Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.): Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Theunissen, 23.01.2023

Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.): Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2021. 3. Auflage. 498 Seiten. ISBN 978-3-95466-645-4. D: 69,95 EUR, A: 72,05 EUR, CH: 86,00 sFr.
Thema
Das vorliegende Werk ist ein Lehrbuch über Autismus im Erwachsenenalter, das in einem medizinisch-wissenschaftlichen Fachverlag erschienen ist, sich aber nicht nur an klinische Fachleute, diagnostisch und therapeutische Tätige sowie Studierende der Medizin oder Psychologie richtet, sondern über diesen potenziellen Leser*innenkreis hinaus auch für andere Fachwissenschaftler*innen oder Fachleute zum Beispiel aus der Pädagogik sowie für Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum oder am Autismus interessierte Personen anregend und informativ sein soll. Im Fokus der Schrift stehen Befunde und Wissensbestände aus der Grundlagenforschung, Fragen zu Komorbiditäten und atypischen Präsentationen, diagnostische und therapeutische Erkenntnisse und Empfehlungen in Bezug auf Erwachsene, bei denen das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde oder denen ein hochfunktionaler Autismus nachgesagt wird.
Herausgeber
Ludger Tebartz van Elst ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie außerplanmäßiger Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum, Leiter des Forschungsnetzwerks Freiburg Brain Imaging (FBI) und Vorsitzender des Referats Neuropsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Seine wissenschaftlichen und klinischen Interessen gelten vor allem der Neurobiologie, Differenzialdiagnostik und differenziellen Therapie bei Autismus, ADHS und Tic-Störungen sowie bei affektiven, psychotischen und schizophreniformen Syndromen. Darüber hinaus befasst er sich mit erkenntnis- und medizintheoretischen Fragen sowie Themen der Philosophie des Geistes. Er ist Autor von über 250 Fachpublikationen, darunter 12 Monografien bzw. Herausgerberschriften.
Entstehungshintergrund
Der in dem vorliegenden Herausgeberband fokussierte Personenkreis der Erwachsenen mit dem sogenannten Asperger-Syndrom oder hochfunktionalen Autismus wie auch andere Erwachsene aus dem Autismus Spektrum ist lange Zeit in wissenschaftlicher, diagnostischer und therapeutischer Hinsicht im Rahmen der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie vernachlässigt worden. War doch viele Jahrzehnte das Thema des Autismus (nicht selten ausgelegt als klassischer oder frühkindlicher Autismus) in erster Linie Angelegenheit einer auf Kinder und Jugendliche ausgerichteten Autismusforschung und -diagnostik sowie einer therapeutischen und heilpädagogischen Praxis. Vor diesem Hintergrund haben seit etwa 20 Jahren an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg das sogenannte Asperger-Syndrom und der hochfunktionale Autismus bei Erwachsenen ein besonderes Interesse gefunden, welches sich in dem Herausgeberband in vielerlei Hinsicht widerspiegelt. So stammen die meisten der 37 Autor*innen aus der Freiburger Universitätsklinik, viele von ihnen aus einer seit 2011 bestehenden Forscher*innengruppe, die mit bemerkenswerten Untersuchungen und Erkenntnissen imponiert. Mehrere Buchartikel greifen insbesondere im Bereich der Grundlagenforschung sowie der Erwachsenendiagnostik und -therapie wichtige Befunde aus der Freiburger Forschung auf. Ferner kommen, und das ist in Bezug auf klinische Lehrbücher über Autismus bemerkenswert und längst noch nicht die Regel, auch Betroffene und Angehörige zu Wort, indem sie über ihre eigenen Sichtweisen und Erfahrungen berichten. Dies kann als eine Bereicherung und als Beleg dafür betrachtet werden, dass mit dem vorliegenden Herausgeberband eine moderne Sicht auf Autismus angestrebt wird, die sich nicht nur der wissenschaftlichen Außenperspektive verschrieben hat, sondern ebenso die Stimme betroffener Personen wertzuschätzen weiß.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Werk ist in fünf Schwerpunktbereiche unterteilt, die sich insgesamt auf 45 Beiträge (mit entsprechender Literatur) beziehen, von denen sechs auf zuvor veröffentlichten Fachartikeln basieren oder in Teilen aus publizierten Texten übernommen wurden. Dem fünften Schwerpunktbereich folgt ein Sachwortverzeichnis, was die Suche nach bestimmten Stichwörtern, Inhalten oder Fragen erleichtert und die Zugänglichkeit der Schrift erhöht. Das gilt gleichfalls für kursiv hervorgehobene und herausgestellte Abschnitte mit wichtigen Aussagen oder kurzen Zusammenfassungen innerhalb einzelner Beiträge. Im Folgenden möchte ich nunmehr einen kurzen Überblick bieten, der sich auf die fünf Schwerpunktbereiche bezieht.
