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Johannes Ulrich Thomsen: Effekte arbeitsmarktpolitischer Reformen

Rezensiert von Arnold Schmieder, 29.09.2022

Cover Johannes Ulrich Thomsen: Effekte arbeitsmarktpolitischer Reformen ISBN 978-3-7639-6239-6

Johannes Ulrich Thomsen: Effekte arbeitsmarktpolitischer Reformen. Beschäftigung in Deutschland 1987 und 2007. wbv (Bielefeld) 2021. 374 Seiten. ISBN 978-3-7639-6239-6. 45,90 EUR.
Reihe: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: IAB-Bibliothek - 373.

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Thema

Annonciert und zugleich positioniert wird die Studien von Thomsen als Beitrag zu einem zentralen Thema im gesellschaftlichen Diskurs, nämlich der sozialen Ungleichheit, also als Beitrag zu jener immer wieder mahnend benannten Schere zwischen armen oder ärmeren Menschen und den sogenannten Reichen inklusive Superreichen, die immer weiter auseinanderklaffe. Der Ansatz ist, Bewegungen bis Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt zu indizieren. Es zeichne sich ab, dass Integration in den Arbeitsmarkt und Reformen jene Ungleichheit reproduzieren und produzieren, weshalb dem Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt und den verschiedenen Reformen der sozialen Sicherungssysteme wegen ihrer (ökonomischen, sozialen und auch psychosozialen) Relevanz zentral sozialwissenschaftliches Forschungsinteresse zu gelten habe. Angesichts der schon eingetretenen und weiter zu erwartenden Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt sollen die Analysen der bisherigen Wirkungen der Wandlungen von Arbeit und der anschließenden Effekte von Sozialreformen gleichsam eine Wissensbasis für Verständnis und Bewertung ins Haus stehender Veränderungsprozesse abwerfen. Daher wendet sich der Autor den Effekten der deutschen Arbeitsmarktreformen in den vergangenen Jahrzehnten zu, woraus allererst ersichtlich wird, in welcher Form mit welchen Ausmaß Wirtschaftszweige und darüber hinaus unterschiedliche Gruppen von Menschen, die im Fokus der Untersuchung stehen, betroffen sind, d.h. im Näheren, in welch unterschiedlichem Ausmaß die Auswirkungen von Flexibilisierung (auch als zentrale individuelle Orientierung) zu tragen sind, die „vor allem ein höheres Beschäftigungsniveau ermöglichen“ sollte (S. 104).

Thomsen fundiert seine Studie allerdings in einer (z.T.) kritischen Diskussion von „Modernisierungsprozessen in der Bundesrepublik Deutschland und ihren Auswirkungen auf den Wohlfahrtsstaat sowie die Beschäftigungsordnung“, was er (mehr als nur) „skizziert“, wobei sein Fokus auf der Beschäftigungsordnung liegt, „weil hier über die (Nicht-)Beschäftigung von Gesellschaftsmitgliedern entschieden wird“ (ebd.). In seiner Zusammenfassung kommt er zu dem Schluss, dass durch den „inkrementellen Reformpfad zwischen den 1980er und 2000er Jahren tatsächlich eine Verbreiterung der Brücke in das Beschäftigungssystem stattgefunden“ hat. Das kann man als „Multioptionalität“ bezeichnen, die allerdings einen Preis hat, „nämlich schlechtere Arbeitsbedingungen, bis 2007 häufig in „nicht durchgängige und existenzsichernde Jobs“, wobei die „Beschäftigten länger arbeiten, allerdings eher selten in klassischen Normalarbeitsverhältnissen“, zugleich mit einer „geringeren Beschäftigungsstabilität“ (S. 372 f.).

Autor

Dr. Johannes Ulrich Thomsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, wo er die Arbeitsgruppe Datenqualität leitet. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um seine Dissertation mit dem Titel „Die Reformen des deutschen Arbeitsmarktes – ‚Draußen vor der Tür‘ oder Aufbruch in eine neue Zeit?“, die von der Philosophischen Fakultät und dem Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Sie ist erschienen in der Buchreihe des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, IAB-Bibliothek//373.

