Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Jürgen Müller: Von Beruf FörderschullehrerIn

Rezensiert von Prof. Dr. Roland Stein, 13.11.2023

Cover Jürgen Müller: Von Beruf FörderschullehrerIn ISBN 978-3-8253-8354-1

Jürgen Müller: Von Beruf FörderschullehrerIn. Motivation, Selbstverständnis, schul- und unterrichtsbezogene subjektive Theorien im Arbeitsfeld Förderschule. Universitätsverlag Winter (Heidelberg) 2022. 516 Seiten. ISBN 978-3-8253-8354-1. D: 62,00 EUR, A: 63,80 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Fragen der Sonderpädagogik als Profession wurden und werden viel diskutiert und sind essentiell für die Ausrichtung, aber auch die Weiterentwicklung eines Faches, das sich seiner selbst vergegenwärtigt. Allerdings gibt es wenig Studien, die sich mit der Frage des Selbstverständnisses von Sonderpädagogen in der Praxis auseinandersetzen – auch, um von hier aus zurückzufragen zur grundsätzlichen, auch wissenschaftlich gestützten Sicht einer dahinter stehenden, wissenschaftlich orientierten Profession selbst. Der Autor setzt sich mit dieser Thematik für den sonderpädagogischen Teilbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen bzw. – schulisch – im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung auseinander, spezifisch bezogen auf die subjektiven Theorien von Personen in der schulischen Praxis dieses Bereiches.

Autor

Über den Autoren Jürgen Müller finden sich weder im Buch noch auf den Verlagsseiten oder im Internet Hinweise. Aus dem Vorwort ergibt sich, dass der Autor knapp ein Jahr als Pflegehelfer in einer psychiatrischen Einrichtung und dann zwölf Jahre als Erzieher im Gruppendienst verschiedener Einrichtungen der Erziehungshilfe tätig war. Er absolvierte ein erstes Staatsexamen für das Lehramt an Realschulen und ein Diplom in Pädagogik/​Erziehungswissenschaften.

In Analogie zum vorliegenden, hier rezensierten Buch hatte Jürgen Müller anhand von 11 Interviews das berufliche Selbstverständnis von sozialpädagogischen Fachkräften in der Heimerziehung untersucht (Müller 2006). Mit diesem Buch und zwei anderen Teilen wurde er 2005 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zu Fragen disziplin- und professionsorientierter Wissensformen in der Heimerziehung promoviert.

Entstehungshintergrund

Das Buch entstand aus dem persönlichen Interesse des Autoren am Berufsverständnis der untersuchten Lehrergruppe, der er, wie sich aus dem Vorwort ergibt, wohl als Mitglied angehörte, sowie deren sonder- bzw. „förderpädagogischer“ Qualifizierung. Ihn interessierten hier Motivation, Selbstverständnis, Intentionen sowie methodisches Repertoire, welche diese Lehrkräfte mitbrachten und mit welchen sie arbeiteten – gestützt durch eine eigene nicht nur praktische, sondern eben auch wissenschaftliche Orientierung. Die Interviews wurden im Winter 2008/2009 durchgeführt.

Parallel zu diesem Buch ist, auch 2022, ein anderes desselben Autoren erschienen: „Sonderpädagogik als Profession: Wissen- Können – Haltung“, Dr. Kovač, Hamburg. Beide Bücher sind über weite Bereiche identisch, bis in wortgleiche lange Textpassagen hinein, und sie beziehen sich auf denselben, zugleich sehr analog ausgewerteten Datensatz – sie weisen jedoch auch kleinere und im Theorieteil größere Unterschiede auf, dahingehend, was die Stoßrichtung der Analyse der eigenen Daten angeht. Im Gesamtbild legt der Verfasser damit einen Textkorpus von etwa 1.000 Seiten vor. Ein direkter Vergleich beider Bücher ist nicht Thema dieser Rezension.