Der erste Schwerpunkt „Grundlagenwissen“ erstreckt sich auf die ‚Schlüsselbegriffe‘ Asperger-Syndrom, hochfunktionaler Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Hinblick auf ihre historische Entwicklung und moderne Nosologie sowie ihre Bedeutung für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie und in der Psychosomatischen Medizin. Ferner auf die Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen nach dem DSM-5 sowie mit einem kurzen Hinweis auf ICD-11; darüber hinaus auf mit ASS vergesellschaftete Syndrome (z.B. Fragiles-X-Syndrom, Deletionssymdrome), auf die Ätiologie, auf pathogenetische Ansätze (v.a. Theorie der schwachen zentralen Kohärenz, exekutive Dysfunktionen, Theory of Mind) sowie den Verlauf und die Prognose von ASS. Aufgegriffen wird zudem die Frage der Pathologisierung des Asperger-Syndroms. Abgerundet wird der erste Abschnitt mit einem kurzen Blick auf das lange Zeit vernachlässigte Thema ASS bei Mädchen und Frauen.
Im zweiten Schwerpunkt „Diagnostik“ werden vor dem Hintergrund praktischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Freiburger Autismusforschung und Autismus-Sprechstunde für Erwachsene am Universitätsklinikum Grundlagen der klinischen Diagnostik sowie neuropsychologische, psychometrische sowie zusätzliche Untersuchungen (aus differenzialdiagnostischen Erwägungen) aufgegriffen und im Hinblick auf Empfehlungen für eine Erwachsenendiagnostik aufbereitet, die sich durch ein breit aufgestelltes Assessment (z.B. mit anamnestischen Befunden) unter Einbeziehung der Auskünfte von Betroffenen (durch Interviews, Selbstbeurteilungsbögen) von der Autismus-Diagnostik im Kindesalter unterscheidet.
Der dritte Schwerpunkt „Komorbiditäten und atypische Präsentationen“ befasst sich insbesondere mit Blick auf Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum mit psychischen Begleitstörungen oder Begleiterscheinungen (Depressionen, Angst-, Tic-, Zwangs-, Essstörungen, schizotype, schizophreniforme, somatoforme Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, ADHS, Suchterkrankungen, Geschlechtsdysphorie).
Im vierten Schwerpunkt „Therapie“ werden im Anschluss an eine einleitende Diskussion zur Klärung von Therapiezielen Ansätze vorgestellt, die ein facettenreiches Bild an Unterstützungs- und Behandlungsmöglichkeiten für Jugendliche und Erwachsene mit dem sogenannten Asperger-Syndrom oder hochfunktionalen Autismus in Hinblick auf Komorbiditäten und Probleme im Zusammenhang mit ASS bieten. Das betrifft psychotherapeutische und ambulante Hilfen, stationäre Unterstützungsmaßnahmen sowie einzel- und gruppentherapeutische Konzepte, die vor allem aus der Freiburger Autismusforschung und Praxis hervorgegangen sind und sich bewährt haben (z.B. FASTER). Eine Bereicherung des Schwerpunkts „Therapie“ stellen zwei Beiträge dar, zum einen ein Kapitel, das sich mit Blick auf den Bereich der Arbeitsmöglichkeiten autistischer Menschen auf „die Organisation der Nische“ (Tebartz van Elst) bezieht, zum anderen ein Kapitel, das Selbsthilfekonzepte aufgreift und ihre Bedeutung reflektiert.
