Helmut Bachmaier, Bernd Seeberger (Hrsg.): Religiosität im Alter
Rezensiert von Dr. Hasan Gencel, 30.11.2022

Helmut Bachmaier, Bernd Seeberger (Hrsg.): Religiosität im Alter. Wallstein Verlag (Göttingen) 2022. 294 Seiten. ISBN 978-3-8353-5137-0. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Die Menschheit ist lange geprägt von der Fragestellung nach dem Sinn des Lebens und in diesem Kontext wurde und wird häufig nach einer Orientierung in Religionen gesucht. So werden alle Phasen des Lebens von der Geburt bis zum Ende des Lebens unter Einbeziehung von vielen Bewertungskriterien beleuchtet. Die Sinnfrage nimmt allerdings tendenziell im Laufe des Lebens an Bedeutung zu. In diesem Sammelband wird das wichtige Thema Religiosität im Alter bearbeitet.
Herausgeber
Helmut Bachmaier lehrte an der Universität in Konstanz und ist Professor für Neuere deutsche Literatur. Er beschäftigte sich als wissenschaftlicher Direktor der Tertianum-Gruppe (Schweiz) mit sozialen und kulturellen Altersthemen.
Bernd Seeberger ist Seniorprofessor an der Umit Universität in Hall/Tirol (Österreich) und leitete dort das Institut für Gerontologie und demographische Entwicklung. Sein Forschungsschwerpunkt ist soziale und kulturelle Gerontologie.
Entstehungshintergrund
Das Thema Religion und Alter soll facettenreich in diesem Werk betrachtet werden. Daher untersuchen die Autoren die zentralen Fragen des Alters unter Berücksichtigung der Multiperspektivität bzw. Interdisziplinarität und versuchen somit, ein Desiderat in der Forschung ein Stück weit zu schließen.
Aufbau
Das Buch wird in fünf Abschnitten, mit je zwei bis vier Beiträgen, eingeteilt. Nach der Einleitung wird im ersten Abschnitt das Thema Religion und Alter unter philosophischen Perspektiven beleuchtet. Im Zweiten werden Altersbilder in Religionen diskutiert. Anschließend werden die Themenkomplexe Religion, Gerontologie sowie Gemeindeleben unter diversen Schwerpunktthemen dargestellt. Im vorletzten Abschnitt wird das Thema Religion und Demenz verknüpft und analysiert. Glaube und Wissenschaft wird am Ende des Buches mit zwei Beiträgen zusammengebracht.
Inhalt
Da der Sammelband zahlreiche Beiträge beinhaltet, die von verschiedenen Autoren verfasst wurden, können hier nur einige zusammengefasst und vorgestellt werden.
Abschnitt 1: Philosophische Perspektiven
Helmut Bachmaier bezieht sich in seinem Beitrag „Die Transzendenz des Lebens“ auf die Ausführungen auf Georg Simmels erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Religion. Die Religion wird als formale Kategorie und die Religiosität als eine Art inneren Daseins beschrieben. Sie wird als die Beziehung auf ein Transzendentes gesehen. Die Transzendenz in der Immanenz ist eine wichtige Ursache dafür, dass die Religion als eine Ausgestaltung des Lebens gesehen wird. Es gibt den Menschen die Möglichkeit der Selbsttranszendenz.
Esfandiar Tabari arbeitet eine agnostische Ethik aus, welche im Zentrum die Bescheidenheit als Prinzip positioniert wird. Sie wird in drei Konzeptregeln konkretisiert: negative, positive sowie kooperative Regeln der Bescheidenheit. Menschen und vor allem ältere Menschen, sollen ihre Fähigkeiten besser einschätzen und nicht alles, was sie tun oder nicht tun können, auch tun. Dies führt zu einem höheren Wohlbefinden. Zudem sollen sie die Interessen der Gemeinschaft und Institutionen stärker in ihren Handlungen beachten. Es werden weiterhin die Begriffe Begierde und Sorge unter agnostische Deutung reflektiert. Besonders werden in diesem Kontext auf Endlichkeit, Grenzerfahrungen/-überschreitungen sowie auf hohes Alter eingegangen.