Inhalt

Das Buch ist in zehn Hauptkapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert; es folgen ein Anhang, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, danach eine knapp gehaltene Zusammenfassung, in der Thomsen in der Hauptsache den Ist-Zustand skizziert, wie er anderenorts unter den Begriffen Prekarisierung und Marginalisierung bis Exklusion diskutiert wird. Sein Datenmaterial erlaubt es ihm, „Realtypenbildung von unterschiedlichen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt“ zu entwickeln, womit die „individuelle Perspektive außerhalb der Analyseebene“ bleibt. Außerdem komme hinzu, dass die von ihm herangezogenen Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung „zweifach unvollständig“ sind, weil in den Daten nur diejenigen Erwerbstätigen erfasst sind, die in die „Sozialversicherung einzahlen“, womit „einige Gruppen“ fehlen. Die „Kerninformationen“ seien zwar wichtig, aber der wichtige „Bereich von persönlichen Einstellungen, Motivation und Selbstbildern fehlt in den Prozessdaten vollständig“, von denen eine Antwort auf den „Integrationseffekt in das Beschäftigungssystem (…) nicht unwesentlich“ abhänge, „die über entsprechende Befragungen gewonnen werden müssten“ (S. 323).

Dass von Einstellungen und Selbstbildern nicht abzusehen ist, „dass Arbeitslosigkeit deutlich mehr als nur (…) rein ökonomische Folgen“ hat, dass ein „versorgender Wohlfahrtsstaat“ kaum solche Folgen kompensieren kann (wie insb. krisenzyklisch auch rein ökonomisch nicht), verdeutlicht Thomsen gleich einleitend, wo er die bekannte Marienthal-Studie aus den 30-er Jahren vorstellt und deren partielle Aktualität hervorkehrt. Wesentlich ist auch, dass bei „lang anhaltender Arbeitslosigkeit“ einen „Zerfall des Sozialen“ (S. 13 ff) eintritt, was die „moderne Sozialforschung“ (u.a.) vor die Aufgabe der Klärung der Frage stellt, „wie Arbeitslosigkeit in der modernen Arbeitsgesellschaft absorbiert wird.“ Allerdings sei es im Vergleich zur genannten Studie und zur „heutige(n) Situation der (Arbeits-)Gesellschaft“ zu einem deutlichen „Wandel in den Arbeitswelten“ gekommen (S. 16). Gleich im Anschluss nimmt der Autor den gesellschaftlichen Strukturwandel in den Blick, diskutiert u.a. in kritischer Aufnahme Becks und dabei auf „(Modernisierungs-)Risiken“ in der „Besonderheit“ abhebend, „dass sie umfassend und entgrenzt sind und damit zivilisatorische Selbstgefährdungspotenziale darstellen“ (S. 19). Hier träten neue soziale Bewegungen auf die Bühne, die „auf der Ebene der Subpolitiken für funktionierende Entscheidungen“ sorgten, „sodass das System trotz schwacher Strukturen, Offenheit und Pluralismus integriert bleibt“ (S. 25). Im Anschluss an seinen vorherigen Rückgriff auf Durkheim konstatiert der Autor, „dass seit Beginn der Soziologie als Wissenschaft die Denkfigur der Desintegration in der Moderne mit anschließender Reintegration existiert“, dabei jedoch „Optionen“ zu Gebote stünden für eben Integration und Reintegration, wobei man sich „nie richtig sicher sein“ könne, „die richtige Wahl getroffen zu haben. Die lichte (Gegen-)Seite dieser Multioptionalität ist aber auch, dass bei falscher Entscheidung viele Korrekturmöglichkeiten zur Verfügung stehen“ (S. 27). Einen „Modernisierungsschub“ macht der Autor im „Übergang zur Wissensgesellschaft“ fest (S. 31), worauf der „Sozial- und Wohlfahrtsstaat“ reagieren müsse, „da ansonsten einige Funktionen in ihrem Fortbestand gefährdet sind.“ Die „Wohlfahrtskultur“ könne veränderlich sein, dabei können „kollektive(.) Sinnkonstruktionen (…) Gegenstand von Konflikten werden und sich damit wandeln“ (S. 37 f.). Hier nun verweist Thomsen auf Industrie und implizit Ökonomie, auf ein Post-Fordistisches Produktionsregime mit starken Einbrüchen in die „Massenproduktion mit vielen Arbeitern“ und entsprechender Schrumpfung der Arbeitsplätze, was durch den „Ausbau der Beschäftigung in den industrienahen Dienstleistungen“ nicht aufgefangen werden konnte und kann – und schlussendlich zu „steigende(r) Ungleichheit und Armut“ führe (S. 39 f.). Daraus ergebe sich ein „Anpassungsdruck des Sozialstaates“ (S. 43) auf je nationaler Ebene und in unterschiedlichen Ausprägungen, wobei „die Bundesrepublik Deutschland dem konservativen Typus zugeordnet wird“ (S. 51). Das darum, weil sich hier ein „starker Schutz der Insider vor Verlust des Arbeitsplatzes findet“, also derjenigen, die einen Arbeitsplatz haben, wobei die „Position der Arbeitslosen und vor allem der geringqualifizierten Langzeitarbeitslosen“ problematisch sei: „Sie sind Outsider“ (S. 55). Und doch seien „konservative Wohlfahrtsstaaten“ (S. 57) wie die Bundesrepublik auf gutem Wege: Die Veränderungen „führen im Resultat zu einem dualen Wohlfahrtsstaat, der einerseits die Insider über die Bismarck´schen Absicherungsmechanismen noch immer gut schützt und andererseits die Personen an den Rändern in atypischer Beschäftigung aktiviert und vergleichsweise schlechter über die Logik der Sozialhilfe absichert. Diese Outsider tragen damit auch die Last der Kürzungen in den Leistungen“ (S. 60).