Abgerundet wird der Herausgeberband mit dem fünften Schwerpunkt „Autismus-Spektrum-Störungen im sozialen Umfeld“. Hierbei geht es um Themen wie Arbeitswelt, zwischenmenschliche Beziehungen im Erwachsenenalter (einschl. Paarkonflikte und therapeutische Angebote), sprachliche Besonderheiten, forensische Aspekte sowie Gesundheitsversorgung. Ferner kommen Erfahrungen und Sichtweisen einer Mutter einer 17jährigen Tochter zu Wort, die als Asperger-Autistin diagnostiziert wurde. Eine Bereicherung stellt darüber hinaus ein Beitrag dar, der sich mit speziellen Formen der Kreativität autistischer Menschen befasst und damit deutlich macht, dass Autismus nicht nur Schwächen, sondern ebenso Stärken aufweist, die es zu würdigen gilt.
Diskussion
Das von L. Tebartz van Elst herausgegebene Buch bietet in einer großen Breite einen guten Überblick über Themen in Bezug auf Autismus im Erwachsenenalter. Dabei geht es allerdings weniger um Personen, denen ein sogenannter frühkindlicher Autismus und eine zusätzliche intellektuelle Beeinträchtigung nachgesagt wird, als vielmehr um sogenannte Asperger-Autist*innen oder hochfunktionale Autist*innen. Dieses Thema scheint in wissenschaftlicher, diagnostischer, therapeutischer, gesundheits- und sozialpolitischer Hinsicht im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen „in Deutschland ‚verspätet‘ angekommen zu sein“ (Rauh & Fangmeier), weshalb mit dem Herausgeberband Anschluss an aktuelle Erkenntnisse, Entwicklungen und Diskussionen gefunden werden kann. Neben dem gegenwärtigen Wissensstand und den theoretischen Überlegungen kommen praxisbezogene Aspekte, die sich auf diagnostische und therapeutische Handlungsmöglichkeiten sowie auf soziale Unterstützungsmaßnahmen (gesundheitliche Versorgung) beziehen, gut zur Sprache. Bemerkenswert sind einige Erkenntnisse und Positionen, die zurecht herausgestellt werden, so zum Beispiel Autismus als eine „Basisstörung“ (Tebartz van Elst), die „für eine daraus resultierende sekundäre psychische Störung“ (ebd.) bedeutsam ist. Vor diesem Hintergrund werden psychische Begleitstörungen aufgegriffen, wobei auf atypische Präsentationen verwiesen wird. Das ist unter anderem ein wichtiger Hinweis für differenzialdiagnostische Untersuchungen, die eine große Sorgfalt abverlangen, um angesichts von Symptomüberlappungen in Hinblick auf verschiedene klinische Bilder Fehlschlüsse oder Fehldiagnosen zu vermeiden. Wer sich hierzu diagnostisch und therapeutisch sachkundig machen möchte, ist mit dem Herausgeberband gut bedient.
Gleichwohl wäre es wünschenswert gewesen, das Spektrum der psychischen Störungen durch eine Diskussion der Persönlichkeitsstörungen (auch mit Blick auf Veränderungen durch ICD-11) zu erweitern, die nur mit Beiträgen über die Schizotype Störung und den Boderline-Typus tangiert wird. Ferner wird das Thema des Älterwerdens autistischer Personen mit Blick auf Spätepilepsien, depressive Störungen, Suizidalität im Alter und majore neurokognitive Störungen (Demenzen) nicht expliziert, wohlwissend dass hierzu die wissenschaftliche Erkenntnis- und Befundlage noch recht dürftig ist. Etwas zu kurz kommen zudem die Ausführungen über ADHS, indem Erkenntnisse und Sichtweisen von betroffenen Erwachsenen sowie richtungsweisende Anregungen für die Praxis, die sich vor allem auf sportliche (körperliche) Aktivitäten beziehen, unzureichend berücksichtigt werden. Vielleicht können einige der genannten Aspekte bei einer weiteren Auflage, die vermutlich auch das ICD-11 diskutieren wird, stärker berücksichtigt werden, wenngleich dem Umfang eines Herausgeberbandes natürlich Grenzen gesetzt sind.
Davon abgesehen enthalten viele Beiträge des Buches sehr wertvolle Tipps für die Praxis sowie anschauliche Beispiele, die die Atypizität bei Autismus bzw. Unterschiede im Erleben, Denken und Handeln zwischen Erwachsenen aus dem Autismus-Spektrum und nicht-autistischen Menschen sichtbar werden lassen. Hierzu möchte ich exemplarisch ein Fallbeispiel in Hinblick auf Angststörungen (sozialen Phobien) bei ASS herausgreifen, was unterschiedliche Inhalte (Befürchtungen) sehr schön deutlich werden lässt. Es geht in dem Fall um eine Autistin, die sich weniger darum sorgt, „was die anderen von ihr denken, wenn sie während ihres Vortrags vor der Gruppe exponiert ist. Diese Angst wäre typisch für eine klassische soziale Phobie. Die Patienten haben dann beispielsweise Angst, zu erröten, sich zu verhaspeln oder dass ihnen nichts mehr einfällt. Im Fallbeispiel beschreibt die Patientin, dass bei ihr nicht der Vortrag an sich, sondern die nachfolgende Fragerunde Verwirrung, Unsicherheit, Anspannung und Angst auslöst. Sie hat Angst in dieser komplexen kommunikativen sozialen Situation zu versagen, wobei sich das Versagen nicht auf die fachliche Ebene der Fragen bezieht. Vielmehr sorgt sich die Patientin, Signale nicht richtig deuten zu können, Fragen in falschem Sinn zu verstehen oder nicht zu wissen, wann und wie lange sie antworten soll“ (Radtke & Domschke in Tebartz van Elst, S. 227).
Darüber hinaus können bis auf eine fehlende Diskussion und unreflektierte Haltung in Bezug auf ABA (DTT) bei Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus-Spektrum (Kapitel 6 im vierten Schwerpunktbereich) gleichfalls die Beiträge zu therapeutischen Handlungsmöglichkeiten als hilfreich und weiterführend betrachtet werden. Das betrifft vor allem das Kapitel über medikamentöse Therapie im Erwachsenenalter, welches den Umgang mit Psychopharmaka sehr gut reflektiert sowie Beiträge zu dem im Freiburger Klinikum entwickelten FASTER-Konzept, das sich nicht nur für die ambulante (gruppen)therapeutische Praxis, sondern ebenso für die stationäre Arbeit empfiehlt. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle, dass im Herausgeberband und damit auch in der Freiburger Klinik ein breites Therapieverständnis zugrunde gelegt wird, welches über eine eng gestrickte medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung hinaus gleichfalls soziale, lebenspraktische, pädagogische und kontextbezogene Angebote impliziert und damit eine Brücke zu einer Unterstützungsperspektive schlägt, wie sie sich nicht wenige Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum wünschen. Diese breite Ausrichtung sollte als richtungsweisend betrachtet werden.
Fazit
Die Herausgeberschrift von Ludger Tebartz van Elst ist mit der dritten Auflage ohne Frage ein wichtiges Standardwerk geworden, welches das Thema des Autismus im Erwachsenenalter unter besonderer Berücksichtigung des sogenannten Asperger-Syndroms in einer breiten Spannweite aufbereitet hat. Das Buch ist systematisch angelegt und übersichtlich gegliedert, sodass sich Leserinnen und Leser gut zurechtfinden können. Nicht nur durch die zugängliche Aufbereitung des Themas aus wissenschaftlicher und klinischer Sicht, sondern ebenso durch die Berücksichtigung der subjektiven Perspektive und Erfahrungen von Betroffenen kann insgesamt betrachtet die Schrift für interessierte, wissenschaftlich und praktisch tätige Mediziner*innen, Psychologen und Psychologinnen, therapeutische und pädagogische Fachkräfte sowie für Studierende der Medizin, Psychologie oder Heilpädagogik und gleichfalls für interessierte Betroffene sehr hilfreich sein.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Theunissen
Prof. em. Dr., Diplom-Pädagoge, Heil- und Sonderpädagoge, acht Jahre leitend tätig in einer großen Behinderteneinrichtung, seit 1989 Professor für Heilpädagogik, 25 Jahre tätig an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät III Erziehungswissenschaften, 1994 – 2019 Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und 2012 – 2019 für Pädagogik bei Autismus, damit Gründer des 1. Lehrstuhls für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum. Autor von gut 70 Fachbüchern (Monografien, Handbücher, Herausgerberschriften, Neuauflagen) und über 600 Fachbeiträgen in Fachzeitschriften und Büchern. Anfragen für Praxisberatung, Fort- und Weiterbildungen in Bezug auf Autismus und herausforderndes Verhalten (Positive Verhaltensunterstützung):
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Georg Theunissen.