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Christoph Bördlein: Methoden der angewandten Verhaltensanalyse

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 03.03.2023

Cover Christoph Bördlein: Methoden der angewandten Verhaltensanalyse ISBN 978-3-17-041282-8

Christoph Bördlein: Methoden der angewandten Verhaltensanalyse. Eine Einführung. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2022. 230 Seiten. ISBN 978-3-17-041282-8. D: 35,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Autor

Bördlein lehrt als Psychologe an der Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt.

Entstehungshintergrund

Der Autor verweist darauf, dass es aktuell kein deutschsprachiges Lehrbuch für die Forschungsmethoden der Verhaltensanalyse gibt. Das Thema wird in den gängigen Lehrbüchern wie Döring & Bortz nur am Rande behandelt.

Inhalt

In der Einleitung definiert Bördlein die angewandte Verhaltensanalyse und grenzt sie von der Grundlagenwissenschaft der experimentellen Verhaltensanalyse und der in der Verhaltenstherapie gebräuchlichen diagnostischen Verhaltensanalyse ab. Die Verhaltensanalyse ist eine Wissenschaft vom Verhalten. Ihre zentrale Frage ist, „wie geplante Veränderungen von Umweltbedingungen das Verhalten verändern“ (S. 12). Sie wendet dabei die Ergebnisse der experimentellen Verhaltensanalyse an, die vor allem Lerngesetze erarbeitet. Häufige Anwendungsbereiche der Verhaltensanalyse sind Programme für effektiven Unterricht, für die Förderung der Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung oder für die Arbeitssicherheit.

Im Sinne der Methodenlehre geht der folgende Abschnitt Messen zunächst auf den Gegenstand der Methodik ein. Dazu wird der Begriff des Verhaltens ausführlich entwickelt. Bördlein verweist auf einen erstaunlichen Mangel an Konsens bei diesem scheinbar einfachen Grundbegriff. Vorläufig wird dann definiert, Verhalten ist „alles, was ein Organismus tut“. Die häufig gebrauchte Einschränkung „soweit es von außen sichtbar ist“ wird nicht akzeptiert. Gedanken, Gefühle und Gehirnprozesse werden hier ebenfalls als Verhalten bestimmt. Für die praktische Definition des Verhaltens im Zusammenhang mit der angewandten Verhaltensanalyse folgen dann weitere definitorische Aspekte wie der immanente Zielbezug, die Formung durch Konsequenzen sowie der topographische Aspekt mit der grundsätzlichen Variabilität des Verhaltens und der funktionale, der es erlaubt, sehr unterschiedlich aussehendes Verhalten in einen Begriff zusammenzufassen. Hinzu kommen die für die Beschreibung wichtigen quantitativen Aspekte der Häufigkeit, der Dauer, der Latenzzeit und – mit einigen Abstrichen, da oft eher qualitativ – der Intensität. Auf dieser Basis wird dann eine griffige Formel zur Definition des Verhaltens für Studien der angewandten Verhaltensanalyse formuliert.

Nach diesen Grundlegungen wird die Beobachtung des Verhaltens behandelt. Der Goldstandard der Verhaltensanalyse ist die direkte (Fremd-)Beobachtung. Die Nachteile der sonst häufig verwendeten Einschätzskalen werden ausführlich dargelegt. Die Selbstbeobachtung ist ein Sonderfall der Beobachtung, der besondere ethische und praktische Anforderungen stellt. Das prinzipielle Problem der Selbstbeobachtung bleibt dabei ihre fehlende intersubjektive Überprüfbarkeit. Das Argument des bevorzugten Zugangs der Person zu ihren inneren Vorgängen lässt Bördlein nicht gelten. Es werden verschiedene Beobachtungsansätze dargestellt. Als Gütemaße für Beobachtungsstudien werden die Treatmentintegrität, d.i. das Ausmaß, mit dem die vorgeschriebene Intervention auch tatsächlich durchgeführt wird, und die Beobachterübereinstimmung besprochen. Für letztere werden einige einfache Berechnungsmethoden erläutert.

Das letzte Kapitel dieses Abschnitts stellt die Dokumentation des Verhaltens durch den Beobachtungsbogen und durch die für die Verhaltensanalyse charakteristische Liniengrafik mit vielen praktischen Hinweisen vor.