Die modernen Wohlfahrtsstaaten müssen mit Entwicklungen und Veränderungen umgehen, d.h. darauf reagieren. Diese Interventionen haben dann ihrerseits „Auswirkungen auf die konkrete Ausgestaltung des deutschen Arbeitsmarktes“, womit Thomsen zu seinem im Buchtitel genannten Thema kommt, nämlich zu den „Effekten arbeitsmarktpolitischer Reformen“. Dabei unterschlägt er nicht die „Anpassungsleistungen der Individuen, die auf dem Arbeitsmarkt agieren“, worin aber eine „individuelle Perspektive“ (s.o.) in dem Sinne nicht ausgelotet werden kann, auch nicht verallgemeinernd auf die jeweils nach Datenlage untersuchten Kohorten, was aus den ‚Effekten‘ zur Seite subjektiver Verarbeitung folgt, wie der Autor selbst anmerkt. Gleichwohl thematisiert er „Individuelle und institutionelle Reaktionsmöglichkeiten auf die gesteigerten individuellen Risiken“ (Kap. 3.3.2). Flexibilisierung ist belangvolles Stichwort, die zur Folge haben kann, dass „einige Gruppen aus dem klassischen Arbeitsmarkt und damit dem gesellschaftlichen Leben exkludiert werden“; andererseits steht die Frage an, „ob die Flexibilisierung allen Gruppen zugutekommt und damit einen Aufbruch in eine neue Zeit eines flexiblen und passgenauen Arbeitsmarkzugangs ermöglicht“ (S. 17). – Hier soll seine mit zahlreichen Quellen gesättigte Studie Klärung schaffen, wobei er nach ausführlicher Darlegung seiner Datenbasis und seiner Methode besonderes Augenmerk auf die Beschäftigungsverhältnisse im Jahr 1987 und 2007 legt, Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeitet und sie begründend deutet. Empirisch sei zu belegen, „dass die Hauptgruppen auf dem Arbeitsmarkt zwischen den 1980er und den 2000er Jahren im Kern erhalten geblieben sind“ (S. 107), aber auch, dass sich die Bildung von „Nebengruppen“ in „atypischer Beschäftigung“, „vergleichsweise schlechter abgesichert“ und höchstens im Dunstkreis von „Normalarbeitsverhältnisse(n)“ angesiedelt, konstatieren lasse (S. 109). Letzteres ist ‚Leitthesen‘ zu entnehmen, die der Autor aus „Fragestellung“ destilliert, die er dann in seinem abschließenden Kapitel überprüft, wobei er mit der Frage endet, was überwiege, Integration oder Desintegration, und Antwort gibt: „Insgesamt scheinen damit die Integrationseffekte in das Beschäftigungssystem die Desintegrationseffekte im Beschäftigungssystem zu überwiegen, sodass die gesellschaftliche Integration gefördert wird. Es findet also tatsächlich ein Aufbruch in eine neue, flexiblere Zeit statt und die Exklusion aus dem Beschäftigungssystem wird abgebaut, sodass die Gruppen draußen vor der (gesellschaftlichen) Tür kleiner werden“ (S. 322).

Doch gilt (auch) diesen Gruppen die Aufmerksamkeit des Autors. Dank der „unterschiedlichen Zuweisungsmechanismen“ ist eine „Steigerung der Risiken auf dem Arbeitsmarkt für das Individuum“ möglich und denkbar (S. 97), und die „Gruppe der Modernisierungsverlierer hat sich in den 2000er Jahren als genuin neues Segment auf dem Arbeitsmarkt gebildet“ (S. 305). Zudem seien die „Chancen für eine ununterbrochene Erwerbskarriere (…) 2007 deutlich schlechter als 1987 unter stabileren und weniger flexiblen Rahmenbedingungen“ gewesen (S. 307). Zwar würden die „Möglichkeiten, überhaupt Beschäftigung auszuüben“ steigen – und werden „zunehmend von Frauen wahrgenommen“. „Nebentätigkeiten“ wie „Mini-Jobs etc.“ träten neben das „durchgängige normale Arbeitsverhältnis“, wobei sich allerdings auch eine „Kehrseite“ solcher „zunehmenden multiplen Beschäftigungsoptionen“ auftue, nämlich die „schlechte Beschäftigungslage“: „Es steigt zwar auch die Anzahl der stabilen, normalen Beschäftigungsverhältnisse, vor allem nehmen aber die nicht durchgängigen und nicht existenzsichernden Jobs zu“ (S. 312). Das „liberale Beschäftigungsmodell“ verhindere auch bei Jobwechseln (d.h. in einer bestimmten ‚Gruppe‘) „das Ausscheiden in Arbeitslosigkeit“, allerdings um den Preis einer in toto „schlechten Beschäftigungslage“, den überwiegend Frauen zu zahlen haben (S. 319). Deutlicher noch werden desolate Zustände in der „Zusammenfassung“ des Autors, die erst hinter dem Anhang, dem Quellen und Literaturverzeichnis kurz und knapp erfolgt. Im Jahr 2007 sind mehr Frauen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und ebenso mehr „ältere Personen“ (wobei Wegfall der 1987 „noch vorhandenen Frühverrentungsmöglichkeiten“ eine Rolle spielt) und in beiden Gruppen finden sich „besonders viele Teilzeit- und Mini-Jobs und damit Nicht-Normalarbeitsverhältnisse.“ Hie wie da sind „schlechtere Beschäftigungsbedingungen“ auszumachen und die „Beschäftigungen mit schlechteren Konditionen (nehmen) deutlich mehr zu als die mit besseren.“ Jene „Brücke ins Beschäftigungssystem“ führe „häufiger in nicht durchgängige und nicht existenzsichernde Jobs.“ Ein „weiteres neues Segment“ ist nicht zu übersehen, „das ebenfalls eine Gruppe mit hohen Arbeitsmarktrisiken und vergleichsweise schlechten Beschäftigungscharakteristika versammelt“, diesmal nicht im Bereich der „weiblich besetzten, einfachen Dienstleistungsjobs“, sondern in der „Randlage der eher klassischen Industriejobs und vergleichsweise häufig in den neuen Bundesländern“ (S. 372 f.).