Abschnitt 2: Altersbilder in Religionen
Heinz Rüegger bringt in seinem Aufsatz „Alter in christlicher Perspektive“ die Lebensphasen im Alter aus gerontologischer und christlicher Sicht zusammen. Es wird auf das christliche Menschenbild eingegangen und daraus die Grundhaltung für den Alterungsprozess beschrieben. Das Leben wird als Gabe Gottes verstanden und die kontingente Würde des Alters bedeutet den eigenen Alterungsprozess zu akzeptieren. Menschen haben nach christlichem Glauben Fähigkeiten und Ressourcen, die von Gott gegeben sind und die man im Leben, z.B. in der Gemeinschaft der Kirche, entfalten kann. Ein gelungenes Leben beinhaltet, dass man „alt und lebenssatt“ sterben kann. Das Leben wird als Fragment angesehen und die Vollendung kann nur durch Gott entstehen.
Rifa'at Lenzin stellt das „Menschenbild im Koran“ vor. In diesem Beitrag wird das Glaubensbekenntnis (Shahada) sowie die Erschaffung und Zweckbestimmung des Menschen in Qur'an erläutert. Der Mensch wird in der Welt von Gott auf Probe gestellt und Krankheit, Leiden und das Altern sind der Ausdruck des göttlichen Willens. Die Einstellung zum Alter nimmt im Islam eine wichtige Rolle ein. So kann man im Qur'an in den Verhaltensanweisungen zu den Eltern exemplarisch erkennen, welchen Stellenwert das Altern hat. Gegenüber ihren Eltern sollten die Menschen barmherzig, freundlich und folgsam sein. Besonders, wenn sie betagt und pflegebedürftig sind, sollten sie der Hilfe und Güte ihrer erwachsenen Kinder sicher sein.
Abschnitt 3: Religion, Gerontologie und Gemeindeleben
Bernd Seeberger und Martin Pallauf beschäftigen sich mit dem Thema „Religiöse Praxis älterer Menschen heute“. Für diesen Beitrag wurde zunächst eine empirische Studie durchgeführt. Die Erhebung fand mittels mixed method-Design (quantitativ und qualitativ) statt und die qualitativen Daten wurden mit der Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet. Zehn Kategorien und einer Vielzahl von Unterkategorien konnten so ermittelt werden. Einige Kategorien lauten: Bedeutung der Religion im Elternhaus, den Glauben öffentlich leben oder Beweggründe zur Distanzierung der Menschen. Es werden neben den qualitativen auch ergänzend quantitative Daten präsentiert. Abschließend werden ausgewählte Ergebnisse interpretiert und diskutiert. So wird beispielsweise der kulturelle Wandel in Zusammenhang mit der nachlassenden Bedeutung von Religion über alle Altersstufen reflektiert.
Gerd Schuster beleuchtet in seinem Aufsatz „Kirchlich geprägtes Gemeindeleben: Chancen durch und für ältere Menschen“ den Begriff Gemeindeleben der Christen sowie dessen Geschichte. Die aktuellen Veränderungen der Rahmenbedingungen z.B. wie Stadt-Land-Gefälle zwingen auch das Gemeindeleben, sich anzupassen. Hier werden neue Angebote konzipiert und Mobilität wird in diesem Kontext immer wichtiger, um den wandelnden Anforderungen gerecht zu werden. Somit wird sowohl das profan als auch sakral verstandene Gemeindeleben fortlaufend verändert. Diese Änderungen sprechen allerdings nicht alle älteren Gottesdienstbesucher:innen an und sorgen für Irritationen oder sogar für Ablehnungen. In der Neustrukturierung des Gemeindelebens sollten alle Interessen und Potenziale der unterschiedlichen Generationen – vor allem auch der älteren Mitglieder:innen – berücksichtigt werden, damit jeder die Möglichkeit bekommt einen Raum für Entfaltung und Identifizierung zu erhalten.
Abschnitt 4: Religion und Demenz
Christian Müller-Hergl in seinem Essay „Demenz als Herausforderung der Theologie“ geht der Autor der Frage nach, wie die Krankheit Demenz auf die Beziehung zu Gott wirkt. Christlicher Glaube kann nicht ohne Bekenntnis auskommen und sie bezieht sich somit auf eine Geschichte Gottes mit den Menschen. Der Mensch hat die Aufgabe, sich daran zu erinnern. Diese kann er jedoch nicht wahrnehmen, wenn er durch seine Demenzerkrankung nicht im Stande ist. Trotzdem ist die Beziehung zu Gott bewahrt, da eine substitutive Erinnerung bestehen bleibt als Leib Christi in der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Beziehung wird getragen von Gott, der das Erinnern und Glauben in sich selbst hat. Somit sollte die Verbindung zwischen Gott und den Menschen nicht allein als das Konzept „Erinnerung“ verstanden, sondern hier auch die Perspektive der Christologie und Vollendung des Menschen berücksichtigt werden.
Abschnitt 5: Glaube und Wissenschaften
Brigitte Stemmer bearbeitet in ihrem Beitrag das Thema „Religion und Religiosität aus neurowissenschaftlicher Sicht“ unter Berücksichtigung internationaler Studien. Es wird beispielsweise der Frage nachgegangen, ob Religiosität genetisch bedingt ist und ob Veranlagung oder Umwelteinflüsse bei der Religiosität eine stärkere Rolle spielen. Dabei wird auch auf Zwillingsstudien eingegangen. Daneben werden Hirnaktivitäten, -strukturen und -mechanismen bei erkrankten und gesunden Menschen anhand von Studienergebnissen diskutiert. Die Ergebnisse zeigen, dass Religion und Neurowissenschaften ein komplexes Thema darstellen und dass viele methodische und inhaltliche Defizite bestehen.
Diskussion
Trotz der unterschiedlichen Perspektiven auf Religiosität im Alter und damit gebundener Komplexität, ist es den Autoren gelungen, einen Sammelband zusammenzuschnüren, der die Thematik sinnvoll, ganzheitlich und interessant sowie nachvollziehbar darstellt. Die Gliederung in Abschnitte mit den einzelnen Beiträgen ist gut gewählt und gibt der Leserschaft eine Orientierung. Auch die Praxisbezüge, welche in einigen Beiträgen aufgeführt sind, sind sehr spannend. Interessant wäre es jedoch, das Alter, neben christlichen, islamischen und jüdischen, zu anderen, exotischen religiösen oder spirituellen Perspektiven darzustellen, welche in der Literatur zu selten thematisiert werden.
Das Einbandbild ist eine bunte große Rosette. Aus welchem Dom oder Basilika sie wohl entnommen ist? Es macht den Anschein, dass diese Rosette wiederum die Allmacht der Kirche symbolisiert, schade.
Fazit
Die Wissenschaftler Helmut Bachmaier und Bernd Seeberger bringen erfolgreich Perspektiven aus diversen Disziplinen, wie Philosophie, Soziologie, Neurowissenschaft und Theologie so zusammen, dass sie ein neues und ganzheitliches Bild von Religion bzw. im Alter entsteht. Die Veröffentlichung ist nicht nur für Gerontologen gedacht oder für die, die genügend Vorwissen in der Altersforschung haben oder sogar nur für die, die selbst im hohen Alter sind, sondern es ist ein Sammelband, der für alle Generationen bestimmt ist und zum Nachdenken anregt.
Rezension von
Dr. Hasan Gencel
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