Der zweite große Abschnitt Überprüfen: das Einzelfallexperiment geht zunächst auf die wissenschaftstheoretische Frage ein, was eine Erklärung bedeutet. In Abhebung zu anderen Interpretationen setzt die Verhaltensanalyse auf Erklärungen, die ein Aufzeigen der historischen Bedingtheit von Verhalten beinhalten. Die Studien, die hier unternommen werden, sind Einzelfallstudien, sie werden von Fallstudien, die nur beschreiben und nicht auf Hypothesenprüfung zielen, abgehoben. Die Einzelfallstudie wird als quasiexperimentelles Vorgehen und in Ansätzen auch als echtes Experiment vorgestellt. Es folgt ein Kapitel zur internen und externen Validität und zur Frage der Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Der Weg der Einzelfallstudie zur Verallgemeinerung ist die Replikation. Studien werden mit einer oder mehreren anderen Versuchspersonen abermals durchgeführt. Die Effekte werden dabei nicht durch Mittelwertbildung gruppenstatistisch nivelliert. Bördlein vertritt die Position, dass die Generalisierbarkeit der Ergebnisse der Einzelfallstudien der von gruppenstatistischen Experimenten nicht nachstehen muss. Im achten Kapitel wird sodann die Methode der visuellen Analyse behandelt. Durch den Vergleich von Basisrate(n) und Intervention(en) in der Liniengrafik wird die Wirksamkeit einer Intervention feststellbar. Die folgenden Kapitel behandeln dann verschiedene experimentelle Designs, beginnend mit einem schwachen „Nur-B-Design“, in dem nur eine Intervention durchgeführt wird. Am Beispiel der Behandlung eines Schreibabys wird deutlich, dass eine aus Gründen der experimentellen Logik eigentlich notwendige Baseline-Erhebung in der angewandten Forschung nicht immer vertretbar ist. Die vorgestellten Designs werden dann zunehmend komplexer. Sie reichen vom A-B-Design bis zum A-B*N-Design. Weitere Untersuchungsformen führen unter anderem Varianten in der Interventionsbedingung ein oder arbeiten mit variablen Baseline-Bedingungen (Multiple-Baseline-Design).

Das abschließende Kapitel erörtert die soziale Validität von Studien. Hier geht es um die Angemessenheit von Interventionen und die Bedeutsamkeit von Studienzielen und Studienergebnissen.

Diskussion

Die Verhaltensanalyse ist eine Weise Psychologie oder Verhaltensbiologie zu betreiben, die etwas am Rande der (fach-)öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Der psychologische Mainstream arbeitet mit gruppenstatistischen Versuchsplänen. Das Single-Case-Design ist dagegen ein alternatives Untersuchungsparadigma, dessen Gleichwertigkeit als quasi-experimentelle und sogar als experimentelle Methodologie hier engagiert vertreten wird. Wie bei diesem Ansatz praktisch vorzugehen ist, zeigt Bördlein bis in viele Details hinein und immer gestützt auf die autoritativen Veröffentlichungen der einschlägigen Fachjournale. Das Kapitel zur Technik der visuellen Analyse sticht dabei besonders hervor. Es ist nicht nur für die Praktiker der Verhaltensanalyse, sondern für alle eine wertvolle Hilfe, die mit der Interpretation einer Liniengrafik in Berührung kommen.

Das Lehrbuch stellt keine speziellen Voraussetzungen, auch dort nicht, wo zum Beispiel durchaus komplexer gerechnet werden könnte, wie bei der Beurteilerübereinstimmung. Hier genügen die Grundrechenarten, um solide Gütewerte zu erarbeiten. Dabei ist der Autor ein sehr guter Erklärer, die Didaktik des Buches ist ganz ausgezeichnet.

So hat das Buch den hohen praktischer Wert, den man von einem Lehrbuch erwarten kann. Die Einsatzfelder, aus denen die zahlreichen Beispiele genommen werden, sind Schule und Unterricht, die Behindertenhilfe und, ein Spezialgebiet des Autors, die verhaltensorientierte Arbeitssicherheit. Gewiss lassen sich auch darüber hinaus noch Anwendungsbereiche finden. Die Methodik lässt sich in Masterarbeiten oder Promotionen anwenden. Bei Hard-to-Reach-Klienten ist sie vielleicht sogar leichter zu realisieren als ein Gruppendesign – und das ohne Abstriche an Wissenschaftlichkeit.

Fazit

Ein Methodenlehrbuch, das anspruchsvoll, aber unkompliziert und didaktisch sehr überzeugend dazu einlädt, sich auf die angewandte Verhaltensanalyse einzulassen.

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 31 Rezensionen von Carl Heese.

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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 03.03.2023 zu: Christoph Bördlein: Methoden der angewandten Verhaltensanalyse. Eine Einführung. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-17-041282-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29809.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.


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