Diskussion

Letzteres, die desolate (Arbeitsmarkt-)Lage in den neuen Bundesländern, pfeifen zwar nicht die Spatzen von den Dächern, sondern kommt immer mal wieder als unschöner schiefer Ton in den Medien zu Sprache wie ebenso, dass unter dem Strich „nicht existenzsichernde Jobs“ (s.o.) mehr und die „Beschäftigungsbedingungen“ (s.o.) schlechter werden. Déjà-vu, mag man nach allem denken, was der Autor an spürbar abgeschmolzenen bis nicht mehr existenzsichernden Arbeitslöhnen bei zusätzlich verschlechterten Arbeitsbedingungen vorstellt, zumal mit Blick auf die „Nebengruppen“ (s.o.). Ist die Studie insofern tatsächlich, wie sie auf der Rückseite des Mantels positioniert wird, ein Beitrag zum Thema sozialer Ungleichheit, die eben zentral eine materielle ist? Wird über die entscheidenden Ursachen von sozialer Ungleichheit aufgeklärt, über die Mechanismen ihrer je aktuellen Konsolidierung und unter herrschenden Bedingungen absehbaren Zementierung? Schon, muss man einräumen, aber nur im Hinblick auf Sozialpolitiken, was zwar das Thema des Autors abdeckt, aber nichts Substantielles über soziale Ungleichheit aussagt.

Die Prognose scheint nicht rosig, doch ganz so einfach liegen die Dinge nicht; denn der Autor macht einen „inkrementellen Reformpfad“ und eine „Verbreiterung der Brücke in das Beschäftigungssystem“ (s.o.) aus. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er Schönfärberei mittels interessiert interpretierter Statistiken betreibt, legt er doch die beschränkte Aussagereichweite seiner Datenbasis offen, die eben nur sozialversicherungspflichtige (Lohn-)Arbeit umgreift. Allerdings erlaubt diese mit Material unterfütterte Interpretation des Autors, dem als ‚konservativ‘ typisierten Sozial- und Wohlfahrtsstaat und seiner „Beschäftigungsordnung“ selbst in der „dualen“ Ausprägung eine gute Prognose zu stellen nach dem Motto: ‚er wirdʼs schon richten‘. Dass das ‚Inkrementelle‘, die eben schrittweisen Reformen hinterherhinken und überfällig erscheinen, um einen sozialen Frieden wie mit Krücken zu stützen, dass solcherlei, der Integration dienende Reformen, so zu moderieren sind, dass sie substanziell nichts beschädigen, bleibt in der soziologischen Einschätzung außen vor. Was dem „Strukturwandel“ (s.o.), wie der Autor ihn versteht, zugrunde liegt und ihm seine Richtung gibt, hätte ein Blick in Ökonomie, wie sie sich entwickelt hat, wie sie gegenwärtig aussieht und wie sie sich vermutlich entwickeln wird, erhellen können, wozu man nicht einmal eine kapitalismuskritische Analyse heranziehen muss (aber sollte). Was (und nicht nur z.B.) aus dem gegenwärtigen Kriegsgeschehen, einem imperialen Machtgerangel folgen wird, ist für die arbeitenden ‚Gruppen‘ der Bevölkerung, die Alimentierten und die wahrlich nicht kleine Gruppe der bereits Exkludierten, die statistisch gesehen dem forschenden Blick des Soziologen entgehen und in einem ‚Dunkelfeld‘ gut verwahrt bleibt, jetzt schon spürbar, und zwar empfindlich.

Was bleibt, ist, dass die von Schelsky proklamierte „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, die es so nie gegeben hat, auch aus schichtungstheoretischer Sicht erodiert und dies selbst in ihrem Kern. Was auch bleibt, ist die Tatsache, dass das weltweit herrschende ökonomische System zwingend Nationalstaaten für seine Realisierung braucht. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf eine abflauende, immer schon fragwürdige Prosperität, die materielle und soziale Ungleichheiten auf ein allseits zufriedenstellendes Maß nivellieren könnte. Im Sozialstaatstheorem, wonach der Sozialstaat ausgleichend noch über Aktivierungen intervenieren können soll, wird das wie auch in der (nicht nur) Beck‘schen Aussicht auf und ehrenhaften Forderung nach einer „Weltgesellschaft“ (S. 20) unterschlagen. – Auf solche Punkte (u.a.) mögen Leser:innen kommen, wenn sie die trotz aller kritischen Hinweise letzten Endes beschwichtigenden Kernaussagen von Thomsen auf den Prüfstand stellen. Ein Anwachsen von „Nebengruppen“ (s.o.), so die gegenwärtig realistische Aussicht, steht ins Haus, dessen Fundament allerdings bleibt.

Jene „‚Draußen vor der Tür‘“ als Borchert-Zitat im eigentlichen Titel der Dissertation von Thomsen könnte man mit dem Brecht-Zitat ergänzen: „Die im Dunkeln sieht man nicht“ – oder will sie nicht sehen. Mit den Arbeitslosen und vor allem Langzeitarbeitslosen verhält es sich (nicht mehr) so, sie sind nicht im ‚Dunkelfeld‘ zu verwahren und auch nicht zu ignorieren, ganz einfach darum nicht, weil es zu viele werden, auch wenn sie in prekäre Beschäftigungsverhältnisse (auf Zeit) geschleust werden, auf diese Weise die Gruppen der Exkludierten „kleiner werden“ (s.o.) und so die Statistik um zumindest erfasste Arbeitslose geglättet wird.

Wie schon in der Marienthal-Studie wird seit geraumer Weile die je subjektive (und übrigens auch alters- und geschlechtsspezifische) Verarbeitung von Arbeitslosigkeit ausgeforscht, wobei sich die Erscheinungsformen punktuell und graduell geändert haben mögen, aber die ökonomische Abfederung durch den Sozialstaat, i.d.R. zurückhaltende Hilfestellung bei der Turnübung für und in sozialversicherungspflichtige Arbeit, vermag die psychologischen und sogar gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen nicht abzuwinkeln. Der Paternalismus des Sozialstaates bzw. seiner diesbezüglichen Institutionen und Exekutivorgane, auf das Wohl derer gerichtet, die aus den als normal geltenden Standards herausfallen oder sie gar ‚selbst verschuldet‘ nicht erfüllen, werden von den Adressaten immer häufiger murrend als Bevormundung empfunden, was auch dahingehend zu interpretieren ist, dass dieser „konservative Typus“ (s.o.) erheblich schwächelt und in einer nicht mehr zu übersehenden Breite an Glaubwürdigkeit verliert. Die materiellen und psychologischen Wunden, die das Problem um und mit Arbeit schlägt, wohlgemerkt: Lohnarbeit, was aus ihnen quillt, sie können als seismographische Ausschläge dessen identifiziert werden, dass etwas so ganz und gar nicht und bestenfalls was nicht stimmt. Es geht um die „individuelle Perspektive“ und um die „persönlichen Einstellungen“ etc. (s.o.), die Thomsen auf der Grundlage seiner Daten nicht thematisieren kann. Man kann es dem Autor nicht ankreiden, dass er hier nicht nachhakt. – Doch solche Diskussionen werden anderenorts geführt, auf die hinzuleiten die Befunde des Autors taugen könnten.

Fazit

Die Studie von Thomsen macht vertraut mit zentralen Pfeilern der Arbeitsmarktpolitik, wie sie auf Reformen im Kalkül der Integration angelegt sind, was ihre Effekte waren und sind, und wie sie der Autor qualifiziert und einschätzt. Das dürfte nicht nur unter Sozialarbeiter:innen und allgemein in der Sozialen Arbeit für kritische Diskussionen sorgen, deren Klientel sich nun mal wesentlich aus jenen „Nebengruppen“ rekrutiert, wie sie im Zuge von (u.a.) Industrie 4.0 mit Freisetzungen und selektiven Umschichtungsprozessen sowie Prekarisierung etc. entstehen und mehr werden, was der Autor nicht ausführlicher in seine Thematik eingewoben hat, die in der Tat eine andere war.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245