Aufbau und Inhalt

Nach einem knappen Vorwort ist das Buch in fünf Hauptteile gegliedert: Einleitung, theoretische und empirische Rahmung, methodologische Grundlagen, empirische Befunde (der eigenen Untersuchung) sowie Schlussbetrachtung.

Unter dieser Hauptrahmung finden sich neben der Einleitung acht Hauptkapitel:

  1. In einer Einleitung finden sich grundlegende Gedanken zum Thema, Überlegungen zur Arbeit selbst, deren Zielsetzungen und Untersuchungsschwerpunkten sowie ihrer Struktur.
  2. Die Kapitel 1. und 2. werden dem Feld theoretischer und empirischer Rahmung zugeordnet. Im ersten Hauptkapitel geht es zunächst um „Professionsentwicklung und Disziplinwerdung“ der Sonderpädagogik und spezifisch der Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Dabei wird auch die Beschulung erziehungsschwieriger Kinder und Jugendlicher durchleuchtet, um dann spezifische Aspekte dieses Faches zu betrachten: Entwicklung, Förderkonzepte, Didaktik sowie das Verhältnis zur Therapie.
  3. Das zweite Hauptkapitel widmet sich der Frage der Berufstheorie im Sinne professionsbezogener und disziplinärer Diskurse. Sonderpädagogische Tätigkeit wird hier näher bestimmt, auch als „Berufsbild Sonderpädagoge“, um dann sonderpädagogisches Handeln antinomisch zu betrachten, bezogen auf verschiedene aufgaben- und rollenbezogene Spannungsfelder, und dann, als Brücke zur Methodologie, Lehrerprofessionalität strukturtheoretisch zu betrachten und sonderpädagogische Professionsforschung darzustellen.
  4. Das dritte Hauptkapitel repräsentiert zugleich den dritten Hauptteil: Hier geht es um methodologische Vorüberlegungen und Verfahrensweisen für die eigene Untersuchung. Diese wird im qualitativen Paradigma verortet, unter besonderem Bezug auf das Forschungsprogramm Subjektive Theorien, in der Folge allerdings ergänzt durch qualitative Inhaltsanalyse. Das Forschungsdesign wird vorgestellt, orientiert an Leitfadeninterviews sowie im Hinblick auf die Datenanalyse an Struktur-Lege-Verfahren sowie – wiederum – qualitativer Inhaltsanalyse und Subjektiver Theorie, indem fall-, kategorien- und typenorientiert vorgegangen werden soll. Auch Feldzugang und Stichprobenauswahl werden hier vorgestellt.
  5. Im vierten Hauptteil finden sich die eigenen Befunde. Dieser ist in drei Hauptkapitel gegliedert. Im Hauptkapitel vier der Arbeit geht es um eine fallbezogene Analyse des Datenkorpus, indem alle 16 erhobenen Profile vorgestellt werden. Diese sind fünf Foki zugeordnet: Anthropologie, Lehrerpersönlichkeit, Beziehung, methodisch intendiertes Handeln sowie Zielorientierung. Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis schließen sich an.
  6. Das fünfte Hauptkapitel repräsentiert den kategorienbezogenen Zugang zu den Daten. Es bietet zwei Fokussierungen: zum einen berufliches Selbstverständnis, zum anderen Schul- und Unterrichtstheorien. Im Rahmen dieser zwei Zugänge werden verschiedene Aspekte untersucht: Kinder- und Menschenbild, Werte und Ziele, Lehrer als Erzieher bzw. Therapeuten zum einen sowie Schultheorien und unterrichtliche Leitvorstellungen und Unterrichtsalltag zum anderen.
  7. Das sechste Hauptkapitel schließlich betrachtet den Datenkorpus aus einem typenbezogenen bzw. typenbildenden Zugang heraus. Dies geschieht unter vier Perspektiven: dem Blick aufs „Eigene“, dem Blick auf die Schülerschaft, dem Blick auf den Handlungskontext Unterricht sowie demjenigen auf den Handlungskontext der Rahmenbedingungen und Ermöglichungsformen.
  8. Eine vierte Analyse des Datenmaterials widmet sich im siebten Kapitel zu subjektiven Theorien und der Bearbeitung ambivalenter Unterrichtsherausforderungen vier Antinomien: Nähe-Distanz, Subsumtion-Rekonstruktion, Sachbezug-Lebensweltorientierung sowie Autonomie-Heteronomie.
  9. Schließlich besteht der fünfte Hauptteil wiederum aus nur einem Kapitel: der Schlussbetrachtung, die gleichsam Rück- wie Ausblick bieten soll. Hier werden Fragen der Disziplin und der Profession betrachtet, um dann die zentralen eigenen Befunde nochmals zusammenzufassen und in Form von acht „komparativen Verdichtungen“ ein knappes Resümee zu ziehen.

