionsmodalitäten keine neuen Erkenntnisse zum Themenfeld Alzheimerforschung ermitteln konnte. Dem Autor, der sich selbst als ein „namenloser Sozialwissenschaftler“ bezeichnet, wird es somit aus der Sicht des Rezensenten mit dieser Publikation nicht gelingen, sich in Fachkreisen einen Namen zu machen.

Literatur

Hamann, G. F. (2018) Vaskuläre Demenz. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (353-366)

Lind, S. (2022) Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 11) https://www.svenlind.de/2022/05/15/vorarbeiten-fuer-die-entwicklung-einer-theorie-der-demenzpflege-teil-11/

Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7–23)

Snowdon, D. (2001) Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen. München: Karl Blessing Verlag.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 228 Rezensionen von Sven Lind.

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ISSN 2190-9245