Dem Buch werden neben einem Literatur- auch ein Abbildungs- und ein Tabellenverzeichnis beigefügt.

Diskussion

Mit diesem Buch stellt sich der Verfasser einer wichtigen, bisher zu wenig beleuchteten Aufgabenstellung: das berufsbezogene Selbstverständnis von Lehrkräften für Sonderpädagogik in der Praxis zu untersuchen. Die Arbeit zeugt von großem Engagement und die Daten sind grundsätzlich interessant.

Im Grundlagenteil wird viel relevante Literatur zusammengetragen und dargestellt. Dabei wird zugleich sehr viel referiert, und der Leser hätte sich mehr eigenständige Erarbeitung und Kondensierung gewünscht. Die Rezeption etlicher Quellen erfolgt sehr ausführlich und eng am Original und hat oft eher aufzählenden Charakter. Zugleich bleibt manches eher oberflächlich, und Quellen werden teilweise auch anhand einer Rezension zu dieser dargestellt. Insgesamt wird hier Wichtiges zusammengetragen, aber der Textkorpus hätte durch eigenständigere Verbindungen und Reflexionen deutlich gerafft und nach vorne gebracht werden können. Auch ist bedauerlich, dass der Verfasser kaum Literatur nach 2009 aufgenommen hat, mit der Begründung, dass die Interviews bis 2009 durchgeführt wurden – wenngleich das Buch 2022 erschienen ist. Dem ist möglicherweise auch geschuldet, dass die Disziplin, in den letzten 20 Jahren kaum noch üblich, als „Verhaltensgestörtenpädagogik“ benannt wird. – Dennoch ergibt sich insgesamt ein solides Bild des Theorie- und Forschungsstandes bis 2009. Auch die Reflexion methodologischer Grundlagen hätte gezielt kondensiert werden können, erweist sich jedoch zugleich als ausgesprochen differenziert und als sehr gute Grundlage für die eigene Untersuchung.

Die Darstellung eigener Befunde folgt systematisch den drei forschungsmethodisch grundlegenden Perspektiven fall-, kategorien- und typenbezogen. Insofern wird der Datenkorpus aus diesen drei Blickwinkeln heraus differenziert analysiert, ergänzt durch einen interessanten Blick auf vier durchaus bedeutsame Antinomien der hier spezifischen Professionalität. Damit wird die Darstellung allerdings mit fast 280 Seiten extrem ausführlich. Bereichernd sind hier insbesondere Systematisierungen im Rahmen der Typenbildung zu den Aspekten gesellschaftsorientierter versus subjektorientierter Funktionen von Schule zum einen sowie einer dysfunktionalen versus funktionalen Sicht auf die Ermöglichungsform von Schonraum, aus der heraus in einer Art Vierfelderschema vier Typen professionellen Selbstverständnisses herausgearbeitet werden: makrotheoretisch versus mikrotheoretisch orientierte Optimisten versus Pessimisten. Der Datensatz wird insofern auf vierfache Weise, sprich aus vier Perspektiven und Herangehensweisen heraus sehr intensiv analysiert.

Die Stichprobe ist mit 16 Lehrkräften aus einer speziellen Schule in einem Bundesland, der noch dazu der Autor offenbar als Kollege angehört oder angehörte, sehr eng, und wissenschaftlich bewegt sich der Verfasser damit in einer Doppelrolle. Die Untersuchten werden auch durchgängig als „Kollegen“ bezeichnet. Auf Basis der Stichprobe ist die Repräsentativität und Generalisierbarkeit der Befunde sehr begrenzt. Auch wäre eine stärkere Aufarbeitung einschlägiger Literatur der letzten 15 Jahre wünschenswert gewesen. Dennoch bietet die Arbeit sehr interessante Mikro-Einblicke in die Diskussion sonderpädagogischer Professionalität in einem spezifischen, wenig beforschten Feld, und auch die Befunde dazu sind bereichernd und können wichtige Impulse liefern.

In der Schlussbetrachtung baut der Verfasser die Brücke zwischen den eigenen Befunden und der Diskussion um sonderpädagogische Professionalität, spezifisch im adressierten Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung beziehungsweise schulischer Erziehungshilfe/Pädagogik bei Verhaltensstörungen, hier besonders auch Fragen der Unterrichtsgestaltung sowie -führung sowie deren Rahmenbedingungen und den Fokus Erziehung. Dabei ist allerdings wiederum die Eingeschränktheit der eigenen Datenbasis zu bedenken. Hier wird auch auf neuere Literatur aus der Fachszene Bezug genommen, jedoch selektiv und eingeschränkt, und es erfolgt nur bedingt eine Rückbildung an die Breite und Aktualität der Fachdiskussion im Kontext Pädagogik bei Verhaltensstörungen, spezifisch bezogen auf schulische Aufgabenfelder der und in speziellen Schulen. Dennoch ergeben sich auch hier interessante Gedanken sowie Impulse und Implikationen für die weitere Diskussion sonderpädagogischer Professionalität, spezifisch im Feld Schule und hier im Bereich des Förderschwerpunkts emotional-soziale Entwicklung. Dabei sind, im Vergleich zum stark rezeptiven Vorgehen im Grundlagenteil, die eigenständigen Interpretationen der Daten bezogen auf sonderpädagogische Professionalität in der unterrichtlichen Praxis des hier beleuchteten Feldes hervorzuheben, als Exempel für andere sonderpädagogische Förderschwerpunkte. Diese Impulse gelten anhand des in diesem Feld recht innovativen Vorgehens auch für die weitere methodologische Forschungsdiskussion.

Angemerkt sei, dass der Begriff Förderschullehrer, schon im Titel, spezifisch in Rheinland-Pfalz gebräuchlich, Missverstände erzeugen kann, da er in anderen Bundesländern wenig üblich und teilweise auch inhaltlich anders gebunden ist.

Fazit

Auf Basis des stark referierenden und des dezidiert wissenschaftlichen Charakters wird das Buch es schwer haben, in die Praxis vorzudringen, aber für die sonderpädagogische Professionsforschung, für sonderpädagogische Institute, Lehrstühle und Studienstätten stellt es, wenngleich bei sehr engem Datenkorpus, auf Basis der differenzierten Methodologie, den aspektreichen Analysen und verschiedener interessanter Impulse trotz der stichprobenbezogenen deutlichen Limitationen eine wissenschaftliche Arbeit dar, die in der Fach-, Professionalitäts- und Selbstverständnis-Diskussion unbedingt wahrgenommen und diskutiert werden sollte.

Rezension von
Prof. Dr. Roland Stein
Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik - Pädagogik bei Verhaltensstörungen
Website
Mailformular

Es gibt 32 Rezensionen von Roland Stein.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Roland Stein. Rezension vom 13.11.2023 zu: Jürgen Müller: Von Beruf FörderschullehrerIn. Motivation, Selbstverständnis, schul- und unterrichtsbezogene subjektive Theorien im Arbeitsfeld Förderschule. Universitätsverlag Winter (Heidelberg) 2022. ISBN 978-3-8253-8354-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29787.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht